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Grundsicherungs-Pressekonferenz: Ein Tritt in die Magengrube

Ich bin einiges gewohnt. Ich habe politische Enttäuschungen erlebt, habe den schleichenden Abschied der SPD von ihren Grundüberzeugungen mit angesehen und teils auch als Mitglied erlitten— und bin unter Gerd Schröder ausgetreten, als es nicht mehr ging. Aber was ich in der Pressekonferenz von Bärbel Bas zur Grundsicherungsreform gehört habe, war mehr als enttäuschend. Es war ein Tritt in die Magengrube.

Der neue Grundsicherungsbescheid.

Die Art, wie Bas die neuen Sanktionen präsentierte — mit technokratischer Kälte, mit fiskalischer Rhetorik, mit dem Gestus der Verwaltungslogik — war nicht nur befremdlich. Sie war eine Verleugnung dessen, wofür die SPD einmal stand. Die Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, wurden zu Zahlen gemacht, zu Einsparpotenzialen, zu Objekten einer Disziplinierungspolitik, die sich als „verfassungsrechtlich sicher“ ausgibt, obwohl sie das nicht ist.

Besonders verstörend war der Versuch, die Reformen mit der Wirtschaftslage zu rechtfertigen — als ob soziale Härte ein Konjunkturmittel sei. Allenfalls weil sie nach oben als Lohndrückerei wirkt. Es war haarsträubender Unsinn, eine Beleidigung für jeden denkenden Menschen. Maurice Höfgen nannte den Auftritt „bodenlos“. Ich stimme ihm uneingeschränkt zu.

Was hier geschieht, ist ein politischer Selbstverrat, der kaum zu beschreiben ist. Wenn die SPD ihre letzten Reste an sozialer Glaubwürdigkeit verspielt, indem sich selbst eine Persönlichkeit wie Bärbel Bas zur Wortführerin dieser sozialen Grausamkeiten macht, dann ist das nicht nur ein parteipolitisches Problem. Es ist ein Angriff auf das Selbstverständnis der Demokratie, wie sie das Grundgesetz vorzeichnet. Der Sozialstaat ist keine Option. Nicht einmal ein Versprechen. Er ist eine Zusage.

Ich würde ja austreten aus dem Laden – wenn ich nicht schon längst gegangen wäre.

Die Rückkehr der strukturellen Gewalt

Warum die neue Grundsicherungsreform alte Wunden aufreißt

Wer nie mit dem Jobcenter zu tun hatte, kann sich kaum vorstellen, was dort geschieht — und was es mit Menschen macht. Die Berichte junger Frauen, insbesondere Alleinerziehender, die jetzt auf Threads wieder auftauchen, sind erschütternd und vertraut zugleich: Sie erzählen, wie sie unter dem Hartz-IV-Regime daran gehindert wurden, eine Ausbildung zu beenden, weil die Arbeitsagentur sie mit aller Gewalt in einen gering qualifizierten Hilfsjob drängen wollte — und dies auch tat.

Genau diese Zeiten kehren jetzt zurück. Die neuen Sanktionen, die bei dreifacher Terminversäumnis zur vollständigen Streichung aller Leistungen führen können, sind nicht nur juristisch fragwürdig. Sie sind ein Rückfall in die Logik der strukturellen Gewalt, die Menschen nicht fördert, sondern diszipliniert. Wer sich nicht fügt, wird entwürdigt — nicht durch Worte, sondern durch existenzielle Verknappung.

Maurice Höfgen hat es treffend formuliert:

Wenn ich unsere Verfassung und unsere Grundrechte richtig verstanden habe, dann muss man sich das Recht auf ein menschenwürdiges Leben nicht erarbeiten – weil man es einfach hat.

Diese Wahrheit scheint in der aktuellen Reformdebatte verloren gegangen zu sein. Stattdessen wird wieder suggeriert, dass Würde verdient werden muss — durch Mitwirkung, durch Gehorsam, durch ökonomische Verwertbarkeit. Das ist nicht nur falsch. Es ist gefährlich.

Denn wer Menschen zwingt, ihre Lebensrealität zu verleugnen, wer Bildung verhindert, um kurzfristige Quoten zu erfüllen, wer Sanktionen als Steuerungsinstrument feiert, der betreibt eine Politik der Entmündigung. Und das unter dem Deckmantel der „Reform“. Nahezu alle Fachleute sind sich einig, dass ein System der Drangsalierung weder Menschen in Arbeit bringt noch – logisch – zu Einsparungen führt.

