Vor einigen Tagen habe ich hier im Blog über die strukturellen Ursachen des Bahnproblems geschrieben („Warum die Bahn endlich zurück auf die Schiene muss“) und wenig später die ersten Schritte des neuen Verkehrsministers Patrick Schnieder kommentiert („Oh weh, Herr Minister“). Meine Besorgnis damals mit Blick auf das angekündigte neue Bahnkonzept: schon im Vorfeld zu viele Wünsche, zu wenig Wege, und ein offenkundiges Defizit in der strategischen Klarheit.

Nun liegt Schnieders „Agenda für zufriedene Kunden auf der Schiene“ vor – 32 Seiten stark, politisch begleitet von großen Worten, aber inhaltlich doch erstaunlich defensiv.

Dämpfen statt Aufbruch

Das auffälligste Signal steckt gleich am Anfang: Die Pünktlichkeitsziele im Fernverkehr werden nach unten korrigiert. 70 % bis 2029 – später vielleicht 80 oder 90 %, irgendwann. Für Schnieder mag es mutig wirken, die Erwartungen gleich zu Beginn herunterzuschrauben, mag sein. Für die bereits maximal frustrierten Fahrgäste aber klingt es wie eine Bankrotterklärung: Wir schaffen nicht einmal, was früher selbstverständlich war. Das honoriert niemand.

Viel Programm, wenig Priorität

Daneben listet das Papier alles Mögliche auf: Sauberkeit, Komfort, Kommunikation, Bahnhöfe, Sanierung von Korridoren, Abschaffung von Doppelstrukturen, Neuzuschnitt von Verantwortlichkeiten. Das wirkt weniger wie eine Strategie als wie ein Wunschzettel. Geschickter wäre gewesen, kurzfristige Maßnahmen klar von langfristigen Projekten zu trennen: heute die Sauberkeit, morgen das Netz. Stattdessen herrscht ein Durcheinander aus Zielen ohne klare Wege. Bei dem anstehenden Wust teils gewaltiger Probleme scheint mir das nicht gerade strategisch optimal zu sein.

Strukturelle Unschärfe

Am gravierendsten bleibt für mich: das strukturelle Problem, das eigentliche Kernleiden der Bahn, wird nur in Andeutungen gestreift. „Abbau von Doppelstrukturen“ klingt gut – ist aber ohne klares Konzept im Schnittbereich von Bahn, Bundesregierung und Regulierungsbehörden bloß ein Platzhalter. Wenn nicht offengelegt wird, wie Verantwortung, Steuerung und Aufsicht künftig ineinandergreifen sollen, bleiben alle schönen Absichtserklärungen am Ende folgenlos.

Politische Kardinalfehler

Besorgniserregend sind auch die politischen Fehler, die schon jetzt sichtbar werden:

  • Schnieder hat das Papier weitgehend im Alleingang vorgelegt – ohne ausreichende Abstimmung in der Koalition.
  • Gleichzeitig wurden Personalentscheidungen an der Spitze der Bahn unabgestimmt durchgezogen.

Beides schwächt die politische Rückendeckung. Wer sich bei einem so komplexen Thema früh isoliert, dem laufen die Credits schneller davon, als die Bahn sich verspäten kann.

Machbar – aber überhaupt gewollt?

Das Bittere an der aktuellen Debatte ist: Das, was gebraucht würde, ist kein Hexenwerk. Ein ernsthaftes Bahnkonzept müsste den Handlungsbedarf auf mehreren Ebenen gleichzeitig abbilden:

  • Prioritäten: Was lässt sich kurzfristig verbessern (Sauberkeit, Kommunikation, einfache Servicefragen), und was gehört zwingend in eine langfristige Reform (Schienennetz, Personal, Fahrzeugflotte)?
  • Finanzielle Realität: Welche Mittel sind gesichert, welche erfordern politische Entscheidungen? Ohne diese Ebene bleiben alle Versprechen bloße Absichtserklärungen.
  • Zeitschiene: Welche Verbesserungen müssen binnen sechs Monaten sichtbar sein, welche in fünf Jahren, und welche brauchen Jahrzehnte?
  • Projektmanagement: Wer ist für welches Ziel verantwortlich, wie werden Fortschritte kontrolliert, und was geschieht bei Verzug?

Das klingt schlicht, ist aber der Kern jedes erfolgreichen Großprojekts. Es gibt in Deutschland genug Fachleute, die genau dieses Handwerkszeug beherrschen – von Projektmanagern bis zu Revisoren. Auch ich selbst habe in meiner beruflichen Laufbahn erlebt, wie angeschlagene Projekte durch klare Priorisierung und transparente Steuerung wieder auf Kurs gebracht wurden.

Das Erschreckende ist also nicht, dass es so schwer wäre, ein konsistentes Konzept für die Bahn zu entwickeln. Das Erschreckende ist, dass es offenbar nicht einmal mit ausreichender Expertise versucht wird. Stattdessen gibt es vage Formeln und kleinteilige Maßnahmenlisten – ohne die Logik, die aus Problemen Handlungspläne und aus Handlungsplänen überprüfbare Ziele macht.

