Ein Kommentar zur Essener Gebührenentscheidung

Man kann über vieles im Gesundheitssystem diskutieren. Über den Umfang des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. Über Effizienz, Fehlanreize, Prioritäten.
Aber nicht über den Rettungsdienst.
Denn wer beginnt, die Notfallversorgung mit individuellen Kostenrisiken zu verknüpfen, verlässt einen zentralen Konsens unserer Gesellschaft: dass lebensrettende Hilfe im Zweifel immer erreichbar ist – ohne Rechnen, ohne Zögern, ohne Angst vor der Rechnung.
Genau dieser Konsens wird mit der neuen Essener Gebührenregelung faktisch infrage gestellt. Formal korrekt – praktisch gefährlich.
Zum Hintergrund: Die Kommunen und Kreise sind die Träger des Rettungsdienstes und verpflichtet, die Infrastruktur vorzuhalten. Auch in der Vergangenheit gab es schon viele Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommunen und Krankenkassen, was die Übernehme der Kosten hierfür angeht. Die Krankenkassen haben sich nun auf den Standpunkt gestellt, dass sie nur noch für die konkreten, im Einzelfall erforderlichen Kosten aufkommen. Damit bleiben z.B. die Kosten für Leerfahrten, aus welchen Gründen auch immer, und auch einige andere Dinge unberücksichtigt – und verbleiben bei der Kommune als Betreiber.
Diese wiederum ist gesetzlich verpflichtet (je nach Bundesland etwas anders, aber im Grunde gleichlautend) diese Kosten durch die Erhebung von Gebühren zu decken. Das Kommunalabgabenrecht verbietet es ihr, diese nicht allgemein anfallenden, sondern konkret zuzuordnenden Kosten aus ihren allgemeinen Haushaltsmitteln zu tragen.
Ja, die Stadt Essen kann sich damit auf rechtliche Rahmenbedingungen berufen.
Ja, es gibt seit Jahren harte Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen über Vorhaltekosten, Fehlfahrten und Unterdeckungen.
Und ja, Kommunen stehen finanziell unter Druck.
All das ist bekannt – und dennoch greift diese Entscheidung zu kurz. Mehr noch: sie ist ein Systemfehler.
Denn Gesundheitspolitik erschöpft sich nicht in formaler Rechtmäßigkeit. Sie muss sich an realem Verhalten messen lassen. Und das reale Verhalten von Menschen im Notfall folgt keiner Verwaltungslogik.
Die unterschätzte Realität: Menschen zögern schon heute
Wer glaubt, dass eine Eigenbeteiligung von rund 250 Euro niemanden davon abhält, den Rettungswagen zu rufen, kennt die Praxis nicht.
Gerade ältere Menschen zögern ohnehin: aus Angst, jemandem zur Last zu fallen, aus Sparsamkeit, aus Unsicherheit, ob es „schlimm genug“ ist.
Diese Hemmschwelle ist real – und sie kostet Leben.
Sie taucht in keiner Statistik auf, weil unterlassene Notrufe nicht erfasst werden. Aber sie ist jedem bekannt, der mit Notfallmedizin, Pflege oder Rettungsdiensten zu tun hatte. Und es besteht Grund zur Annahme, dass dieses Dunkefeld weit größer ist als das Hellfeld von Fehlalarmen und Leerfahrten aus anderen Gründen.
Wer nun zusätzlich ein finanzielles Risiko ins Spiel bringt, verstärkt genau dieses Zögern. Nicht schleichend, sondern sofort. Denn in den Köpfen bleibt ein einziger Satz hängen:
„Der Rettungswagen kostet jetzt Geld.“
Das reicht.
Ruhrgebiet heißt nicht Besserverdienergebiet
Man muss sich auch ehrlich fragen, wo diese Regelung greift.
Im Ruhrgebiet – mit niedrigeren Durchschnittseinkommen, höherer Krankheitslast und vielen alleinlebenden älteren Menschen.
Eine solche Eigenbeteiligung wirkt sozial selektiv. Sie trifft nicht alle gleich. Und sie trifft ausgerechnet jene, die ohnehin stärker auf schnelle Hilfe angewiesen sind.
Das ist gesundheitspolitisch nicht nur unklug, sondern gefährlich. Aber ganz abgesehen davon – die formalrechtliche Logik beschränkt sich nicht auf das Ruhrgebiet. Kommunalabgabenrecht in allen Bundesländern wird die Kommunen und Landkreise zwingen, über kurz oder lang dem Essener Beispiel zu folgen.
Vorhaltekosten sind kein Missbrauch, sondern Voraussetzung
Die Argumentation, man könne Vorhaltekosten oder Einsätze ohne Transport nicht vollständig finanzieren, klingt buchhalterisch sauber – ist aber systemisch falsch.
Ein Rettungsdienst ohne Vorhaltung existiert nicht. Und ein Rettungsdienst ohne Fehlalarme wäre ein System, das erst reagiert, wenn es zu spät ist.
Wer nur das bezahlt, was sich im Nachhinein als eindeutig notwendig herausstellt, verlagert Unsicherheit und Risiko auf den Einzelnen. Genau das darf in der Notfallversorgung nicht passieren.
Sparen an der falschen Stelle
Wenn im Gesundheitssystem über Einsparungen gesprochen wird, sollte man Prioritäten setzen.
Über freiwillige, nicht zeitkritische und medizinisch umstrittene Leistungen kann man diskutieren. Dass gleichzeitig Millionenbeträge etwa für homöopathische Behandlungen im Raum stehen, während man beim Rettungsdienst den Bürger zur Kasse bittet, ist schwer vermittelbar.
Der Rettungsdienst ist keine optionale Leistung. Er ist das letzte Sicherheitsnetz des Gesundheitssystems. Wer hier spart, spart an der falschen Stelle.
Kommunikation ist Verantwortung
Besonders irritierend ist die Art und Weise, wie diese Entscheidung kommuniziert wurde – oder eben nicht. Eine Regelung mit solch gravierenden Folgen hätte weit im Vorfeld offensiv erklärt, sozialpolitisch eingeordnet, und klar begrenzt werden müssen.
Stattdessen entsteht der Eindruck eines Verwaltungsakts, der die gesundheitspolitischen Folgen billigend in Kauf nimmt. Das beschädigt Vertrauen – und Vertrauen ist im Rettungswesen keine Nebensache, sondern eine Voraussetzung für funktionierende Hilfe.
Der Rettungswagen darf kein Kostenrisiko sein
Alles, was Menschen auch nur potenziell davon abhält, im Notfall Hilfe zu rufen, ist gesundheitspolitisch falsch – selbst wenn es juristisch begründbar ist. Diese Entscheidung gehört nicht „nachjustiert“, sondern grundsätzlich überdacht. Und zwar jetzt – bevor aus einer abstrakten Regelung konkrete Schicksale werden.
Die Problematik der Rettungsdienstkosten ist nicht auf den Einzelfall beziehbar wie ein Rezept über ein bestimmtes Medikament für einen bestimmten Patienten. Der Rettungsdienst ist ein systemischer, kein topischer Teil des Gesundheitssystems. Dies wird verkannt, und so verkeilen sich die Vorstellungen der Krankenkassen und die kommunalabgabenrechtlichen Pflichten der Kommunen und Kreise miteinander zu Lasten der konkret Betroffenen. Der Rettungsdienst ist Daseinsvorsorge pur und als solcher staatlicherseits zu garantieren.
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