Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

Brandmauer als Beruhigungspille?

Zur diskursiven Entgrenzung im SPIEGEL


Der SPIEGEL-Leitartikel von Ralf Neukirch zur „Brandmauer“ der CDU gegenüber der AfD liest sich wie ein Verteidigungsschreiben aus dem Konrad-Adenauer-Haus. Die rhetorische Struktur ist klar: Apologie für Friedrich Merz und die Union, flankiert von pauschalen Vorwürfen an Grüne, Linke und SPD, die „vorgeblich Sorge vor Löchern in der Brandmauer“ äußern, aber selbst nichts zur Bekämpfung des Rechtsextremismus beitragen.

Neukirch schreibt:

„Die Brandmauer zwischen Union und AfD steht. Das hat CDU-Chef Friedrich Merz bekräftigt, und daran gab es keinen Grund zu zweifeln.“

Doch Zweifel sind angebracht. Die Abstimmung mit AfD-Stimmen zur Migrationspolitik, die ethnisch codierten Aussagen zum „Stadtbild“, und die anschlussfähige Rhetorik gegenüber rechten Narrativen sprechen eine andere Sprache. Dass Merz seine Äußerung mit dem Satz verteidigt:

„Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte“


zeigt nicht nur eine instrumentalisierende Emotionalisierung, sondern auch eine diskursive Verschiebung: Sicherheit wird ethnisiert, Sorge wird pauschalisiert, Kritik wird delegitimiert.

Die Reaktionen in den sozialen Medien und der Presse entziehen diesen „realen Ängsten“, die Merz hier ganz offensichtlich in den Vordergrund rücken will, den Boden. Die Soziologin Christine Barwick-Gross nennt Merz’ Aussage „eindeutig rassistisch“. Die taz, ZDF, DW und FOCUS dokumentieren massive Kritik – auch aus der CDU selbst. Die Berliner Demonstration unter dem Motto „Wir sind die Töchter“ zeigt, dass viele Frauen sich nicht als Schutzobjekte, sondern als diskursive Subjekte verstehen.

Neukirch hingegen schreibt:

„Statt nach Verfehlungen der Union zu suchen, täten die Parteien links der Mitte gut daran, sich die Frage zu stellen, was sie selbst dazu beitragen könnten, die AfD zu bekämpfen.“

Das ist keine Analyse, sondern eine Umkehr der Verantwortung. Es fehlt jede Differenzierung, jede Prüfung der Ursachen, jede Reflexion über die diskursive Normalisierung rechter Positionen durch die Union. Die Kritik an Merz wird als parteipolitisches Manöver abgetan, nicht als Ausdruck demokratischer Sorge.

Der Ton erinnert in der Tendenz an den hpd-Artikel „Don’t feed the Lion“: Auch dort wird Kritik als Eskalation dargestellt, Abgrenzung als Überhöhung, und die eigentliche Gefahr – die Normalisierung des Rechtsextremismus – bleibt unerörtert. Den Kategorienfehler in diesem Beitrag habe ich in einem Kommentar beim hpd erläutert.

Wenn der SPIEGEL diesen Ton zur neuen Linie macht, ist das nicht nur ein publizistischer Wandel, sondern ein Symptom für die Erosion kritischer Öffentlichkeit. Die Brandmauer wird zur Beruhigungspille – und die demokratische Selbstvergewisserung bleibt auf der Strecke.


Quellen:
taz – Soziologin über Merz‘ Stadtbild-Äußerung
t-online – Kritik aus CDU-Reihen
DW – „Fragen Sie Ihre Töchter“
ZDF – „Stadtbild“-Debatte

Zurück

Der Sozialstaat und seine Ermüdung

Nächster Beitrag

Reform oder Ritual? Warum der SPIEGEL der Bahnreform schon nicht mehr glaubt

  1. Andreas Lichte

    Daß Merz’ „Stadtbild“ ein „reales Problem“ ist – sprich: „Geld kostet!“ – dokumentiert die Tagesschau, Zitat:

    „Auch aus Politik und Wirtschaft gibt es weitere Reaktionen. Darunter auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): »Seine jüngsten Äußerungen verschärfen die gesellschaftliche Polarisierung und richten einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden an« sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher dem Handelsblatt. »Die Botschaft des Bundeskanzlers schwächt die Willkommenskultur Deutschlands und wird den Fachkräftemangel in Deutschland in den kommenden Jahren verschärfen.«“

    https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/merz-stadtbild-debatte-petition-102.html

    Ist das DIW auch links-grün-versifft? Ach, das hat Alexander Wolber beim hpd gar nicht geschrieben? Tut mir echt leid, dass ich das durcheinandergebracht habe!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén