Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

Schlagwort: Medizin

Der Trugschluss der „globalen Erklärung“

… oder: Einfaches, Falsches und Hypes

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Ganz einfach – oder… ?

Komplex ist eben nicht einfach

In ihrer Untersuchung zu Mitläufereffekten („Bandwagons [1]) in der Medizin haben Cohen und Rothschild [2] festgestellt, dass nicht nur Patienten, sondern ebenso Ärzte oft eine neue Idee einfach deshalb akzeptieren, weil sie eben eine neue Idee ist, die Verlockung einer einfachen Lösung für ein komplexes Problem.

Man wird hierin H.L. Menckens [3] Diktum [4] empirisch bestätigt sehen, wonach es für jedes komplexe Problem eine Lösung gibt, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet: Einfach, plausibel und falsch.

Ich möchte hiervon ausgehend auf einen Spezialfall dieser Art von Trugschlüssen hinaus: Man könnte ihn den „Trugschluss der globalen Erklärung“ nennen. Damit ist eine Erklärung gemeint, die insofern einfach ist, dass sie ihren Schwerpunkt auf das Allgemeine, den Grundsatz, den Ursprung, auf einen dogmatischen Urgrund legt, damit der allgemeinen Neigung zu einfach, direkt, generalisierend und – falsch entgegenkommt und so imstande ist, einen Hype, aber auch einen langlebigen Trend zu erzeugen. Solche pauschalen Erklärungen und Theorien sind kennzeichnend für die Pseudomedizin. Aber nicht nur, wie wir im Folgenden sehen werden.

Zum Beispiel basiert die Homöopathie auf den bekannten drei Grundprinzipien des Simile (Ähnliches heilt Ähnliches), der Arzneimittelprüfung am Gesunden (die letztlich ein Ausfluss des Ähnlichkeitsprinzips ist) und der Wirkungszunahme ihrer Mittel durch Potenzierung. Sie lässt dabei jeden Gedanken an Krankheitsentstehung und -verläufe völlig außer Acht, kennt nicht einmal den Krankheitsbegriff, und verspricht dem Patienten, auf so einfache und scheinbar einsichtige Art und Weise seine Symptome zu beseitigen. Verführerisch für Mediziner wie Patienten (worauf schon Heinroth 1825 im Anti-Organon zutreffend hinwies [5]) – und eben deshalb nicht sofort sichtbar das Falsche. Hahnemanns Gefolgschaft erlag genau wegen dieser Einfachheit und Scheinplausibilität, verbunden mit dem Reiz des Neuen, dem Mitläufereffekt – und tut dies bis heute. Die Selbsttäuschung darin hat immerhin mehr als 200 Jahre gehalten und baut heute noch Bollwerke gegen die schlichte Einsicht, dass die Homöopathie eine Irrlehre ist, als die sie schon zu ihrer Entstehungszeit von kritischen Geistern entlarvt wurde. [6] [7] [8] [9]

Ein weiteres Beispiel für einen „Hype“, der auf eine „einfache und direkte“ Erklärung zurückgeht, ist der von einem Vorläufer Hahnemanns, John Brown (1735-1788) begründete Brownianismus [10]. Der stellte nun gleich eine doppelte Vereinfachung dar. Brown lehrte, dass jede Krankheit nur entweder eine Reizüberflutung (sthenia) oder eine Reizhemmung (asthenia) sei und postulierte gleich passend dazu, dass beides nach dem Grundsatz „Gleiches kuriert Gleiches“ (Isopathieprinzip) behandelt werden müsse.

Entsprechend den damaligen Zeiten der „heroischen Medizin“ waren die Kuren entsprechend: Die jeweiligen Behandlungen bestanden entweder in Gaben von Opium oder in solchen von Alkohol, und zwar in massiven Dosen. Sehr einfach, höchst einleuchtend und – fatal falsch.

Das System wurde von den Ärzten (vor allem in Deutschland) begeistert angenommen. Nach Ansicht des Medizinhistorikers J.H. Baas war diese Behandlung „verantwortlich für mehr Tote als die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege zusammen“. [11] Ein Hype par excellence.

Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde aus dem Schlagwort „Belastung“ eine beliebte „monokausale“ Erklärung für viele Krankheiten: Herzbelastung, Herzmuskelschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Beschwerden des Iliosakralgelenks (vorher fast unbekannt) oder „Augenbelastung“ als Hauptursache für Kopfschmerzen und vieles mehr. Später im 20. Jahrhundert wurde „Belastung“ durch den eindrucksvolleren Begriff „Stress“ ersetzt, ein Konzept, das sich zu extremer Popularität entwickelte, nachdem Hans Selye es 1936 zum Herzstück seines „Allgemeinen Adaptionssyndroms“ [12] gemacht hatte, mit dem es möglich war, scheinbare Stress-Leitsymptome auf fast jedes Krankheitsbild zu projizieren. Der „Erfolg“ dieses Konzepts war, dass aufgrund dessen sehr viele Ärzte, Patienten und auch Nichtpatienten „Stress“ als ursächlich für beinahe jede pathologische Diagnose wie koronare Herzkrankheit, Krebs, Colitis ulcerosa, Magengeschwüre und viele andere Erkrankungen auch im psychischen Bereich geradezu verinnerlichten (und dies vielfach bis heute tun). Das Dogma des übersäuerungsbedingten Stress-Magengeschwürs fiel erst mit der Identifizierung des Bakteriums helicobacter pylori als dem Hauptverursacher. Dafür gab es immerhin 2005 den Medizinnobelpreis. [13]

Skrabanek und McCormick meinen in ihrer Monografie über „Follies and Fallacies in Medicine“ zum Stress-Syndrom, man müsste zurück bis zu Galen [14] gehen, um eine ähnlich grandiose Konzeption zu finden, die keine umfassende Erklärungskraft hat, aber alles zu erklären scheint. [15]

Gern angenommene, sich verbreitende und erhaltende pauschale Trends und Hypes wie den um „Positive Thinking“ [16] , der Glaube an eine -nicht vorhandene- „Krebspersönlichkeit“ [17] wie auch der Natürlichkeitswahn der Gegenwart zeigen, dass H.L. Menkens eingangs zitiertes Diktum auch heute noch ungebrochen gültig ist. All dies, genau wie auch der Hang zu den pseudomedizinischen Heilslehren, ist der wenig rationalen Suche nach der monokausalen, also einfachen, direkten (und wirklich meist falschen) Erklärung und der Flucht vor der nicht fassbaren, sich dem eigenen Einfluss entziehenden Multikausalität einer immer komplexeren Welt geschuldet, gerade in Fragen der Gesundheit. Dies ist, wie gezeigt, nicht neu – und nicht zu rechtfertigen.

Evidenz und was man dafür hält

Auch wenn es zunächst nicht sonderlich auffällt: Der vorangegangene Abschnitt hat eine Menge mit „Evidenz“ zu tun.

Evidenz ist ein zunächst neutraler Begriff. Er bedeutet, dass etwas offensichtlich, augenscheinlich, auf der Hand liegend ist, dass man an einer Einsicht in etwas schlechterdings nicht vorbeikommt. Auch die Mediziner der eben beschriebenen Zeit waren überzeugt, gerade wegen der „einfachen und direkten“ Erklärungen ihrer vermeintlichen Grundlagen „Evidenz“ zu sehen. Es leuchtete ihnen ein, und nicht nur ihnen. Wir sehen also, dass es mit einer einfach angenommenen Evidenz, mit dem Gefühl, etwas leuchte ein und habe den offensichtlichen Anschein der Richtigkeit für sich, längst nicht getan ist. Mir scheint nach vielen Gesprächen und Erfahrungen der letzten Zeit, dass ein so missverstandener allzu subjektiver Evidenzbegriff vielen, wenn nicht den meisten Anwendern pseudomedizinischer Methoden -auf Therapeuten- wie auf Patientenseite- eine trügerische Selbstlegitimation verleiht. Zudem oft auch noch die Überzeugung, der geschmähten „Schulmedizin“ gleichwertig oder gar überlegen zu sein. Das ist aber, wie wir gesehen haben, das fatale Denken in den Mustern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in den Kategorien der idealistischen und der romantischen Medizin.

Kürzlich begegnete mir die Äußerung, jeglichem Menschen mit einem Intelligenzquotienten „von einem gewissen Grad aufwärts“ müsse die Homöopathie doch „unmittelbar einleuchten“. Zweifellos sollte diese Aussage als Ausdruck einer „Evidenz“ verstanden werden. Dieses Statement dürfte allerdings eher ein Bespiel dafür sein, dass Evidenz nicht aus purer Subjektivität entstehen kann, nicht aus dem Anspruch, dass das Gegenüber einer Behauptung zu glauben habe, deshalb, weil der Behauptende sie für richtig hält. Um auf eine Formulierung von Skrabanek und McCormick aus dem vorigen Abschnitt zurückzukommen: Evidenz ist eben noch lange nicht das, was alles zu erklären scheint, aber keine Erklärungskraft hat.

