Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

Schlagwort: Heilpraktikerproblematik

Heilpraktikerdebatte: Über Wälder und ihr Echo

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Eigenes Bild / privat

Der Blätterwald -auch der virtuelle im Netz- rauscht gewaltig. Da hat doch wahrhaftig eine interdisziplinäre Expertengruppe, der „Münsteraner Kreis“, es gewagt, deutlich zu artikulieren, was längst unter Kennern der Problematik unbestritten ist: Der Stand der Heilpraktiker, ja das ganze Heilpraktikerwesen in Deutschland, bedarf entweder ganz grundlegender Reformen oder der völligen Abschaffung. Schlimm genug, dass der Gesetzgeber auf diese Art und Weise mit der Nase auf das Problem gestoßen werden muss, nachdem er sich im vorigen Jahr -wo alle heute angesprochenen Probleme längst auf dem Tisch lagen- nur zu einem Mikroreförmchen allenfalls homöopathischen Ausmaßes durchringen konnte.

Die Argumente des Memorandums sind durchgreifend, hinlänglich bekannt und sind auch bisher im Diskurs nie widerlegt worden. Im Kern geht es darum, dass der Gesetzgeber durch seine Duldung des Heilpraktikerstandes aufgrund einer Gesetzeslage von 1939 imaginiert (besser: der nicht informierten Bevölkerung suggeriert), dass es neben der wissenschaftlich fundierten Medizin eine zweite gibt, in der auch noch Beliebigkeiten geduldet werden, die man keinem approbierten Mediziner durchgehen lassen würde. Der von mir immer gern zitierte Prof. Otto Prokop, der Übervater der deutschen Gerichtsmedizin, meinte schon vor Jahrzehnten zu einer solchen Situation, dass eine derartige imaginierte Zweiteilung der Medizin nur eines verdeutliche: Dass dem Staat, der so etwas zulässt, die Gesundheit seiner Bürger offenbar einigermaßen egal sein muss. (1).

Nun kann mal all die Argumente derzeit überall nachlesen, ich empfehle vorzugsweise das Münsteraner Memorandum im Original – es gibt ja auch eine Kurzfassung. Ich sehe davon ab, dies alles hier im Detail zu wiederholen.


Vielmehr möchte ich etwas ganz Anderes anführen, das eigentlich mit größter Deutlichkeit zeigt, welchen kranken Nerv der Münsteraner Kreis und seine Unterstützer getroffen haben. Dieses Andere besteht in der überwiegenden Reaktion der Heilpraktikerszene und ihres Dunstkreises.

Wissen Sie, liebe Leserinnen und Leser, was man unter whataboutism versteht? Das ist der ebenso beliebte wie untaugliche Versuch, sich an einer argumentativen Auseinandersetzung vorbeizudrücken, indem man auf -angebliche oder tatsächliche- Unzulänglichkeiten der Gegenseite verweist. In der populären Formulierung nennt man diese Art der Frontlinienbefestigung auch die „Haltet den Dieb“-Strategie.

Ich kann mich nach vieler Lektüre des Eindrucks nicht erwehren, dass genau dies eine der Strategien ist, mit denen die Welt der Heilpraktiker versucht, Boden gut zu machen. Vergeblich – im Grunde erzeugt sie damit nur verbrannte Erde auf dem eigenen Terrain. Denn:

Niemand, weder die Angehörigen des Münsteraner Kreises noch sonst ein ernstzunehmender Kritiker pseudomedizinischer Methoden und Institutionen, bestreitet Mängel und Unzulänglichkeiten im Gesundheitswesen. Nur ist eben das Heilpraktikerwesen nach derzeitigem Stand selbst eines der ganz großen Probleme eben dieses Gesundheitswesens, denn es trägt unwissenschaftliche Beliebigkeit in einen Bereich, den alle Industriestaaten inzwischen als geschützten Raum für die wissenschaftlich orientierte Medizin etabliert haben. Dass die Kritik der Heilpraktikerszene am Münsteraner Memorandum erst recht deutlich macht, wie sehr an der Illusion einer „zweiten Medizin“ festgehalten werden soll, scheint den Apologeten völlig entgangen zu sein.

