
I. Die paradoxe Untätigkeit
Es ist ein Befund, der irritiert und verstört: Trotz der Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ durch den Verfassungsschutz, trotz zahlreicher dokumentierter Verstöße gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wurde bislang kein Antrag auf verfassungsgerichtliche Prüfung nach Art. 21 Abs. 2 GG gestellt. Die zuständigen Organe – Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat – verharren in einer Haltung der politischen Zurückhaltung, die sich zunehmend als verfassungsrechtlich fragwürdig erweist.
Dabei geht es nicht um ein Parteiverbot im politischen Sinne, also ad hoc aus einer momentanen Machtposition heraus, sondern um die Einleitung eines rechtsstaatlich vorgesehenen Prüfverfahrens. Der Antrag zur Überprüfung der Verbotsvoraussetzungen an das Bundesverfassungsgericht ist kein Akt der politischen Willkür, sondern Ausdruck der wehrhaften Demokratie – ein Schutzmechanismus, den das Grundgesetz bewusst und aus historischen Gründen verankert hat. Wer diesen Mechanismus ignoriert, relativiert nicht nur die normative Kraft der Verfassung, sondern riskiert eine strukturelle Aushöhlung ihrer Schutzfunktion.
Die Argumente gegen einen Antrag – Angst vor einem „Märtyrer-Effekt“, Sorge um die Polarisierung, taktische Erwägungen – mögen politisch verständlich erscheinen. Doch sie offenbaren eine tiefgreifende Verwechslung: Nicht das Verbot ist das Problem, sondern das Schweigen. Die Untätigkeit angesichts verfassungswidriger Tendenzen ist kein Ausdruck von Klugheit, sondern ein Symptom demokratischer Selbstverleugnung. Oder, zugespitzt: ein Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
II. Der verfassungsrechtliche Rahmen: Schutzmechanismus, kein politisches Spiel
Das Grundgesetz kennt keine politische Opportunität, wenn es um den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geht. Mit Art. 21 Abs. 2 GG hat der Verfassungsgeber ein Instrument geschaffen, das nicht der parteipolitischen Strategie, sondern der strukturellen Selbstbehauptung der Demokratie dient. Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die FDGO zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, können verboten werden – und zwar durch das Bundesverfassungsgericht, auf Antrag eines der drei berechtigten Organe: Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung.
Entscheidend ist: Der Antrag richtet sich nicht unmittelbar auf ein Verbot. Er ist die Einleitung eines rechtsstaatlichen Prüfverfahrens. Die Schwelle für die Antragstellung ist bewusst niedrig gehalten – denn das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die tatsächliche Verfassungswidrigkeit, nicht die Antragsteller. Die Organe sind nicht Richter, sondern Wächter. Ihre Aufgabe ist es, bei hinreichenden Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen den Mechanismus in Gang zu setzen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die aktuelle Untätigkeit an Brisanz. Wenn eine Partei vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird, wenn ihre Funktionäre offen gegen Menschenwürde, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit agitieren, wenn ihre Programmatik systematisch auf die Aushöhlung demokratischer Prinzipien zielt – dann stellt sich nicht nur die Frage, ob ein Antrag möglich wäre, sondern ob er geboten ist.
Juristen wie Chan-jo Jun argumentieren, dass unter diesen Umständen eine Pflicht zur Antragstellung besteht. Denn die berechtigten Organe sind nicht nur befugt, sondern auch verantwortlich. Ihre Untätigkeit könnte – so die These – selbst verfassungswidrig sein, weil sie die Schutzfunktion des Grundgesetzes suspendiert. Wer den Prüfmechanismus nicht nutzt, obwohl die Voraussetzungen vorliegen, handelt nicht neutral, sondern lässt die Verfassung im Stich.
III. Verfassungswille vs. Verfassungswirklichkeit: Die politische Ausweichbewegung
Die Diskrepanz zwischen dem klaren verfassungsrechtlichen Rahmen und der politischen Realität könnte kaum größer sein. Während das Grundgesetz eine eindeutige Handlungsoption vorsieht – nämlich die Einleitung eines Prüfverfahrens bei hinreichenden Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen –, dominieren in der politischen Debatte taktische Erwägungen, psychologische Projektionen und strategische Ausweichmanöver.
Die gängigen Argumente gegen einen Überprüfungsantrag sind bekannt: Man fürchte eine „Märtyrer-Inszenierung“ der AfD, eine weitere Polarisierung der Gesellschaft, eine Stärkung durch das Verbot. Doch diese Argumente verkennen die verfassungsrechtliche Konstruktion des Mechanismus. Sie behandeln den Antrag wie eine politische Entscheidung – dabei ist er ein verfassungsrechtlich gebotener Schritt zur Selbstbehauptung der Demokratie.
Mehr noch: Die Zurückhaltung könnte selbst zur Belastung für die Verfassungstreue der handelnden Organe werden. Denn wer die Schutzmechanismen des Grundgesetzes aus politischem Kalkül ignoriert, relativiert dessen normative Verbindlichkeit. Die Verfassung wird zur Option, nicht zur Verpflichtung. Das ist nicht klug, sondern gefährlich.
Die eigentliche Zumutung liegt nicht im Antrag – sondern im Verzicht. Die Demokratie muss sich nicht vor der Reaktion ihrer Gegner fürchten, sondern vor der eigenen Lähmung. Wer aus Angst vor gesellschaftlicher Spannung die Anwendung des Grundgesetzes scheut, betreibt eine Form der Selbstverleugnung. Oder, mit bitterer Klarheit: einen Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
IV. Die antifaschistische Konstruktion des Grundgesetzes: Kein neutraler Rahmen
Das Grundgesetz ist kein leerer Rahmen, der beliebig mit politischen Inhalten gefüllt werden kann. Es ist eine normative Ordnung – und seine Konstruktion ist bewusst antifaschistisch. Diese Feststellung ist keine ideologische Zuschreibung, sondern eine historische und rechtsdogmatische Tatsache. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und der NS-Diktatur eine Lehre gezogen: Demokratie muss sich gegen ihre Feinde verteidigen können – und dürfen.