Evidenz so, wie die moderne Medizin (und die Wissenschaft insgesamt) den Begriff versteht, setzt sowohl eine einwandfreie Beleglage als auch logische Widerspruchsfreiheit dessen voraus, was als evident anerkannt werden soll. Evidenz ist nicht einfach da. Evidenz ist vor allem nicht subjektiv, sie ist mehr als nur eine Meinung oder das Ergebnis eines oberflächlichen, von Selbstbestätigungsmechanismen geprägten Eindrucks.

Evidenz aus Logik

Evident kann nicht nur eine positive, bestätigende Wahrnehmung sein, sondern auch ein Ausschluss von Optionen und Möglichkeiten, eine sich zwingend aufdrängende Unmöglichkeit. Bei dieser Art „negativer“ Evidenz spielt die formale Logik eine große Rolle. Auf diesem Weg kommen wir zu einer grundlegenden Betrachtung von pseudomedizinischen Methoden, die seit jeher ihr Überleben dem anfangs erläuterten bandwagoning, dem Mitläufereffekt in der Medizin verdanken. [18]

Sie kennen vielleicht das Argument der Religionskritik, dass die Vielzahl der mit einem alleinigen Wahrheitsanspruch auftretenden Religionen an sich bereits das schlagende Argument gegen ihre Gültigkeit sei. Aus ihrem Vorhandensein folgt nach logischen Prinzipien (Kontrarietät), dass entweder alle falsch sein müssen – oder (höchst unwahrscheinlich) nur eine richtig. Diesem Verdikt könnte nur eine Religion ohne Alleingültigkeitsanspruch entgehen, eine in ihren Möglichkeiten offene, aber nicht entgrenzte Religion, wie sie beispielsweise das Römische Reich vor der Christianisierung pflegte, indem die Gottheiten der ins Reich aufgenommenen Völker auch in den Götterhimmel der Römer inkorporiert wurden.

Was hat das nun mit Pseudomedizin zu tun?

Nun, sehr viele pseudomedizinische Methoden sind dogmatisch in dem Sinne, als dass sie ein monokausales Bild von Krankheitsentstehung und Heilungsversprechen zeichnen. Sie machen damit das verführerische Angebot der einfachen und direkten Erklärung von Krankheit und Genesung und gehen damit so tief an die Grundlagen, dass dadurch ein logisches (konträres) Ausschlusskriterium gegenüber „konkurrierenden“ Methoden entsteht. Nicht umsonst bezeichnet man solche scheinbar tiefgründigen, aber letztlich auf pauschale Vereinfachung und Alleingültigkeit hinauslaufenden Erklärungsmodelle als „Heilslehren“. Man sollte sich das immer vergegenwärtigen, besonders dann, wenn solche „Methoden“ versuchen, sich als „komplementär“ zur wissenschaftlichen Medizin und -im angeblichen Gegensatz zu dieser- als „ganzheitlich“ anzudienen und damit das Vertrauen der Patientenschaft zu erlangen. Wie soll dies aus Sicht einer Methode, die von sich überzeugt ist, den medizinischen Stein der Weisen zu besitzen, überzeugend oder gar redlich sein?

Werfen wir einen Blick auf einige Beispiele bekannter medizinischer Heilslehren. Wir beschränken uns dabei auf kurze Erklärungen der dogmatischen Ansätze dieser Lehren, die für ihre gegenseitige logische Ausschließung wichtig sind. Die Widerlegung der einzelnen Lehrgebäude für sich ist hier nicht unser Thema.

  • Arzneimittellehren:

Homöopathie nach Hahnemann postuliert als alleinige Ursache von Krankheitserscheinungen (Krankheiten im heutigen Sinne kennt sie nicht, nur Symptome) eine „Verstimmung der geistigen Lebenskraft“, die mit einer gegenläufig wirkenden „geistigen Arzneikraft“ zu korrigieren sei.

Wilhelm Schüßler postulierte als alleinige Ursache von Krankheiten einen Mineralstoffmangel (zudem den Mangel ganz bestimmter Mineralien) auf Zellniveau und bietet das ultimative Sortiment für einen Ausgleich dessen passend in Form seiner „Schüßler-Salze“ an. Was Schüßler als „Weiterentwicklung“ von Hahnemanns Homöopathie empfand, aber keineswegs der Zentralverein homöopathischer Ärzte, der ihn wegen seines „Umstiegs“ von der geistigen Lebenskraft auf „biochemische Grundlagen“ ausschloss.

Edward Bachs System der Bachblüten sucht Krankheitsursachen ausschließlich in emotionalen Auffälligkeiten bestimmter Persönlichkeitstypen, deren Systematik selbstverständlich seiner ganz persönlichen Einschätzung unterlag. Seine Heilmethode beruht darauf, diesen Persönlichkeitstypen nach seiner persönlichen Intuition Heilpflanzen zuzuordnen. Die Homöopathie war in seinen Augen eine Irrlehre. Was in dieses Dogma nicht passen wollte, ordnete Bach schlicht dem Darm als Krankheitsauslöser zu.

Homotoxiologie nach Reckeweg geht davon aus, dass alle Krankheiten ausschließlich Reaktionen des Körpers auf andauernd einwirkende Giftstoffe sind. Der Körper kämpft gegen diese Gifte an und möchte sie ausscheiden. Akute Krankheiten werden als erfolgreiche Ausscheidungsphasen gedeutet, chronische Krankheiten sollen entstehen, wenn das Entgiften nach und nach nicht mehr vollständig gelingt. Erstaunlicherweise sah auch Reckeweg seine Lehre als Weiterentwicklung der Homöopathie.

Wir dürfen nach diesen Beispielen schon einmal kurz innehalten und uns vergegenwärtigen, in welcher trauten Eintracht die Mittelchen dieser populären Pseudomedizinen in den Apotheken nebeneinander stehen und mitunter gleichzeitig vom werten Publikum nachgefragt und ihm auch so verkauft werden – ohne dass irgendjemand einen Gedanken daran verschwendet, dass diese vier Methoden sich wegen ihrer völlig unterschiedlichen dogmatischen Ansätze gegenseitig ausschließen (ihre einzige Gemeinsamkeit liegt in ihrer Unwirksamkeit).

Aber die Galerie der dogmatischen Krankheitsdeuter und Heilslehrer geht noch weiter:

  • Manuelle Lehren

Osteopathie postuliert nach seinem Begründer Andrew Taylor Still, dass es für sämtliche Krankheiten keinerlei andere Heilung als die durch die Selbstheilungskräfte („Selbstregulationsfähigkeit“) des Körpers gebe, somit eine Heilung „von außen“ unmöglich und die Osteopathie die einzige Methode sei, gestörte Funktionen zu erkennen und zu beheben. Diese „gestörten Funktionen“ verortete er allen in Beeinträchtigungen von Muskel und Skelett.

Chiropraktik definierte der Begründer D.D. Palmer als „Heilen ohne Medikamente“ und ging davon aus, Erkrankungen seien ausschließlich auf Fehlstellungen innerhalb der Wirbelsäule zurückzuführen. Er will damit Taubheit, Asthma, Blindheit und mehr geheilt haben.

  • Okkulte / vitalistische Lehren

In der Anthroposophie entspringen Krankheiten nach der okkulten Lehre Rudolf Steiners einer „Disharmonie der Wesensglieder“, des physischen Leibs (Körper), des Ätherleibs (lebenserfüllte Geistgestalt), des Astralleibs (Seele) und des „Ich“, letzteres als dem spezifisch „menschlichen“ Anteil an der Wesenheit Mensch.

Traditionelle Chinesische Medizin ist ein Konglomerat aus traditionellen Heilweisen unterschiedlichster Art und schlicht „erfundenen“ Pseudomethoden, die zur Zeit der Kulturrevolution mangels anderer Möglichkeiten in sozusagen reduzierter Form als Gesundheitsversorgung der Bevölkerung eingesetzt wurden, zudem heute in westlichen Formen assimiliert, die mit wirklicher traditioneller Heilkunde Chinas wenig zu tun haben. Die meisten der darin verbundenen Ansätze vereint die Annahme der Regulierung einer imaginären, im Falle von Krankheit aus dem Gleichgewicht geratenen Lebenskraft („Qi“).

