Medienkultur im Alltag – fünf Miniaturen

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Die nachstehenden Miniaturen über den Alltag der Mediennutzung beleuchten nicht Technik oder Markt, sondern die Frage nach Rationalität und Maßstäben im Umgang mit dem Überfluss der Angebote. Ob Streaming als Hintergrund, die Leere im Überfluss, die Logik des Autoplay oder die Ambivalenz der Sender – jedes Stück zeigt, wie Medienkonsum zwischen Komfort und Zumutung schwankt.

Die Serie versteht sich als kritische Begleitung: kleine Beobachtungen, die den Blick schärfen und die Verantwortung sichtbar machen, die jeder Einzelne im Umgang mit Medien trägt. Rationalität im Alltag heißt, Grenzen zu setzen, Substanz zu suchen und sich nicht vom Sog der Fülle täuschen zu lassen.


Streaming ohne Sog

Streamingdienste sind darauf ausgelegt, Aufmerksamkeit zu binden. Sie wollen, dass wir Serien durchbingen, Filme endlos weiterschauen und uns in der Logik des „Immer weiter“ verlieren. Doch es gibt auch eine andere Art der Nutzung: pragmatisch, begrenzt, ohne Sog.

Für mich ist Streaming eher Hintergrundrauschen, meist, wenn ich ohnehin meine Zeiten zum Liegen einhalten muss – nicht als Hauptprogramm, sondern als Begleitung, meist im Hintergrund, selten im Vordergrund. Mehr als acht Euro im Monat ist mir das nicht wert, und sollte der Preis über zehn Euro steigen, wäre ich raus. Andere Streamingdienste brauche ich nicht. Ich muss meine Zeit nicht totschlagen.

Die Plattformlogik passt nicht auf mein Nutzerprofil. Wenn Waipu.tv nach vier Stunden abschaltet, weil ich keine Eingabe gemacht habe, dann zeigt das nur, dass Anbieter von einem Konsumtyp ausgehen, der ich nicht bin. Ich will keine Endlosschleife, sondern ein überschaubares Angebot. Streaming ist für mich kein Selbstzweck, sondern eine kleine Dienstleistung – und genau deshalb lasse ich mich nicht in den Sog ziehen.


Die Leere im Überfluss

Hundert Programme, unzählige Kanäle, scheinbar grenzenlose Auswahl – und doch immer wieder nichts, was auch nur als Hintergrundrauschen taugt. Das ist die paradoxe Erfahrung der digitalen Medienwelt: Überfluss ohne Resonanz.

Die Logik der Anbieter setzt auf Quantität. Vielfalt wird versprochen, doch die Inhalte sind oft austauschbar, belanglos, formatiert bis zur Unkenntlichkeit. Wer durch hundert Programme plus Mediatheken zappt und nichts findet, erlebt nicht Mangel, sondern die Leere im Überfluss.

Für mich ist das bezeichnend: Streaming oder lineares Fernsehen sollen begleiten, nicht vereinnahmen. Aber wenn selbst für das beiläufige Nebenher-Schauen nichts übrig bleibt, zeigt sich die eigentliche Knappheit – nicht an Kanälen, sondern an Substanz.

Die Leere im Überfluss ist ein Symptom einer Medienkultur, die Fülle simuliert, aber kaum Relevanz erzeugt. Rationalität im Alltag heißt, diese Leere zu erkennen – und sich nicht von der bloßen Zahl der Angebote täuschen zu lassen.


Autoplay und die Logik des Algorithmus

YouTube verspricht Komfort: Autoplay sorgt dafür, dass nach einem Video gleich das nächste startet. Doch wer glaubt, damit würden die eigenen Vorlieben kuratiert, täuscht sich. Der Algorithmus folgt nicht der persönlichen Präferenz, sondern der Logik des Sogs.

So kann es passieren, dass man mit einer ARTE-Dokumentation beginnt und irgendwann bei Casting-Clips landet. Das ist kein Zufall, sondern System: YouTube gewichtet nicht Substanz, sondern Reichweite. Es kuratiert nicht für den Einzelnen, sondern für die Masse.