Die wehrhafte Demokratie ist keine Option, sondern ein konstitutives Prinzip. Es zeigt sich in der Möglichkeit des Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 GG), in der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 GG), in der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) und in der Bindung aller Staatsgewalt an Recht und Gesetz (Art. 20 GG). Diese Elemente sind nicht verhandelbar – sie bilden das Rückgrat einer Ordnung, die sich nicht selbst preisgeben will.
Dass in der öffentlichen Debatte – etwa bei dem grotesken Antrag der AfD, man möge die „Antifa“ verbieten – dieser antifaschistische Charakter des Grundgesetzes kaum benannt wurde, ist ein Symptom für die semantische Entleerung politischer Kommunikation. Die AfD versucht, Begriffe zu verdrehen, historische Verantwortung zu relativieren und die normative Klarheit des Grundgesetzes zu unterlaufen. Wer darauf mit rhetorischer Ausweichbewegung reagiert, statt mit verfassungsrechtlicher Klarheit, lässt die demokratische Substanz erodieren.
Gerade deshalb ist es so wichtig, den Begriff der „antifaschistischen Konstruktion“ zu verteidigen – nicht als parteipolitisches Label, sondern als Beschreibung einer Ordnung, die aus der Katastrophe gelernt hat. Das Grundgesetz ist nicht neutral gegenüber Faschismus, Rassismus und autoritären Umtrieben. Es ist strukturell darauf angelegt, sie zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen – mit rechtsstaatlichen Mitteln, aber ohne falsche Zurückhaltung.
V. Gesellschaftliche Realität und demokratische Zumutungen
Es ist eine Illusion zu glauben, ein Verbotsantrag könne rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung beseitigen. Die Tatsache, dass ein signifikanter Teil der Wählerschaft rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Positionen zugeneigt ist, bleibt bestehen – unabhängig davon, ob ein Antrag gestellt wird oder nicht. Diese Realität ist unbequem, aber sie darf nicht zur Ausrede für verfassungsrechtliche Untätigkeit werden.
Denn ein Verbotsantrag ist kein Mittel gegen Gesinnungen, sondern ein Akt der institutionellen Selbstbehauptung. Er richtet sich nicht gegen Meinungen, sondern gegen organisierte Strukturen, die systematisch und nachweislich gegen die Grundprinzipien der Verfassung agieren. Die Demokratie muss nicht alles dulden, was sich als demokratisch inszeniert – sie muss sich dort wehren, wo ihre Substanz angegriffen wird.
Die politische Zurückhaltung, gespeist aus Angst vor gesellschaftlicher Eskalation, verkennt die eigentliche Zumutung: Nicht die Reaktion der AfD-Anhängerschaft ist das Problem, sondern die Passivität der demokratischen Institutionen. Wer die Anwendung des Grundgesetzes scheut, weil er die Reaktion der Gegner fürchtet, stellt die Verfassung zur Disposition. Das ist keine Vorsicht, sondern eine Form der Preisgabe.
Ein Verbotsantrag wäre kein Allheilmittel – aber ein klares Signal. Er würde zeigen, dass die Demokratie bereit ist, ihre Prinzipien zu verteidigen, auch wenn es unbequem ist. Er würde die normative Kraft des Grundgesetzes sichtbar machen – und die Bereitschaft, es nicht nur zu zitieren, sondern anzuwenden.
VI. Schluss: Verfassungstreue ist kein Stimmungswert
Die Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie lebt von der aktiven Verteidigung ihrer Prinzipien – nicht von der bloßen Existenz ihrer Institutionen. Wer sich auf die Tatsache beruft, die AfD sei ja demokratisch gewählt und damit „legitimiert“, offenbart ein tiefes Missverständnis über den Sinn und Zweck des Grundgesetzes. Die Wahl ins Parlament ist kein Freibrief zur Demontage der Demokratie von innen. Auch Hitler wurde gewählt – und genau deshalb hat das Grundgesetz Lehren gezogen, die über bloße Mehrheitsverhältnisse hinausgehen.
Die Behauptung, eine Partei sei durch ihre parlamentarische Präsenz automatisch demokratisch legitimiert, ist nicht nur naiv, sondern gefährlich. Sie verkennt, dass die Verfassung nicht nur Verfahren schützt, sondern Inhalte: Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz. Wer diese Prinzipien systematisch untergräbt, kann sich nicht auf das Verfahren berufen, das er gleichzeitig verachtet.
Verfassungstreue ist kein Stimmungswert. Sie bemisst sich nicht an Umfragen, Wahlergebnissen oder taktischen Erwägungen – sondern an der Bereitschaft, die Ordnung zu schützen, die uns schützt. Ein Überprüfungsantrag gegen die AfD wäre kein politisches Manöver, sondern ein Ausdruck dieser Haltung. Er wäre ein Zeichen dafür, dass wir das Grundgesetz nicht nur zitieren, sondern ernst nehmen.
Die Demokratie darf nicht aus Angst vor ihren Gegnern verstummen. Sie muss sprechen – klar, rechtlich fundiert, und mit Haltung. Alles andere wäre ein Verrat an ihrem eigenen Anspruch.
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