Die Zahl an Deutungs- und Erklärungsmodellen zur Akupunktur, einem verselbständigten Zweig der TCM, ist kaum noch überschaubar. Grundlegend bleibt festzuhalten, dass ihr ursprünglicher Ansatz war, Krankheiten durch die „Ableitung“ von falschem, blockiertem oder überschüssigem „Qi“ (imaginäre Lebensenergie) mittels Wiederherstellung eines harmonischen Gleichgewichts der körperlichen „Energien“ zu heilen (Yin-Yang-Prinzip).

Nach dem Begründer des Reiki, Mikao Usui, beruht die Lehre auf der Annahme eines Ki (Chi) als unpersönlicher Natur- und Seelenkraft, die als Energie die ganze Welt durchwirkt und die Grundlage des Lebens bildet. Krankheiten sind ein Mangel an dieser Energie, Reiki-Heiler sollen sie durch das ritualisierte Auflegen ihrer Hände auf den Körper übertragen. (Wir sehen hier schon einen bezeichnenden Widerspruch zu einer anderen Lebensenergielehre, der Akupunktur: Dort soll Qi blockiert und überschüssig oder gar falsch sein und demzufolge „abgeleitet“ werden, Reiki will „fehlende“ Energie „einleiten“).

  • Pseudopsychologische Ansätze

Die sogenannte „Germanische Neue Medizin“, kurz GNM nach Ryke Geerd Hamer postuliert, alle Erkrankungen bei Menschen (und Tieren) seien Folge von so genannten „biologischen Konflikten“, zwangsläufig sich körperlich (verzögerungslos) niederschlagenden Auswirkungen von Einwirkungen auf die Psyche und seien nur durch Beseitigung dieser Konflikte heilbar.

Die Lehren der assoziativen Krankheitssymbolik vertreten Konzepte (Dahlke und Tepperwein), die eine Art primitiver Psychosomatik als alleinige Ursache für Krankheiten postuliert. Ausnahmslos allen Krankheiten soll eine geistig/seelische „Fehlhaltung“ zugrunde liegen, die der Therapeut rein intuitiv erfassen und dem Patienten nahebringen will – und diesen damit auch noch zum „Verantwortlichen“ für seine eigene Krankheit macht.

Kann fortgesetzt werden.

Ja, was denn nun?

Es sollte einleuchten, dass all diese Ansätze wegen ihrer spezifischen Deutungsmodelle für Krankheit und Heilung miteinander unvereinbar sind. Sie vertreten jeweils eine „Selbstimmanenz“, einen hermetisch in sich abgeschlossenen Erklärungskanon, dem die Nichtvereinbarkeit mit dem „externen“ Erkenntnisstand gleichgültig ist. Dies hat nun einmal den Preis, dass alle diese Ansätze ohne externe Plausibilität falsch sein müssen – oder nur einer ist richtig. Neigen Sie ungeachtet ihrer Unwahrscheinlichkeit der zweiten Möglichkeit zu, sollten Sie sich fragen, ob Sie eine Wette auf die These des „einen richtigen“ Ansatzes abschließen würden.

Manche dieser Methoden -wenn nicht die meisten- werden heute in veränderter und / oder abgeschwächter Form praktiziert, was gern als „Weiterentwicklung“ etikettiert wird. All dies ist durchweg als reiner Pragmatismus anzusehen, um die Methode als solche am Leben zu erhalten. Wie sollte aus einer zwangsläufig falschen Grundannahme durch „Weiterentwicklung“ etwas Sinnvolles, Belastbares entstehen? Ex falso sequitur quodlibet – aus Falschem folgt Beliebiges. Wobei das Falsche falsch bleibt.

Ist es nicht haarsträubend, zu sehen, dass „Ausübende der Heilkunde“ -seien es Heilpraktiker oder leider auch Ärzte- ganze Portfolios aus solchen miteinander unvereinbaren Heilslehren, zudem noch in abenteuerlichsten Varianten, offerieren?

Mit Blick auf unsere Ausgangsthese sei auch anderes nicht übersehen: Die Vielzahl von Methoden, die man als simplifizierte Varianten schulmedizinischer Verfahren ansehen kann, die Pseudopharmazie mit herbeifantasierten Mitteln wie dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Aprikosenkernextrakt oder dem ominösen „Vitamin K-Hype“ oder auch die Versprechen einer Heilung schwerer und schwerster Krankheiten nur durch Ernährung oder Vitamin-/Mineralstoffgaben. Auch dies ist alles H.L. Menkens Verdikt von einfach, plausibel und – falsch zuzuordnen. Da das „falsch“ nicht wahrgenommen wird, vertraut man dem „einfach und plausibel“ nur allzu gern – das bandwagoning beginnt.

Und die wissenschaftliche Medizin?

Welche Position nun nimmt dabei die wissenschaftliche Medizin ein? Sie entgeht dem logischen Verdikt der Unvereinbarkeit von Allgültigkeitsansprüchen, weil sie undogmatisch ist. Die Medizin ist offen für alles, was nach ihren Maßstäben eine Wirksamkeit und einen Nutzen für den Patienten belegen kann, wobei ihr die Herkunft des Mittels oder der Methode herzlich gleichgültig ist. Sie entgeht dem Verdikt der gegenseitigen Unvereinbarkeit auch, weil sie eine offene Methode ist, kein „Glaube“, kein „Religionsersatz“ oder als was man sie auch immer fälschlich ansehen mag. Sie kennt eine weit gefächerte Ätiologie, eine Lehre von Krankheitsentstehung und -verlauf, die auf multikausalen differenzierten Ansätzen beruht, die sich täglich bewähren und gemäß dem wissenschaftlichen Prinzip ebenso täglich verfeinert, verbessert und erweitert werden. Damit führt sie jede monokausal begründete Heilslehre, ob arzneimittelorientiert, okkult oder auf imaginären Lebenskräften (Vitalismus) beruhend, ad absurdum. Und sie kommt, trotz oder auch wegen ihrer großen Fortschritte, ohne all die unbelegten und oft transzendenten Annahmen aus, die all die pseudomedizinischen Methoden so scheinattraktiv machen – als einfache, direkte und – falsche Erklärungen.

Wir dürfen der wissenschaftlichen Entwicklung dankbar dafür sein, dass sie den pseudomedizinischen Verfahren den Freiraum streitig macht, der zu Auswüchsen wie denen von Baas beschriebenen beim Brownianismus führen kann. Leider wird solchen Irrationalitäten noch hier und heute ein Raum und eine öffentliche Glaubwürdigkeit eingeräumt, was mit dem Denken des 18. Jahrhunderts zwar erklärt, aber im vielbeschworenen Bildungs- und Wissenschaftszeitalter längst nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Wir solten nicht zulassen, dass die wissenschaftliche Medizin für ihre Gegenposition auch noch kritisiert und -unter grotesker Verdrehung der Begriffe- als „Schulmedizin“ [19] und „wissenschaftsdogmatisch“ [20] diffamiert wird.

Im Medienzeitalter – was tun?

Die Neigung zu den monokausalen -also den einfach, einleuchtend und – falsch begründeten Heilslehren und ihren Versprechungen (nicht nur in der Medizin) wird niemals verschwinden. Aber in einer Bildungs- und Mediengesellschaft sollte es möglich sein, dem gezielt entgegenzuwirken.

Die Multikausalität und die Komplexität der heutigen medizinischen Lehre dürfen nicht als Negativum wahrgenommen werden, sondern als das, was sie sind: Ausdruck eines zunehmend vertieften Verständnisses, einer immer größeren Annäherung an eine nun einmal hochkomplexe Wirklichkeit. Evidenzbasiertes Expertenwissen ist heute der Gegenpol gegen die Flucht ins Einfache, Direkte und Falsche – einschließlich der Mittel zur Verfügbarkeit dieses Wissens, was erstmals im gegenwärtigen Medienzeitalter überhaupt möglich ist.

Der gleiche Trend zu einfachen, plausiblen und meist falschen Erklärungen, der seit der vorwissenschaftlichen Zeit (nicht nur) bei der Medizin imstande war, Hypes auszulösen und oft lange zu erhalten, ist auch heute noch am Werk. Ja, die Komplexität heutigen Wissens befördert das noch, weil diese ein Gefühl von Autonomieverlust mit sich bringt, das durch die schnellen, einfachen und scheinbar evidenten monokausalen Erklärungen medizinischer Heilslehren ein scheinbares Gegengewicht erfährt. Dafür wird der Preis von Irrationalität und Misstrauen gegen Expertenwissen offenbar allzu gern gezahlt. Wenn man sich fragt, wieso ausgerechnet im Gesundheitsbereich, wo es um einen selbst geht, um ein menschliches Kernanliegen – dann muss man eigentlich sagen: Wahrscheinlich wirken diese Dinge dort erst recht, weil dort der Autonomieverlust als besonders stark empfunden wird.

