Die seltsame Mail von „Bohrium AI“ – und was dahintersteckt

Vor einigen Jahren konnte man die Mails der sogenannten „predatory journals“ noch leicht erkennen: holpriges Englisch, unbeholfene Schmeicheleien, und die vertraute Einladung, doch bitte „your valuable article“ in einem zweifelhaften „International Journal of Everything“ einzureichen.
Man nennt es Fortschritt, oder besser:
Wir haben jetzt KI – also bekommt der akademische Spam ein Upgrade.

Vor wenigen Tagen fand ich in meinem Posteingang eine Nachricht, die mich tatsächlich kurz stutzen ließ. Nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der ungewöhnlich präzisen Anmutung:

„Examining Contemporary Media Framing Homeopathy Public Understanding“

Ein Titel, der in seiner synthetischen Präzision fast wirkt, als hätte man meine Publikationen und meine Website in eine generative Maschine geworfen und daraus einen „wissenschaftlichen“ Betreff destilliert.

Genau das ist offenbar passiert.

1. Ein Betreff, der zu gut passt, um echt zu sein

Im Forschungsfeld „Homöopathie und Medien“ gibt es nicht viele Publikationen. Deshalb fällt sofort auf, wenn plötzlich ein vermeintlicher Artikel auftaucht, der exakt die gleichen Schlagwörter kombiniert wie meine eigenen Arbeiten.

Die dahinter verlinkte „Publikation“ erwies sich allerdings als das, was man freundlich „leeren AI-Text“ nennen könnte: strukturlos, ohne Argumentationskern, ohne Bezug zur Homöopathie, ohne jede wissenschaftliche Substanz. Kurz:
Ein Lockvogel.

2. Der technische Unterbau: professionell, aber inhaltlich wertlos

Ein Blick in den Mail-Header enthüllte das eigentlich Interessante. Der Versand erfolgte:

  • sauber signiert (SPF und DKIM pass)
  • über Alibaba Cloud USA (static26-58.uszonea.dm.aliyun.com)
  • mit eindeutig personalisiertem Tracking-Code (X-AliDM-RcptTo)
  • von der Domain mail.bohrium.com, die offenbar gezielt für akademisches Framing genutzt wird

Das ist kein Hobby-Spammer, der im Keller sitzt.
Das ist ein automatisiertes, wahrscheinlich professionelles KI-basiertes Outreach-System.

KI erzeugt den Betreff.
KI generiert den „wissenschaftlichen Artikel“.
KI sortiert Zielgruppen nach Themenrelevanz.
Und ein Massenmailing-Backend sorgt dafür, dass alles „legitim“ wirkt.
Keine typischen technischen Spam-Merkmale, kann also durchaus auch Spamfilter des Mailproviders passieren.

3. Warum solche Systeme mich – und viele andere – gezielt ansprechen

Diese KI-Systeme scrapen öffentlich zugängliche Daten:

  • Blogtexte
  • wissenschaftliche Artikel
  • Keywords
  • Social-Media-Posts
  • Profilinformationen (ORCID, ResearchGate, Twitter/X)

Wer sich (wie ich) regelmäßig zu Themen wie Homöopathie, Medienkritik oder Wissenschaftskommunikation äußert, ist algorithmisch leicht zu erkennen.

Das System braucht nur drei Datenpunkte:

  1. in welchen Themen publiziere ich,
  2. welche Schlagwörter tauchen häufig auf,
  3. welche „Topic Embeddings“ lassen sich daraus konstruieren.

Das Ergebnis ist eine Betreffzeile, die wirkt wie ein Literaturhinweis in der eigenen Nische. Genau das ist der Trick.
Viele Wissenschaftler klicken – aus Neugier, nicht aus Naivität.

4. Die neue Masche: akademischer AI-Scam

Das Ziel solcher Systeme ist keineswegs inhaltliche Relevanz.
Es geht um:

  • Leads für Fake-Konferenzen
  • Paid-Publishing-Modelle
  • pseudoakademische „Visibility“-Dienste
  • Klicks auf AI-generierte „Artikel“
  • Validierung von Mailadressen
  • Aufbau großer Verteilerlisten in Nischenthemen

Die Masche ähnelt predatory journals – nur moderner:

Alt:

schlechte Mails, schlechtes Englisch, plumpes Anwerben.

Neu:

  • KI-optimierter Betreff
  • professionelle Zustellung
  • algorithmische Personalisierung
  • generische, aber „akademisch“ klingende Inhalte

Es ist die nächste Evolutionsstufe eines alten Problems.

5. Woran man diese Mails erkennt

Auch wenn sie professioneller wirken, haben sie klare Signaturen:

  • Titel wie aus einem Textgenerator („Media Framing Homeopathy Public Understanding“)
  • Artikel, die beim ersten Absatz schon entgleisen
  • übertriebene Keyword-Ballungen
  • Absender aus „wissenschaftlich“ klingenden Domains
  • Server über Aliyun oder ähnliche Massenmailer
  • HTML-Mails mit Base64-Codierung (→ Tracking)
  • Reply-To-Adressen wie admin@bohrium.com
  • völlige Abwesenheit echter wissenschaftlicher Bezüge

Die Mail versucht nicht, mich zu täuschen –
sie versucht, mich zu kategorisieren.

6. Warum das relevant ist – und besorgniserregend

Diese neue Form akademischen Spams ist:

  • personalisierter
  • technisch korrekter signiert (dadurch schwerer zu filtern)
  • KI-generiert
  • thematisch angepasst
  • optisch harmlos, aber funktional aggressiv

Sie ist ein Symptom einer digital zunehmend vermüllten akademischen Öffentlichkeit: Wo früher predatory journals klingelten, schickt heute eine KI massenhaft synthetische „wissenschaftliche Einladungen“ heraus.

Der Schaden liegt weniger im Einzelfall, sondern in der Erosion des Vertrauens, insbesondere bei:

  • Nachwuchswissenschaftlern
  • Forschern in Nischenthemen
  • Selbstpublizierenden
  • allgemein Neugierigen

Die Grenze zwischen „wissenschaftlicher Kommunikation“ und „automatisiertem Schrott“ wird unschärfer.

7. Was man tun kann

  • nicht antworten
  • nicht klicken
  • eigene Filter setzen (z. B. Aliyun-Mails, bohrium.com)
  • Kolleginnen und Kollegen informieren
  • solche Mails dokumentieren – sie zeigen eine neue Trendentwicklung

Und vielleicht: ein bisschen staunen, wie schnell sich auch ein kleiner Themenbereich („Homöopathie in den Medien“) in die Trainingsdaten von KI-Systemen verirren kann.

Fazit

Die Mail von „Bohrium AI“ war ein harmloser Vorbote einer Entwicklung, die uns in den nächsten Jahren häufiger begegnen wird:

AI-basierte, personalisierte Akademik-Spam-Netze,
die uns passgenau generierte Artikel, Konferenzen und „Research Opportunities“ vorsetzen – rein algorithmisch konstruiert, ohne Substanz, ohne Bezug zur Wissenschaft.

Es ist ein neues Kapitel in der langen Geschichte wissenschaftlicher Abzocke. Und ein weiteres Beispiel dafür, dass kritisches Denken –
nicht nur bei der Homöopathie – eine eminent wichtige Ressource bleibt.