Die Forderungen des Münsteraner Kreises sind ein Teil der Bemühungen um eine bessere Medizin insgesamt: Konsequente Orientierung auf evidenzbasierte Medizin, sinnvolle Bündelung von Ressourcen, Setzen richtiger Anreize für alle Beteiligten, nachhaltige Stabilisierung und damit Zukunftssicherung des Gesundheitssystems – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Dass diesen Zielsetzungen die Tolerierung einer “zweiten” neben der wissenschaftlichen Medizin -nämlich der alternativ-komplementären Scheinwelt, die vorzugsweise die Heilpraktiker pflegen- diametral entgegensteht, führt jeden Kritiker des Gesundheitswesens zwangsläufig zur Heilpraktikerproblematik.

Kritik am Heilpraktikerwesen ist daher kein Selbstzweck, sondern legitimer und notwendiger Teil eines Eintretens für ein sinnvolles und vernunftgegründetes Gesundheitswesen insgesamt. Daran lässt die Selbsterklärung des Münsteraner Kreises nicht den geringsten Zweifel – das „Memorandum Heilpraktiker“ ist nur ein erstes, besonders dringliches Projekt.

Das whataboutism-Geschrei der Heilpraktiker-Apologeten richtet sich deshalb im Ergebnis nur gegen sie selbst. Reformbedarf im wissenschaftsbasierten Gesundheitssystem, insbesondere auf dem Gebiet der politischen Rahmenbedingungen, ist unbestritten. Und ich wage mich einmal so weit vor, zu behaupten, dass die Mitglieder des Münsteraner Kreises weitaus bessere Kenner der dort bestehenden Defizite sind als die Vertreter der Heilpraktikerszene. Nicht nur in diesem Zusammenhang ist das Interview mit Dr. Christian Weymayr vom Münsteraner Kreis beim Portal DocCheck wichtig und bemerkenswert.

Deshalb spreche ich dieser Szene nicht nur das moralische Recht, sondern auch die fachliche Kompetenz ab, über die Mängel im Bereich der wissenschaftsbasierten Medizin zu urteilen. Was durch stets wiederholte unqualifizierte Aussagen wie „die Chemotherapie bringt mehr Menschen um als sie heilt“ (Antwort hier) oder „tausende Tote jedes Jahr durch ärztliche Kunstfehler“ (Antwort hier) nur bestätigt wird.


Die zweite „Strategie“ -wenn man das höflicherweise einmal so nennen will- scheint schlicht die Diffamierung der Kritiker in einer im öffentlichen Diskurs selten erlebten Qualität zu sein.

So kann man beispielsweise vernehmen, das Münsteraner Memorandum sei ein „ärgerliches Pamphlet über den Beruf des Heilpraktikers“, es würden „wenige Zitate aus dem Thesenpapier des Münsteraner Kreises reichen, um zu zeigen, worum es geht: um einen Frontalangriff auf den Heilpraktikerberuf.“ Im Verlaufe des gleichen Beitrags wird dann den Autoren des Memorandums „Arroganz“ bescheinigt und -während gleichzeitig ein bestürzendes Unwissen über die Grundsätze evidenzbasierter Medizin erkennbar wird- lauthals an zwei Einzelbeispielen (!) zudem etwas abseitiger Art whataboutism in Reinkultur betrieben. Dass die Kommentare (nicht nur) dort auf Dinge wie die Banerji-Protokolle, den Narayana-Verlag oder auch den Kopp-Verlag Bezug nehmen, möchte ich zwar nicht dem Autor in Rechnung stellen, zeigt aber das Niveau der Debatte.

Beispiele aus den Beiträgen und Kommentarspalten der Print- und Onlinemedien in dieser Art gibt es zuhauf. Da wird gar von „ekelhafter Lobby-Aktivität, um den Heilpraktikerberuf auszurotten“ geredet und den Initiatoren des Münsteraner Kreises bar jedes weiteren „Arguments“ pekuniäres Interesse unterstellt. Was eigentlich nur noch zum Gähnen ist und eine der untersten gerade noch herausziehbaren Schubladen… Was ist das für eine Debattenkultur, wo man sich das Vertreten einer Meinung nur vor dem Hintergrund einer handfesten Interessenlage und nicht um der Sache selbst willen vorstellen kann? Ferner wird postuliert, das Memorandum „wimmele von Fehlern“, ohne einen Sachbeleg für irgendeinen Punkt beizubringen.

Den Vogel abgeschossen haben dürfte aber der geschäftsführende Vorstand des Dachverbands Deutscher Heilpraktiker, einem beim Bundestag registrierten Lobbyverband (Nr. 747 der aktuellen Liste) mit Hausausweis für den jederzeitigen Zutritt (Nr. 208 der Liste), dem in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung nicht mehr einfällt, als dass es der Expertengruppe “ausschließlich” darum gehe, “unliebsame Konkurrenz loszuwerden”.