Nur am Rande sei angemerkt, dass diese Mechanismen sich natürlich nicht auf den medizinischen Bereich beschränken. Oft genug kommt es selbst innerhalb der wissenschaftlichen Community dazu, dass der eine oder andere der Verlockung der Einfachheit erliegt und mit einer „globalen Erklärung“ einen Trugschluss produziert. [21] Dort allerdings gibt es wegen der weltweiten Vernetzung der Wissenschaftsgemeinde und der Verständigung über einen gemeinsamen Wissenschaftsbegriff inzwischen immanente Korrekturmechanismen, auf die man sich verlassen kann.

Die Chancen des Medienzeitalters, der Verbreitung von Falschem unter dem Deckmantel des Einfachen und Einleuchtenden entgegenzuwirken, müssen genutzt werden. Korrekturmechanismen wie innerhalb der wissenschaftlichen Community gibt es im Alltag nicht oder kaum. Wir brauchen deshalb weit mehr als bisher eine Verständigung zwischen (Medizin-)Wissenschaft und dem Publikum. Dabei sehe ich die Wissenschaft (im weitesten Sinne, als die Summe der Informierten) durchaus in einer Bringschuld. Wir brauchen vertrauensbildende Maßnahmen. Wir brauchen Aufklärung, wir brauchen entschiedenes Auftreten gegen Irrationalität und Bauernfängerei. Wir brauchen mehr und bessere Methoden der Wissenschaftskommunikation. Dazu gehört auch ein guter und verantwortlicher Wissenschaftsjournalismus. Projekte wie die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) [22], das Informationsnetzwerk Homöopathie [23] mit seinen Angeboten auf verschiedenen Ebenen, das Recherchenetzwerk Correctiv [24], das den Schwerpunkt „Alternativmedizin“ im Portfolio hat, die Initiative des Münsteraner Kreises [25] pro evidenzbasierte Medizin im Gesundheitswesen oder das am Start befindliche Projekt MedWatch [26], einem Portal für Faktencheck zu Gesundheitsinformationen, lassen hoffen, dass mit den Möglichkeiten des Medienzeitalters Brücken gebaut werden können, die stärker sind als die überkommenen Strukturen des einfachen und schnellen Denkens. Wenn es auch manchmal schwer erscheint.

Was aber auch vonnöten ist: Das Vertrauen des Publikums und eine minimale Bereitschaft seinerseits, sich mit den Fragen des modernen Lebens vorurteilsfrei auseinanderzusetzen. Hier ist wohl das Bildungssystem mehr als bisher gefordert. Gute und wissenschaftsbasierte Medizin darf nicht länger gegen irrationale Heilslehren, Beliebigkeits- und Wünschdirwas-Medizin ausgespielt werden. Nicht von den Proponenten der Pseudomedizin, nicht von der Politik und auch nicht vom leider noch allzusehr dazu geneigten Publikum.


TL;DR

Wie einfache Lösungen komplexer Probleme fast immer falsch sind, gleichwohl große Anziehungskraft ausüben, dadurch Mitläufertum in Fachwelt und Publikum erzeugen und Hypes anfachen, die sehr lange anhalten können.

Wie einfache monokausale Erklärungen -in der Pseudomedizin für den Grundsachverhalt der Erklärung von Krankheit und Heilung- sich logisch gegenseitig ausschließen und die moderne Wissenschaft diesem Ausschluss durch undogmatisches Vorgehen und die Suche nach differenzierten mulitkausalen Erklärungsmodellen entgeht.

Wie dem Trugschluss der globalen Erklärung und der Entfremdung der Fach- von der Laienwelt mit allen ihren verhängnisvollen Folgen im Medienzeitalter begegnet werden kann und soll, als Bringschuld bei der Wissenschaft, aber auch als Holschuld beim Publikum.


Leseempfehlung zum Thema:
Grams, Natalie: Gesundheit! Ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen, Springer Heidelberg 2017


Referenzen:

[1] https://sites.google.com/site/skepticalmedicine//cognitive-biases#TOC-Bandwagon-effect-
[2] The Bandwagons of Medicine; Lawrence CohenHenry Rothschild; aus: Perspectives in Biology and Medicine Volume 22, Number 4, Summer 1979 (pp. 531-538 | 10.1353/pbm.1979.0037)
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/H._L._Mencken
[4] “Explanations exist; they have existed for all time; there is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong.” In: „The Divine Afflatus“ in New York Evening Mail (16 November 1917); later published in Prejudices: Second Series (1920) and A Mencken Chrestomathy (1949) – via Wikiquote (https://en.wikiquote.org/wiki/H._L._Mencken)
[5] Heinroth, Joh.Chr.Aug., Anti-Organon oder Das Irrige der Hahnemannischen Lehre im Organon der Heilkunst. C.H.F. Hartmann, Leipzig (1825)
[6] The end of homoeopathy. Lancet. 2005;366:690
[7] Skrabanek P, Mc Cormick J. Follies and Fallacies in Medicine. Glasgow: The Terragone Press; 1989
[8] Hopff W. Homöopathie kritisch betrachtet. Stuttgart: Thieme; 1991
[9] Prokop O, Hopff W. Gibt es heute noch Schildbürgerstreiche? Schweiz MedWochenschr. 1992; 122(46):1770-1
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Brownianismus
[11] Baas, J.H., Die geschichtliche Entwicklung des ärztlichen Standes und der medicinischen Wissenschaften. Berlin Fr Wreden, 1896
[12] Hans Selye, The Stress Of Life; McGraw-Hill Book Company, NY 1956 (http://repositorio.cenpat-conicet.gob.ar:8081/xmlui/bitstream/handle/123456789/415/theStressOfLife.pdf?sequence=1)
[13] https://www.aerzteblatt.de/archiv/48558/Nobelpreis-fuer-Medizin-Der-Bakterientrunk-lieferte-der-Fachwelt-den-Beweis
[14] http://flexikon.doccheck.com/de/Galen
[15] FOLLIES AND FALLACIES IN MEDICINE Third Edition Petr Skrabanek James McCormick TARRAGON PRESS Whithorn; 3. Auflage 1998 (http://euract.woncaeurope.org/sites/euractdev/files/documents/resources/documents/folliesandfalliciesinmedicine-thirdeditionpetrskrabanekjamesmccormick-1998.pdf)
[16] https://www.nytimes.com/2014/12/23/science/gabriele-oettingen-turns-her-mind-to-motivation-in-rethinking-positive-thinking.html
[17] https://www.krebsinformationsdienst.de/leben/krankheitsverarbeitung/psyche-und-krebsrisiko.php
[18] https://sciencebasedmedicine.org/hop-on-the-im-bandwagon/
[19] https://scilogs.spektrum.de/sprachlog/hom-pathische-sprachfallen-und-wie-geo-sie-nicht-vermeidet/
[20] http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/2012/11/09/ist-wissenschaft-dogmatisch/
[21] Ein aktuelles Beispiel: http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/2017/11/27/dunkle-materie-und-dunkle-energie-wurden-abgeschafft-schon-wieder/
[22] https://gwup.org
[23] www.netzwerk-homoeopathie.eu
[24] https://correctiv.org
[25] www.münsteraner-kreis.de
[26] https://medwatch.de


Bildnachweis; Fotolia_181263450_S

Warum haben Medikamente Nebenwirkungen?

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Ein Gastbeitrag von Dr. Natalie Grams

Nebenwirkungen sind leider nicht zu vermeiden. Im Gegenteil – ein Medikament, das keine Nebenwirkungen hat, steht in dem schweren Verdacht, auch keine Hauptwirkung zu haben.

Wir werden alle gelegentlich einmal krank, und wir brauchen dann manchmal Medikamente. Im besten Fall solche, die wirken. Doch viele Menschen beurteilen Medikamente nicht nach ihrer Wirksamkeit, sondern fürchten sich vor ihren möglichen Nebenwirkungen. Manche gehen mittlerweile sogar so weit, dass sie alle Medikamente als „pure Chemie“ verdammen, die nur dazu da ist, uns noch kränker zu machen. Was ist an diesen Befürchtungen dran?

Einen Stoff zu finden, der bei allen Menschen genau und nur dazu führt, dass ein ganz bestimmtes Krankheitssymptom bekämpft wird, ohne dass dadurch im Körper auch andere Funktionen und Prozesse beeinträchtigt werden, ist unmöglich.