Fazit

Meine Einschätzung: kein großer Wurf. Vielleicht nicht einmal ein kleiner. Statt Aufbruchsignal: Erwartungsdämpfung. Statt Prioritätensetzung: Wunschliste. Statt Strukturreform: vage Formeln. Wenn Sauberkeit die greifbarste Maßnahme bleibt und die Grundfrage Bahn–Eigentümer–Aufsicht hinter Floskeln verschwindet, zeigt das: Schnieders Konzept steckt noch in der Problembeschreibung fest, anstatt echte Lösungen zu entwickeln.

Es geht nicht darum, ein perfektes Reformpaket in Rekordzeit vorzulegen. Aber es ginge darum, klar zu zeigen, dass man die Probleme verstanden hat und sie in der richtigen Reihenfolge anpackt. Bei Schnieder bleibt der Eindruck, dass er mit der Bahnproblematik erst seit seinem Amtsantritt ernsthaft befasst ist. Und das ist für einen Fachminister, bei dem von Anfang an klar war, was auf ihn zukommt, entschieden zu wenig.


Ich habe geschaut, welche Reaktionen und Einschätzungen bislang im öffentlichen Diskurs und in Kommentaren auftauchen — hier meine Zusammenfassung der Stimmungslage im Blätterwald und Expertenbereich, plus kleinere Hinweise, worauf sich die Kritik konzentriert:


Anhang: Öffentliche & mediale Reaktionen (Stand 02.10.2025)

Kritik & Skepsis

  • Die Süddeutsche Zeitung urteilt in einem Kommentar recht deutlich: Schnieders Bahnstrategie wirke unambitioniert und lückenhaft, und er begehe einen „Anfängerfehler“, indem er nicht klar strukturiert priorisiere. (Süddeutsche.de)
  • Die taz spricht von einer „Desaster-Bahn“, betont die dauerhaft maroden Zustände und fragt, ob Schnieder überhaupt in der Lage sei, die Bahnlage zu ändern — also ein sehr pessimistischer Ton. (taz.de)
  • Bündnis 90/Die Grünen kritisieren in einer Stellungnahme kritisiert, dass Schnieder keine echte Strategie vorlege. Sie sehen das Konzept als Symbolpolitik, solange strukturelle Reformen und ausreichende Investitionen fehlen. (Bündnis90/Die Grünen)
  • Verschiedene Medien berichten, dass innerhalb der Koalition bereits Verstimmungen bestehen: insbesondere wegen fehlender Abstimmungen bei Personalentscheidungen und der Frage, ob der Plan vorher ausreichend intern abgestimmt wurde. (web.de)
  • Eine FAZ-Analyse hebt die „riesige Kluft zwischen Bahn und Politik“ hervor – dass Erwartungen an Streckensanierungen anders sein könnten als die politisch realisierbaren Maßnahmen, und dass Bahn und Politik sich oft gegenseitig blockieren. (faz.net)
  • In Deutschlandfunk wird Schnieder zitiert, er halte die derzeitige Unpünktlichkeit im Fernverkehr (teilweise bei ca. 60 %) für „inakzeptabel“ und strebe ambitionierte Verbesserungen an. (Deutschlandfunk)

Einschätzungen aus dem Expertenbereich / Fachkreisen (indirekt aus Debatten)

  • Viel Kritik richtet sich auf Zielverschiebungen nach unten – also dass Schnieder in gewisser Weise Erwartungen dämpft, um spätere Nichterfüllung weniger sichtbar zu machen.
  • Der Vorwurf, dass er bergab gegenüber vorherigen Zielsetzungen steuere, taucht häufig auf: dass frühere Pünktlichkeitsziele höher waren und dass dieser Rückschritt signalpolitisch schwach sein könnte.
  • Der strukturelle Kern wird von Fachleuten oft als entscheidender Engpass diskutiert: Finanzierung, Eigentumssteuerung, organisatorische Verantwortlichkeiten zwischen DB, Bund, Infrastrukturgesellschaft, Ländern. Diese Dimension wird von vielen Kommentatoren als überfällig adressiert, aber immer noch nicht überzeugend dargelegt in Schnieders Konzept.
  • Die Personalentscheidungen (DB-Chefin, Vorstandsposten, InfraGO) werden als Risiko gesehen – insbesondere, wenn sie nicht mit den Beschäftigten abgestimmt sind oder das Vertrauen im Management schwach ist.

Fazit zur Stimmungslage

Die öffentliche Resonanz ist überwiegend kritisch und skeptisch. Viele Reaktionen haben folgende Muster:

  1. Skepsis gegenüber Ambition
    Der Eindruck besteht, dass die Strategie nicht kräftig genug ist, eher defensiv als visionär.
  2. Fehlende Glaubwürdigkeit
    Weil viele der Probleme schon bekannt sind, wird kritisiert, das Konzept sei zu gestreut und zu wenig fokussiert.
  3. Warnung vor Versprechungen ohne Substanz
    Viele Kommentatoren fordern, dass das Papier mit Umsetzungsplänen, Meilensteinen und Verantwortlichkeiten unterlegt sein muss – sonst bleibt es ein Symbol.
  4. Politische Konflikte sichtbar
    Dass das Konzept offenbar ohne ausreichende Abstimmung in der Koalition aufgestellt wurde, wird als Schwäche im politischen Management gesehen.
  5. Ressourcen & Finanzierung als Achillesferse
    Selbst zustimmende Kommentatoren warnen, dass ohne klare Zusagen zur Finanzierung und eine Strukturreform viele der Ziele unerreichbar sein könnten.

Bild von Niek Verlaan auf Pixabay