Gemäßigte Stimmen auch aus der Szene leugne ich nicht, wenn sie sich auch schon einmal in der Empfehlung verdichten, „nicht gleich zurückzuschlagen“. Ich konstatiere aber die weitgehende Abwesenheit eines sachlichen Diskurses insbesondere bei den Proponenten der Heilpraktikerszene und damit die Widerlegung des alten Naturgesetzes, dass es in den Wald so herausschallt, wie man hineingerufen hat.

Und ich bitte, den vielleicht hier und da etwas sarkastischen Ton dieses Beitrages nicht misszuverstehen. Ich bin weit davon entfernt, mich über die Causa oder irgendwelche Proponenten lustig zu machen. Es ist reine Verzweiflung und auch Enttäuschung, über eine Situation, wo ein dringend notwendiger öffentlicher Diskurs angestoßen und de facto von der anderen Seite verweigert wird.

Und nein, ich verkenne nicht, dass die jetzt angestoßene Debatte für viele der Beteiligten eine existenzielle Bedeutung haben mag oder zumindest ein Weltbild erschüttert. Das macht die allfällige Debatte aber nicht überflüssig. Die Schuld daran, dass sich durch jahrzehntelanges Nichtstun Vieles verfestigt hat und nun als Besitzstand angesehen wird, tragen nicht die jetzigen Kritiker. Es sei mir auch die Anmerkung erlaubt, dass meine ausländischen Freunde in der Regel geradezu entsetzt sind, wenn ich ihnen von den Bedingungen berichte, unter denen hier nicht akademisch ausgebildete und nicht nach strengen Regeln approbierte „Ausübende der Heilkunde“ Menschen behandeln dürfen. Und nicht zuletzt beklage ich den katastrophalen Wissensstand der breiten Bevölkerung über Themen wie das hier in Rede stehende, was nicht nur ständige Aufklärung erfordert, sondern auch und vor allem eine klare Positionierung der Politik.


Abschließend aber doch noch eine kleine Relativierung:

Einige Stimmen weisen zu Recht darauf hin, dass viele Heilpraktiker mit ehrlicher Empathie und dem Willen, den Patienten zu helfen, zu Werke gehen. Dass es wohlmeinende und engagierte Heilpraktiker gibt, unbestritten, ich kann dies aus eigener Kenntnis bestätigen. Was aber nützt das, wenn sich dieses Wohlmeinen und Engagement an sinnlosen, weil unwirksamen Methoden und Mitteln erschöpft?

Nur mit gutem Willen ist nun mal kein Staat und auch keine gute Medizin zu machen. Selbst die Tatsache, dass einzelne Heilpraktiker durch ihre Vorbildung in gesundheitlichen Berufen durchaus eine gewisse Qualifizierung besitzen, kann das Grundsatzproblem auch nur relativieren. Diese Personen könnten allerdings in einer vom Münsteraner Kreis ja auch angesprochenen Qualifikationslösung einen guten Platz finden.

Ich hoffe trotz alledem, dass es zu einer sachlichen Debatte auf der politischen Ebene kommen wird. Wichtiger wäre sie mehr als je zuvor, gerade, wenn der zivilgesellschaftliche Diskurs scheitert.


(1) Prokop, O. u. Prokop, L.: Homöopathie und Wissenschaft, Stuttgart 1957


Dieser Beitrag erschien außerdem in Co-Autorschaft mit Dr. Natalie Grams beim Portal DocCheck (unter einem von der dortigen Redaktion ausgewählten anderen Titel, sei ausdrücklich angemerkt).

Von Freiheit und Wahrheit – noch einmal zur Heilpraktikerdiskussion

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
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Liebe Leserin, lieber Leser,

schon wieder, werden Sie vielleicht sagen. Ja, schon wieder ein Beitrag zum Heilpraktiker-Thema, das ist viel – und soll keinesfalls die Regel werden. Trotzdem bitte ich um Ihr geneigtes Interesse, denn das Thema ist hochaktuell und es scheint mir wenig sinnvoll, mit wichtigen Gedanken zuzuwarten und derweil das Terrain freizugeben. Man muss das Eisen nun mal schmieden, so lange es heiß ist.

Freiheit?