Drugwatch (2017)

Ein medizinischer Wirkstoff „weiß“ nicht, dass wir ihn zu einem bestimmten Zweck einsetzen. Auf chemische oder physikalische Weise hat er die Fähigkeit, das Potenzial, eine Wirkung auf unseren Körper oder direkt auf Krankheitserreger zu entfalten, die in unseren Körper eingedrungen sind. Und diese Effekte halten sich leider nicht an unsere menschlichen Kategorien wie „gut“ und „schlecht“ oder „erwünscht“ und „unerwünscht“. Natürlich versucht man Stoffe als Medikamente zu wählen und zu erforschen, die möglichst genau in die Prozesse eingreifen, die für die jeweilige Krankheit oder deren Symptome verantwortlich sind. Das ist ein großer Forschungsbereich der Pharmazeutik. Doch selten gelingt dies vollständig (im Grunde nur bei Mitteln, die dem Körper Substanzen zuführen, die er normalerweise selbst herstellt, wenn genau diese Funktion gestört ist – selbst dann können dosisabhängig Nebenwirkungen auftreten). Es gibt kein Mittel „gegen Kopfschmerzen“. Es gibt nur Substanzen, die hauptsächlich oder teilweise bewirken können, dass Kopfschmerzen gelindert werden. Einige blockieren dafür Rezeptoren, andere sorgen für die Produktion oder Hemmung von Botenstoffen. Es gibt aber kein „Kopfweh-Teilchen“, das gezielt beeinflusst werden könnte. Wirkungs- und damit Heilungsprozesse, die funktionieren, müssen in irgendeiner Form auch andere Auswirkungen haben; wir sprechen von Nebenwirkungen. Niemand baut absichtlich solche Nebenwirkungen in Medikamente ein!

Aspirin – Fluch und Segen

Die Forschungen über Nebenwirkungen der Acetylsalicylsäure (Aspirin, ASS) beispielsweise füllen inzwischen reihenweise Bücher – obwohl es zweifelsfrei eines der zuverlässigsten und meistgenutzten Medikamente weltweit ist und im Alltag für seine eher unproblematische Handhabung gelobt wird. ASS ist ein Wirkstoff mit schmerzlindernden, fiebersenkenden und entzündungshemmenden Eigenschaften. Außerdem hat ASS einen gerinnungshemmenden Effekt und kann deshalb zur prophylaktischen Behandlung von erneuten Herzinfarkten und Schlaganfällen eingesetzt werden. Doch genau diese Hauptwirkung führt dazu, dass sie das Blutungsrisiko insgesamt erhöht, was wiederum dazu führen kann, dass außergewöhnliche Blutungen auftreten, zum Beispiel eine schlimme und absolut unerwünschte Magenblutung.

Die Geschichte dieses bekannten Präparates zeigt gut auf, wie ein Medikament überhaupt entsteht: Schon die alten Kelten kochten Weidenrinde aus, denn sie hatten die schmerzstillende Wirkung des Suds erkannt. Doch erst um 1850 gelang die Isolierung der dafür verantwortlichen Salicylsäure. Deren Säurewirkung war jedoch hoch: Sie verätzte bei der Einnahme die Mundschleimhaut. Erst die Weiterentwicklung zu Aspirin im Jahr 1897 brachte den Durchbruch – für Bayer finanziell und für Patienten therapeutisch. ASS ist heute eines der am häufigsten eingesetzten Schmerzmedikamente. In der richtigen Dosierung treten Nebenwirkungen selten auf. Doch nebenwirkungsfrei ist ASS nicht und kann es aufgrund der beschriebenen Zusammenhänge auch nicht sein.

Wie ASS werden viele Medikamente durch Zufall entdeckt (was brachte einen Kelten dazu, Rinde zu kochen? Wie wurde die Wirkung überliefert?), dann nach dem „Trial-and-Error-Prinzip“ weiterentwickelt und immer weiter verbessert, sodass die Wirkung gezielter wird und die Nebenwirkungen abnehmen. In klinischen Studien werden Medikamente auf ihre tatsächliche Wirkung und Verträglichkeit hin untersucht. Bei der synthetischen Herstellung prüft man dann auch, ob es möglich ist, durch chemische Modifikationen die Nebenwirkungen herunterzuschrauben, ohne die Hauptwirkungen zu beeinträchtigen.

Nebenwirkungsfreie Chemo?

Nehmen wir als nächstes Beispiel Chemotherapie gegen Krebs, die für ihre aggressiven Nebenwirkungen bekannt ist. Immer wieder habe ich Beiträge von Patienten gelesen, die das kritisieren. „Warum tut man Menschen so etwas an?“, fragen sie. Oder sie sagen: „Chemotherapie hat mehr Menschen auf dem Gewissen, als sie gesund gemacht hat!“

Man gibt Chemotherapeutika („Zytostatika“), um schnellwachsende Krebszellen aufzuhalten. In der Tat, Zytostatika sind Zellgifte, die ihre Giftigkeit gegen den Tumor richten sollen. Wenn man die Tumorzellen am Wachstum hindert, kann das Krebsgeschwür nicht weiterwachsen oder wird sogar zerstört – das leuchtet ein. Doch leider ist es bislang nur in Ansätzen gelungen, die zellzerstörende Wirkung auf die Krebszellen zu beschränken: Sie trifft grundsätzlich alle sich schnell teilenden und wachsenden Körpergewebe. Diese finden sich zum Beispiel auch in den Schleimhäuten des Mundes und des Verdauungstraktes, in Haaren, Nägeln und in Wundregenerationsbereichen. So besiegt man durch die Chemotherapie also auf der einen Seite im besten Fall den Krebs, auf der anderen Seite aber bezahlt man diese Wirkung mit den Nebenwirkungen: Haarausfall, Wundheilungsstörungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Übelkeit. Das eine ist nicht ohne das andere zu bekommen, obgleich man unablässig daran forscht, die Wirkung zu maximieren und die unerwünschten Begleiterscheinungen zu minimieren. Unleugbar hat man in den letzten 20 Jahren auf diesem Gebiet schon erhebliche Fortschritte erzielt. Gerade bei Krebs, der ja oft einer lebensbedrohlichen Diagnose gleichkommt, nimmt man also quasi in Kauf, dass es den Patienten vorübergehend schlecht geht, um auf lange Sicht das Leben zu erhalten. Und das ist das Prinzip jeder Medikamentengabe (und auch schon der Medikamentenentwicklung): Nutzen und Risiko müssen, wie überall im Leben, sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die berühmte „Übermedikation“ (Klassiker: Antibiotika bei viralen Infekten, was außer Nebenwirkungen nichts bringt) ist deshalb genauso falsch wie eine Untermedikation (ein zu wenig wirksames Mittel oder ein wirksames in zu geringer Dosis verwenden, weil man Angst vor Nebenwirkungen hat, aber dann nicht geheilt wird).

Es gibt inzwischen neue „Targeted“-Chemotherapeutika, die gezielt nur Krebszellenstrukturen angreifen. Sie wirken gegen Merkmale, die es so nur in Tumorzellen gibt oder die beim Wachstum von Krebsgewebe zumindest eine wichtigere Rolle spielen als in gesundem Gewebe. Sie werden derzeit intensiv beforscht. So etwas ist einzig und allein der wissenschaftlichen Methode zu verdanken, die durch laufende Verbesserungen im Detail, im Erkennen bislang unbekannter physiologischer und biomechanischer Zusammenhänge und durch das Offenlegen immer feinerer Strukturen des Organismus Fortschritt erzeugt. Wie sollten dagegen Spekulationen, magisches Denken und der Glaube an schlichte Behauptungen derartiges hervorbringen können? Natürlich sind solche Krebstherapien kein kritikfreier Raum; gerade in Bezug auf Nichtunterlegenheitsstudien wird hier viel Wirtschaft und nicht etwa Wissenschaft betrieben (siehe auch Goldacre 2013).

Keine Wirkung ohne Nebenwirkung 

Doch zurück zu unserem Thema: Bei Antibiotika nimmt man in Kauf, dass sie nicht nur die Bakterien abtöten, die uns krank machen, sondern mit ihnen oft auch die Bakterien, die unseren Darm „im Guten“ besiedeln und bei der Verdauung mithelfen. Nebenwirkungen sind deshalb häufig Durchfälle oder andere Magen-Darm-Beschwerden. Auch ein Pilzbefall des Darms ist möglich, weil die natürliche Darmflora vorübergehend angegriffen ist. Auch hier versucht man, die gute Wirkung des Antibiotikums gegen die negativen Nebenwirkungen abzuwägen. Der Darm erholt sich meist schnell wieder – eine bakterielle Lungenentzündung dagegen kann lebensbedrohlich sein. Die Gefährlichkeit von Infektionen durch Bakterien wird heute dank Antibiotika recht gering geschätzt; früher führten diese Infektionen sehr häufig zum Tode. Neben den Impfungen dürften Antibiotika diejenige Errungenschaft der wissenschaftlichen Medizin sein, die die meisten Leben gerettet hat – trotz Nebenwirkungen.