Autoplay ist damit wie ein Gastgeber, der dich mit einem Glas Rotwein empfängt – und dir nach dem dritten Glas plötzlich Bier und Chips hinstellt, weil „die meisten Gäste das mögen“. Für den Einzelnen wirkt das absurd, für die Plattform ist es ökonomisch sinnvoll.

Autoplay ist kein Service, sondern ein Geschäftsmodell. Wer sich nicht täuschen lassen will, muss den Algorithmus durchschauen – und selbst entscheiden, wann Schluss ist.


Von der Glotze zum Netz: Die neue Analphabetismus-Frage

Vor mehr als zwanzig Jahren wurde der funktionale Analphabetismus (also das Lesen ohne Verstehen) oft mit dem Fernsehkonsum verknüpft. Wer sich von seichten Formaten berieseln ließ, so die Kritik, verlernte das Lesen im eigentlichen Sinn: nicht die Technik der Buchstaben, sondern die Fähigkeit, Inhalte zu verstehen, zu reflektieren und in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

Heute hat sich die Landschaft verschoben. Nicht mehr die Glotze allein prägt, sondern das Netz mit seiner irrwitzigen Fülle an Angeboten. Clips, Streams, Posts, Podcasts – alles jederzeit verfügbar, alles auf Aufmerksamkeit ausgerichtet. Die Gefahr ist nicht mehr nur Passivität, sondern Fragmentierung: Menschen konsumieren viel, aber ohne Tiefenstruktur. Sie lesen, sehen, hören – doch das Verstehen im Kontext bleibt oft aus.

Damit stellt sich die Analphabetismus-Frage neu. Es geht nicht mehr um fehlende Lesekompetenz, sondern um fehlende Urteilskompetenz. Wer im Überfluss der Angebote keine Maßstäbe setzt, verliert die Fähigkeit, Wichtiges von Belanglosem zu unterscheiden. Medienkonsum wird dann nicht zum Werkzeug der Aufklärung, sondern zum Dauerhintergrund, der Identität ersetzt und Urteilskraft untergräbt.

Die zentrale Frage lautet daher: Welcher Medienkonsum ist heute überhaupt noch sinnvoll und angemessen? Die Antwort wird für jeden anders ausfallen. Doch klar ist: Rationalität im Alltag heißt, Grenzen zu setzen, Substanz zu suchen und sich nicht von der bloßen Fülle täuschen zu lassen.


Ambivalenz der Angebote

Die heutige Medienlandschaft ist atemberaubend ambivalent. Zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Trash-Sendern liegen Welten – und doch sind beide Teil derselben Kultur. Noch erstaunlicher: selbst innerhalb eines Hauses kann die Spannweite enorm sein. ARTE etwa liefert großartige Dokumentationen, hat aber im Bereich Wissenschaft schon regelrechte Skandale produziert.

Diese Ambivalenz zeigt, dass kein Label vor Irrwegen schützt. Qualität und Fragwürdigkeit stehen oft Tür an Tür. Wer sich durch die Angebote bewegt, erlebt Aufklärung und Entwürdigung im selben Klick.

Die Trash-Sender treiben es auf die Spitze: sie senken die Moralschwelle bewusst, kalkulieren Empörung und Voyeurismus ein. Fremdgeh-Shows oder „Heiraten nach zwei Stunden“ sind keine Ausrutscher, sondern Geschäftsmodell. Sie existieren, weil Quote wichtiger ist als Würde.

Die Ambivalenz der Angebote ist damit mehr als ein mediales Kuriosum. Sie ist ein Symptom einer Kultur, die Aufklärung und Absenkung zugleich produziert – und die Verantwortung dafür den Zuschauern überlässt. Rationalität im Alltag heißt, diese Spannweite zu erkennen und bewusst zu wählen, was Resonanz verdient und was nicht.