Ich habe das alles schon einmal gesehen. Ich weiß, was es bedeutet. Und ich weiß, dass es nicht mit Zahlen beginnt, sondern mit einer Haltung, die Menschen als Problem betrachtet.

Und, um eine sehr treffende Bemerkung von Maurice Höfgen zum Schluss noch aufzugreifen:

Wer ein Misstrauenssystem installiert, schafft ein Bürokratiemonster.

Darauf komme ich sicher noch einmal zurück.


Zum Thema mein Artikel „Arbeit und Menschenbild“ bei den Materialien und Informationen zur Zeit (bislang erschienen: Teil 1):
https://miz-online.de/arbeit-und-menschenbild

Maurice Höfgen zur Selbstvergessenheit der Politik und insbesondere der SPD, mit mehr Details der Reform:
https://youtu.be/0YqmkdfWCaA


Illustrationen: Microsoft Copilot

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Was ist Selbstdelegitimierung? Ein Beispiel

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Fürsorge als Vorwand – Warum das australische Social-Media-Gesetz rechtsstaatlich bedenklich ist

  1. Andreas Lichte

    Zum Weltkindertag am 20.9. hatte die SPD einen Stand aufgebaut, ich habe mit einem der „Genossen“ (ist das ab jetzt ein Schimpfwort? ) diskutiert.

    Nachtäglich habe ich festgestellt, dass ich original die Position des Juso-Vorsitzenden vertreten habe, hier nachzulesen / anzuschauen:

    „Interview

    „Karlsruhe reibt sich schon die Hände“

    Juso-Chef Türmer: Grundsicherung so nicht verfassungsgemäß“

    „https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/tuermer-jusos-grundsicherung-koalition-100.html

    ZDF: „Es sei unter anderem vorgesehen, dass Leistungen komplett entzogen werden können – [e]inschließlich etwa beim vierten Terminversäumnis der Leistungen für die Miete. Damit könne man zum Beispiel psychisch Kranke in die Obdachlosigkeit treiben, argumentiert Türmer.“

    Ich sagte zum SPDler (vor der Entscheidung zur neuen „Grundsicherung“): „Was wollen Sie mit einer Verschärfung erreichen? Dass es noch mehr Obdachlose gibt? Ich habe gerade gelesen, dass es in Deutschland mehr als 145.000 obdachlose Minderjährige gibt!“

    Antwort des SPDlers: „Die sind nicht obdachlos, sondern wohnungslos.“

    Hätten wir das also geklärt, alles halb so wild. Tief durchatmen.

    Ganz allgemein stellte der SPDler fest, dass die SPD NICHT die Partei der „Sozial Benachteiligten“ sei, das sei „Die Linke“.

    Mein Schlusswort zum SPDler: „Wenn Sie es als Soft-CDU versuchen, ist das der Untergang der SPD.“

    Von Bärbel Bas bin ich nicht enttäuscht, die fand ich schon immer „…“ [zensiert].

    Ich bin nicht Mitglied der SPD (sage ich, weil ich oben „Genosse“ schrieb, und hier den Standpunkt Türmers teile)

    • Von Herrn Thürmer gibt es inzwischen einige Clips in den üblichen Social-Media-Formaten, wo er glasklar Stellung nimmt. Kann man noch auf die jungen Leute setzen? Olaf Scholz war such mal Juso-Vorsitzender, ich erinnere mich noch ganz gut an seine damals noch vorhandene Haarpracht …

      Die Frage nach dem Selbstverständnis der SPD allgemein scheint praktisch nicht mehr beantwortbar. Wie sollte es auch anders sein, so kurz vor der Selbstabschaffung …

      Was Frau Bas angeht, so hat sie hier nebenan in ihrem Duisburger Wahlkreis seit jeher ihre Herkunft aus der werktätigen Bevölkerung durchaus authentisch in die Waagschale geworfen. Seit kurzem sind auch viele SPDler entsetzt, was sie von ihr in der Pressekonferenz zu hören und zu sehen bekamen. Wie man hört, gabs auch schon Parteibuchrückgaben …

      Nun, das habe ich schon einige Jahre hinter mir. Nach fast 25 Jahren Mitgliedschaft, ich konnte gerade noch verhindern, ungewollt geehrt zu werden. Und das in einer sozialdemokratischen Traditionsfamilie, mein Uropa war SPD-Kreistagsabgeordneter in Tilsit. Ich pflege ja immer zu sagen, Gerd Schröder und Franz Müntefering haben unsere Familientradition kaputtgemacht.

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