Wenn also Therapien damit werben, dass sie nebenwirkungsfrei sind, sollte Sie das mehr als stutzig machen. Denn etwas, das wirkungsvoll in unseren Körper eingreift, tut das nie so spezifisch, dass nicht auch Nebenwirkungen damit verbunden sein können. Was Haupt- und was Nebenwirkung sein soll, ist eine Definition von uns Menschen, für die sich das Therapeutikum nicht im Mindesten interessiert. Etwas anderes ist kaum zu erwarten; der Glauben an die auf den Menschen hin ziel- und zweckgerichtete Natur wird einmal mehr als „naturalistischen Fehlschluss“ entlarvt. Zwar treten Nebenwirkungen nicht bei jedem und überall gleich heftig oder häufig auf, aber sie gehören zu einer wirkungsvollen Therapie nun einmal dazu.


Dies ist ein verkürzter und leicht adaptierter Auszug aus einem Kapitel meines zweiten Buches Gesundheit! Ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen, das in jedem Buchhandel erhältlich ist. Der Text unterliegt dem © Copyright Springer Verlag Heidelberg 2017.


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Wie kann man nur gegen Alternativmedizin sein???

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Ein Gastbeitrag von Dr. Natalie Grams

TL:DR: Für Trennung von Glauben und Wissenschaft, für Wissen statt Beliebigkeit, für vernünftige Medizin statt verklärtem Rückwärtsdenken, für Aufklärung statt falscher Toleranz.

Am Anfang: Die Definition

Alternativ – muss man das erklären? Auf jeden Fall, denn der Begriff wird gerade in den derzeitigen Debatten über „Alternativmedizin“ häufig nicht richtig benutzt. Eigentlich bedeutet Alternative doch, ich habe die Wahl zwischen zumindest annähernd gleichwertigen Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten haben jeweils spezifische Vor- und Nachteile, die sich aber irgendwie ausgleichen und eine Entscheidung je nach persönlichen Vorlieben zulassen. Zwei verschiedenfarbige Paar Schuhe werden keinen Unterschied im Tragekomfort haben. Ich habe also die Alternative, je nach persönlicher Präferenz zwischen rot und blau zu wählen.

Die Sache sieht ganz anders aus, wenn ich durstig bin und man stellt mir ein volles und ein leeres Glas Wasser auf den Tisch. Beides sind Gläser, aber ist das leere Glas in Anbetracht der Grundsituation eine Alternative? Nein. Hier – und nur hier – greift der (politisch etwas vorbelastete) Begriff der Alternativlosigkeit: Nämlich dann, wenn es zwar verschiedene Angebote gibt, diese aber keineswegs vergleichbar geeignet sind, die jeweiligen Bedürfnisse zu erfüllen bzw. die angestrebten Ziele überhaupt zu erreichen.

Zur Alternativmedizin: Warum bin ich „dagegen“?

Es geht mir nicht um das „Dagegensein“ – es geht um eine Frage von Rationalität, vor allem aber von Moral, von Ehrlichkeit, von Redlichkeit. Der so gerne verwendete Begriff „Alternativmedizin“ enthält ja erst einmal eine stramme Behauptung, nämlich die, es gehe hier um eine wirkliche Alternative zur Medizin, also etwas, das man statt Medizin tun/einnehmen könne. Darin steckt auch gleich der Anspruch, die Alternativmedizin sei der „Schulmedizin“ (die ich lieber wissenschaftsbasierte Medizin nenne) mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, also vielleicht sogar – die „bessere Alternative“.

Das klingt erst einmal sehr schön und auch ich habe früher gern an die implizierte Bedeutung geglaubt. Ich habe auch Verständnis für jeden Patienten, der das tut, denn die „Schulmedizin“ und auch „die Wissenschaft“ machen es uns nicht unbedingt immer leicht, sie zu mögen (aber das soll aktuell nicht Thema sein). Ich habe früher gerne daran geglaubt, dass die Medizin längst nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass es noch so vieles gibt, was wir nicht wissen. Wie also will da jemand abfällig über Alternativen urteilen? Heute allerdings stoße ich mich schon am Begriff „Alternative“.

Was haben wir denn eigentlich bei der Gegenüberstellung Medizin – Alternativmedizin vor uns? Was trifft es besser – die roten und die blauen Schuhe oder das volle und das leere Glas?

Die Medizin – im Sinne der heutigen wissenschaftsbasierten Medizin, der Grundlage des öffentlichen Gesundheitssystems – versteht sich als die Summe aller Mittel und Methoden, die nachweislich wirksam sind. Hinzu kommt für die praktische Anwendung noch die Abwägung eines möglichen Schadenpotenzials (Stichwort Nebenwirkungen) und die jeweilige Situation / Verfassung des Patienten. Was das für Mittel / Methoden sind und woher sie stammen, ist der wissenschaftlichen Medizin ziemlich egal. Sie ist fähig und bereit, alle vielversprechenden Ansätze zu untersuchen und im Erfolgsfall in den Werkzeugkasten ihrer Mittel und Methoden aufzunehmen – und tut dies auch. So erweitert sie täglich ihr Wissen und Können und erzielt immer mehr Erfolge, auch auf Gebieten, in denen das vor einigen Jahrzehnten noch unmöglich schien (siehe z. B. individualisierte Krebstherapie, Frühgeborenenversorgung). Sicherlich ist die Medizin nicht fehlerfrei, vor allem das Gesundheitssystem nicht, aber beide sind bestrebt sich kontinuierlich weiter zu entwickeln.

Auch die Behauptungen der „Alternativmedizin“ lassen sich überprüfen – real und pragmatisch an ihrer tatsächlichen Wirkung. Es lässt sich so herausfinden, was an ihren Aussagen dran ist – ob sie wahr sind oder falsch.

Wir haben heute die Instrumentarien und die Methoden, das zu tun und es ist für die allermeisten Methoden, die für sich in Anspruch nehmen, zur „Alternativmedizin“ zu zählen, längst unzählige Male geschehen. (Was den immer wieder zu hörenden Ruf nach „mehr Forschung“ im Bereich dieser Mittel und Methoden stark relativiert.) Heraus kommt fast immer das Gleiche: Die Methoden der Alternativmedizin funktionieren – allenfalls – zu selten und zu unzuverlässig, als dass man sie ruhigen Gewissens als wirksame Medizin ansehen könnte – und praktisch nie so, wie sie von ihren Befürwortern erklärt werden. Die Wirkung ist in aller Regel nicht mehr als das Gefühl, das in uns Menschen entsteht, wenn wir uns gut behandelt fühlen, wenn wir Hoffnung haben, wenn wir glauben, dass es uns durch die ergriffene Behandlungsmethode bald besser gehen wird – man nennt dies Kontexteffekte einer Behandlung, der Placebo-Effekt gehört dazu.

Der Kern der Sache ist also schlicht und einfach, dass die als „Alternativmedizin“ bezeichneten Mittel und Methoden mit dem leeren Getränkeglas auf unserem Tisch und nicht etwa mit einem andersfarbigen Paar Schuhe im Gegenbeispiel gleichzusetzen sind. Da sie keinen Wirkungsnachweis erbringen können, sind sie schlicht für das angestrebte Ziel, die wirkungsvolle Behandlung von Krankheiten, nicht geeignet. In dem Sinne ist die wissenschaftliche Medizin alternativlos – und der Begriff „Alternativmedizin“ ein Euphemismus.

Aber die Wissenschaft weiß und kann doch nicht alles!

Das behauptet auch kein Wissenschaftler, der diese Bezeichnung verdient und erst recht nicht „die Wissenschaft“. Die Tatsache, dass wir längst nicht alles wissen und können, ist ja der eigentliche Antrieb für weitere Forschung.

Wir dürfen einer Wissenschaft, die kleinste Details von Zellfunktionen erklären und krankheitsauslösende ebenso wie heilende Effekte auf molekularer Ebene beschreiben kann, aber durchaus zutrauen, ein Urteil über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit einer bestimmten Methode oder eines bestimmten Mittels abzugeben. Tun wir das nicht, laufen wir blind in eine Beliebigkeitsfalle, verfallen wir in einen irrationalen Angstglauben, der uns alle lähmen und uns statt nach vorn wieder zurück in die Vergangenheit führen würde. Und zwar nicht nur in der Medizin.

Und um den nächsten Einwand gleich vorwegzunehmen, nein, „die Wissenschaft“ unterdrückt „die Alternativmedizin“ nicht (erst recht nicht aus unlauteren Motiven). Ich habe solche Dinge, zwar früher auch so gesagt (weil „alle“ sie sagten), aber es ist schlicht Unsinn. Und es würde immerhin die größte Verschwörung aller Zeiten voraussetzen – gegen die Chemtrails, die 9/11-Geschichten und die Flache-Erde-Theorie zusammengenommen eine Kleinigkeit wären. Ich bin heute davon überzeugt, dass dieses „Argument“ nur dazu dient, sich nicht mit der berechtigten Kritik an der „Alternativmedizin“ auseinandersetzen zu müssen.

Und nein, damit will ich nicht Unzulänglichkeiten und Mängel in der wissenschaftlichen Medizin leugnen. Davon gibt es mehr als genug, das ist auch ein Thema für sich das mich sehr bewegt und das einen wichtigen Teil meines Buches „Gesundheit – ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen“ ausmacht. Aber gerade die ständige Debatte über die Alternativmedizin verstellt den Blick darauf, auf welche Weise wir die Medizin und unser Gesundheitssystem insgesamt weiter verbessern können.

Was bedeutet das praktisch?

Oft wird das ganze Problem ja damit abgetan, dass man sagt, naja, wenn Menschen eben auch so gesund werden und außerdem auch auf unnötige Medikamente verzichten, ist doch alles gut („Wer heilt, hat Recht“). Wobei man natürlich auf unnötige Medikamente immer verzichten kann und soll, nicht nur wenn „Alternativmedizin“ glaubt, an ihre Stelle treten zu können.

Wenn wir aber tatsächlich eine wirksame Therapie unterlassen, also nicht etwa eine medizinisch vertretbare Alternative wählen (z. B. Medikation statt Operation), sondern die eigentliche Behandlungsoption unterlassen oder verzögern, dann haben wir ein Problem. Denn es werden Menschenleben gefährdet, Krankheiten verschleppt, Schmerzen unnötig ertragen oder Prophylaxen versäumt, die für uns alle wichtig sind. Menschen werden in die Irre geführt, bekommen falsche Hoffnungen und werden manchmal richtiggehend betrogen. Das möchte ich nicht! Genau deshalb spreche ich heute auch lieber von „Pseudomedizin“. Sie tut so, als wäre sie Medizin, tritt mit dem Anspruch auf, als wäre sie eine Alternative, sie ist aber in Wirklichkeit das leere Wasserglas – selbst wenn man den Placebo-Effekt mit einrechnet. Denn der kommt auch bei nachgewiesen wirksamen Therapien als „Add-on“ zur spezifischen Wirksamkeit dazu und ist nicht von der „Alternativmedizin“ gepachtet.

Wissen versus Beliebigkeit

Es gibt heute recht harte Standards in der Medizin, es gibt sich weiter entwickelnde Instrumentarien des Überprüfens und es gibt dann eine Grundlage für eine Bewertung (wirkt/wirkt nicht/kann nicht wirken). Was es nicht gibt (oder nicht mehr geben sollte!): Beliebigkeit. Denn das wäre der Einzug der reinen Fantasie in die Welt der Fakten. Das kann gern anderen Bereichen überlassen bleiben, beispielsweise Fantasy-Buchautoren oder Filmemachern. Wo es aber um das Wohl und Wehe von Menschen geht, haben Beliebigkeit, „könnte doch sein“, „noch nicht bewiesen“ und dergleichen nichts zu suchen.

Hier nähern wir uns offenbar der Ursache dessen, dass es so viele Menschen, die eigentlich gar nicht im Thema sind, so offensichtlich aufbringt, wenn sie auf Kritik an „Alternativmedizin“ stoßen. Nämlich, dass einer scheinbaren persönlichen Freiheit, einem unreflektierten Meinungspluralismus Grenzen gesetzt werden. Dass offen ausgesprochen wird, dass nicht alles möglich ist und nicht alles toleriert werden muss, nur weil jemand sich im Recht fühlt und man glaubt, jeder anderen Meinung unbedingt „Respekt“ zollen zu müssen.

Wo wir beim Wetterbericht ganz klar darauf bestehen, dass er sich an Fakten und Wahrscheinlichkeiten orientieren möge, da geben wir das gerade bei der Medizin – einem Gebiet, das doch ungleich wichtiger ist – kritiklos auf? Für eine vermeintliche Toleranz, ohne genaues Hintergrundwissen und mit einem ebenso wenig begründbaren wie dumpfen Misstrauen gegen Expertenwissen?

Aber die Meinungsfreiheit ist doch auch ein hohes Gut

Natürlich darf jeder seine Meinung dazu haben. Aber geht es hier überhaupt um „Meinung“? Wenn es harte Fakten gibt und meine persönliche Meinung denen entgegensteht – was ist die Meinung dann noch wert? Sie verhilft mir persönlich allenfalls zu einem falschen Überlegenheitsgefühl. Sie kann aber weder Allgemeingültigkeit noch Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen und ist deshalb auch für den Inhaber der Meinung selbst wertlos und unter Umständen schädlich.

Das Scheitern der Wirksamkeitsbehauptung alternativmedizinischer Mittel und Methoden an wissenschaftlichen Nachweiskriterien ist ein solcher Fakt. Was geschieht aber angesichts dessen? Die Anbieter alternativmedizinischer Methoden (egal, ob Ärzte oder Heilpraktiker) scheren sich wenig darum und stellen unbeirrt viele Behauptungen auf, die sie nicht belegen können (z. B. es gäbe eine geistige Lebenskraft; bei der Potenzierung passiere mehr als eine Verdünnung; Wasser habe ein Gedächtnis; es gäbe „Energie“ in „Meridianen“) oder die objektiv falsch sind (z. B. es gäbe ganz viele eindeutig positive Studien zur Akupunktur oder auch zur Homöopathie; Ansätze der Alternativmedizin könnten in Studien sowieso nicht geprüft werden; wenn  ihre Methode doch so vielen Menschen helfe, dann müsse sie doch wirksam sein; die Wissenschaft und BigPharma seien einfach nur gegen die Erfolge der Alternativmedizin; Kritiker sind doch bloß neidisch…). Mit diesem Unterbau wird das positive Image der „alternativen Medizin“ am Leben erhalten und werden Meinung und Fakten fälschlicherweise gleichgestellt.

Beliebtes Image

Viele Menschen, die der „Alternativmedizin“ grundsätzlich wohlwollend gegenüberstehen, wissen einfach gar nicht so genau Bescheid über deren Methoden und ihre Hintergründe. Man glaubt an sie, weil man gute Erfahrungen damit gemacht hat (Konditionierung), weil es andere Eltern ja auch machen (falscher Autoritätsglaube), weil die Homöopathin einfach netter ist als die Hausärztin und mehr Zeit hat (Prinzip des bequemsten Weges), man mag das Gefühl, selbst entscheiden und handeln zu können (falsch verstandene persönliche Freiheit), man hat Angst vor den Behandlungen und Nebenwirkungen der normalen Medizin (menschlich, aber falsch), man hat die Ausbildung als Therapeut nun mal absolviert und kann sie gut abrechnen (Pragmatismus), etc.. Die Begriffe „sanft“ und „natürlich“ tragen zum positiven Image bei, das – oh Wunder – durch die die Alternativ-Produkte verkaufende Pharmaindustrie (zum Beispiel Homöopathie-Hersteller) blumig befördert wird. Ist man dann noch enttäuscht von der normalen Medizin (was ich teilweise verstehen kann), wendet man sich gerne an vermeintliche Alternativen. Wobei nach meiner Beobachtung eine solche „Enttäuschung“ oft gar nicht auf eigener Erfahrung beruht, sondern auf der unkritischen Aufnahme umlaufender „urbaner Legenden“ und „allgemeiner Ansichten“. Immerhin hat eine aktuelle europaweite Erhebung zur Patientenzufriedenheit mit Hausärzten erbracht, dass 95 Prozent der deutschen Patienten mit ihrem Hausarzt so zufrieden sind, dass sie ihn weiterempfehlen würden. Das sollte auch einmal zu denken geben.

Lösungswege für eine bessere Medizin

Es gibt nur einen sinnvollen Weg zum Ziel einer vernunftbetonen und gleichzeitig empathischen Gesundheitskompetenz, und der ist nicht die Neigung zur „Alternativmedizin“. Sondern: Information und Aufklärung und eine gemeinsame Verbesserung unseres Gesundheitswesens. Es geht nicht um irgendwelche Verbote, auch nicht um Bevormundung. Ganz im Gegenteil: Selbst- und Mitbestimmung von Patienten sind heute in der Medizin wichtiger denn je. Um aber vernünftig selbst- und mitbestimmen und um sich selbst gegenüber Verantwortung übernehmen zu können, ist Information nötig, kein Glaube an nicht vorhandene Alternativen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Menschen aufgeklärt werden wollen, dass Sie aufgeklärt werden wollen, dass Sie wissen wollen, was es mit Homöopathie, Akupunktur, TCM und Co. wirklich auf sich hat.

Es ist allerdings nicht so einfach, diese Hoffnung nicht aufzugeben. Kritikern wie mir wird persönliches Versagen und fehlendes Wissen unterstellt oder die falsche Schule, der falsche Lehrer, zu wenig praktische Erfahrung nachgesagt – der Vorwurf fehlender Offenheit und Unvoreingenommenheit, das angebliche „zu enge Denken“ kommt meist dazu. Das finde ich schade. Schade und unfair. Denn es geht und ging mir nicht um Gegnerschaft an sich und um jeden Preis. Ich möchte mit Gleichgesinnten zusammen deutlich machen, wie wir auf eine falsche oder einfach unüberlegte Darstellung von angeblichen Alternativen hereinfallen. Weil das in der Medizin besonders verhängnisvoll sein kann, setze ich mich für entsprechende Aufklärung ein, auch aus der eigenen Erfahrung heraus, früher selbst auf diesen Leim gegangen zu sein.

Nein, nicht alles Denkbare ist auch möglich (dafür gibt es den schönen Ausdruck Luftschlösser) und auch wenn wir heute nicht alles wissen, über die Alternativmedizin und die Methoden ihrer Verbreitung wissen wir heute genug, um urteilen zu können. Und es ist – wie ich meine – geradezu eine ethische Pflicht, auch über diese Dinge öffentlich zu sprechen, um Schaden abzuwenden. Nicht um Menschen zu bevormunden oder um reiner Besserwisserei wegen. Auch um den Weg in die Moderne, eine nachhaltige Zukunft offen zu halten und einer falschen Rückwärtsgewandtheit – weit über die Medizin hinaus- die Stirn zu bieten.


PS: Wenn Sie positive Erfahrungen mit der Alternativmedizin gemacht haben und mir jetzt vielleicht böse sind: Ihre Erfahrungen sind Gold wert. Nur sie erklären sich anders, als Sie bisher vielleicht angenommen haben (Siehe Artikel „Wir sehen ein Phänomen“).


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Die Medizin ist krank – und die Homöopathie ist ihr Symptom

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Ein Beitrag von Dr. Natalie Grams

Wann immer ich mich gegen die Homöopathie positioniere, wird die Frage gestellt, ob ich denn nicht auch mal kritisch auf die Medizin schauen könnte. Oder es wird mir unterstellt, dass ich nur zu sehr vom Pharma-Geld geblendet sei, um zu erkennen, dass in der Medizin auch vieles falsch läuft. Ich kann Sie beruhigen, dass das nicht der Fall ist. In meinem (Achtung Werbung!) neuen Buch geht es genau um diese Dinge. Aber da es noch ein bisschen dauert, bis es herauskommt, möchte ich mich heute hier ein wenig mit dem Problem der Medizin befassen. Und zwar mit einem speziellen Teilproblem: der defensiven Medizin.

Getrieben durch die Angst Fehler zu machen und falsche Entscheidungen zu treffen, neigen mehr und mehr Ärzte dazu (in den USA ist das noch viel schlimmer) noch eine Untersuchung, noch ein CT, noch ein Röntgenbild, noch eine Expertenmeinung zu empfehlen – zur Absicherung. Damit bringen sie einerseits die Patienten um eine gute Behandlung und verursachen zudem steigende Kosten im Gesundheitswesen, die wir alle tragen müssen.

Woher kommt diese Strömung? Die ärztliche Behandlung soll in erster Linie zu Verbesserungen des Gesundheitszustandes unserer Patienten führen und im besten Fall zur Verlängerung ihres Lebens. Doch jede auch noch so sorgfältige und leitliniengerechte medizinische Behandlung ist mit Risiken für verbunden. Die Nebenwirkungen ärztlicher Behandlung zählen zu den häufigen Ursachen für Beschwerden und sogar zu den häufigen Todesursachen (2).

Ärzte unterliegen heute vielfacher Kontrolle und die Klagebereitschaft von Patienten nimmt zu. Dazu kommt die Budgetierung, die zur privaten Haftung des Arztes für die Ausgaben für die von ihm verschriebenen Medikamente führt. Angst vor dem Regress, vor Kunstfehlerprozessen und vor dem Scheitern von unrealistischen Erwartungen von Patienten führen zu defensivem Verhalten seitens der Ärzte. Negative Medienberichte über falsche Behandlungen prägen zunehmend das Bild der Medizin und das ärztliche Denken. Bürokratische Dokumentationsvorschriften, Qualitätsmanagement, Weiterbildungsvorschriften, Leitlinien und genereller Kostendruck führen zu einer zunehmenden Regulierung und Einengung ärztlichen Handelns (1).

Der Arzt kann es also eigentlich nur falsch machen. Und sichert sich ab – indem er weitere Untersuchungen einholt, die eigentlich nicht nötig wären und indem er keine Entscheidungen trifft. Das Einholen weiterer Untersuchungen spart zudem vermeintlich Zeit – man muss nur eine Überweisung ausstellen.
Der Patient, der dies oft nicht überblicken kann, steht im schlimmsten Fall am Ende mit einer dick gefüllten Befundmappe, drei Zusatzbefunden, die ihm eigentlich keine Beschwerden machen (die aber auch weiter abgeklärt werden können) und einem irgendwie ratlosen oder nicht erreichbaren Arzt da. Toll!

Aus meiner Homöopathie-Zeit erinnere ich mich dann an die langen Anamnese-Gespräche, die es mir ermöglichten, mit dem Patienten gemeinsam abzuklopfen, worin das Problem besteht und wie eine gemeinsam gut gangbare Lösung aussehen könnte. Manchmal sind die Rückenschmerzen mit Yoga-Übungen zu behandeln und erfordern kein drittes Re-CT. Beim chronischen Husten ohne physiologisches Korrelat hilft Zuspruch, Thymian-Tee und gemeinsames Durchhalten eventuell besser als eine vorschnelle Bronchoskopie oder Medikamente mit möglichen Nebenwirkungen. Bei Infektanfälligkeit können eine Ernährungsumstellung und ein Sportprogramm eher hilfreich sein als zig Blutuntersuchungen. Und manchmal erledigen sich die Beschwerden, nachdem man sich einmal darüber ausgesprochen hat, auch von alleine.

Nur über die Alternativmedizin abzulästern und sie „abschaffen“ zu wollen, ist die eine Sache, für eine menschlichere, gute medizinische Versorgung im Alltag zu sorgen, die andere. Als Homöopathin konnte ich meinen Patienten Zeit schenken, ich konnte in Gesprächen Ängste nehmen, Diagnosen erklären, in Ruhe verschiedene Therapiemöglichkeiten aufzeigen, beraten und begleiten oder erarbeiten, welche Möglichkeiten ein Patient selbst hat. Lässt man das Globuli-Verschreiben weg, dann sind diese Punkte wertvoll, solange sie sich am modernen medizinischen Kenntnisstand orientieren. Leider ist mir heute bewusst, dass hier leichtes Spiel für alle möglichen Ideologien oder patriarchalisches Gurutum besteht. Deshalb wäre es um so wichtiger, dass normale Hausärzte diese Gespräche wieder leisten können, wieder bezahlt bekommen und ihren Patienten anbieten können. Bevor diese sich anderswo Hilfe suchen. Und bevor unnötige Untersuchungen für Verwirrung statt für Aufklärung sorgen und uns alle unser Geld kosten.

Das ist vielleicht mein größter Kritikpunkt an der normalen Medizin: Sie mag über großes Wissen und über Wissenschaftlichkeit verfügen – aber sie kommt damit beim Patienten, beim Menschen in Not, nicht wirklich an. „Schulmedizin“ wird sie genannt – abfällig und abwertend. Darüber kann man sich aufregen. Man kann darin aber auch einen Anlass sehen, sich an die eigene Nase zu fassen. Was bieten wir unseren Patienten in der normalen Medizin? Wissen. Studien. Wirksamkeit. Evidenz. Mehr Untersuchungen und gute Medikamente. Aber bieten wir ihnen auch die menschliche Behandlung, nach der sie sich sehnen? Ich meine, leider viel zu selten. Und damit macht die normale Medizin sich schuldig. Nicht in einem moralischen Sinne, aber in einem verursachenden. Sie ist selbst mit schuld daran, dass ihre Patienten sich überhaupt nach einer Alternative sehnen. Einer Alternative, bei der sie in Kauf nehmen, dass nicht gute Diagnostik und Wirksamkeit an erster Stelle steht, sondern (vermeintlich) menschliche Zuwendung.

(1)         http://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/200994 und http://www.neuro24.de/show_glossar.php?id=378

(2)         http://www.3sat.de/page/?source=/nano/medizin/180931/index.html


Bild: Fotolia #126018794 | Von: ladysuzi

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