Bei der Diskussion über Alternativmedizin -sei es zu Mitteln und Methoden, sei es zu den Praktizierenden- kommt immer wieder eine Strategie der Kritisierten zum Vorschein, die sich gegenüber mit dem Hinweis auf die freie Entscheidung des Patienten, mit der Berufung auf Therapiefreiheit und mit einem scheinbaren Anspruch, vor staatlichen Eingriffen geschützt zu sein, verteidigen will. Mal erscheint dies eher subtil, indem den Kritikern unterstellt wird, sie wollten etwas „verbieten“, manchmal erscheint es ganz handfest, so wenn der „mündige Patient“ ins Feld geführt wird, auf den allein es ankäme. Letztlich eingefordert wird eine Art Anspruch darauf, dass der Staat den status quo schütze und Veränderungen den Hauch des Paternalistisch-Anmaßenden hätten.

All das verdient wegen der Bedeutung der Debatte eine differenzierte Betrachtung, denn es berührt das allgemeine Verständnis von persönlicher Freiheit und von dem, was staatliche Eingriffe rechtfertigt.

Um es gleich vorauszuschicken – ich stehe einem staatlichen Paternalismus ablehnend gegenüber, der entscheiden will, was „gut“ für die Menschen ist, wie mehr oder weniger offen oder subtil dies auch immer geschehe.

Aber: Sehr wohl ist der Staat berechtigt, ja verpflichtet, einzugreifen, wenn etwas „schlecht“ für seine Bürger ist. Sicher ein weites Feld, das viele Schattierungen aufweist, der hier interessierende Aspekt ist aber die Garantie körperlicher Unversehrtheit und der Schutz des Lebens, höchste, der Menschenwürde zugehörige Grundrechte. Die auf dem Gedanken des „Gesellschaftsvertrags“ beruhende Staatsrechtslehre sieht in der Schutzgarantie für Leib und Leben eine der Grundlagen staatlicher Legitimation überhaupt.

Zweifellos kann auch das nicht unbeschränkt gelten, will man das ebenfalls hohe Gut der individuellen Freiheit ebenso bewahren. Die Rechtsprechung hat für die Grenze, bis zu der staatliche Schutzregelungen legitim und erforderlich sind, den Begriff des „Gemeinwohlanliegens“ entwickelt. Will sagen: Je allgemeiner der Umfang des Problems ist, desto mehr rechtfertigt sich staatliches Eingreifen.

Gehen wir von dieser Grundprämisse aus und fragen uns, mit welchem Recht die Vertreter der Alternativmedizin, allen voran die Homöopathen und die Heilpraktiker, sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Patienten, auf ihre Therapiefreiheit und dergleichen berufen und damit Schutz für den status quo beanspruchen, indem sie einen vorgeblichen Paternalismus beschwören.

Es zeigt sich: Sie tun das von einer falschen Perspektive aus. Ein Handeln des Staates, um das Gesundheitswesen auf eine wissenschaftliche Basis (eine Selbstverständlichkeit!) zurückzuführen, wäre durchaus kein Paternalismus im Sinne einer „Hinführung zum Guten“. Es wäre richtig betrachtet nicht einmal ein Schutzeingriff. Denn es würde lediglich um die Korrektur der Schieflage gehen, die der Gesetzgeber in der Vergangenheit selbst verursacht hat. Die Politik ist hier nicht nur sachlich, sondern auch moralisch in der Pflicht. Denn sie hat mit dem Schein des gesetzgeberischen Segens dafür gesorgt, dass Methoden wie Homöopathie (durch den Binnenkonsens) ebenso soziale Reputation genießen wie der Stand der Heilpraktiker (durch die Duldung des Heilpraktikergesetzes aus dem Jahre 1939).

Das ist das Mindeste, was geboten ist. Ob darüber hinaus konkrete Schutzregelungen für den gesundheitlichen Bereich getroffen werden sollten, wäre Gegenstand weiterer Diskussion. Ich verhehle nicht, dass ich dies für dringend notwendig halte.

Wir leben im 21. Jahrhundert. Die Welt ist zu fragil und zu komplex für eine öffentliche Duldung von Irrationalität. Denn nichts anderes ist es, wenn einerseits Ärzten eine wissenschaftsbasierte Ausbildung mit vielen Befähigungsprüfungen abverlangt wird, die im Schnitt länger als zehn Jahre dauert, und andererseits Menschen per Gesetz das Prädikat eines „Ausübenden der Heilkunde“ zuerkannt und diesen damit Tür und Tor für praktisch beliebige „Behandlungen“ von Menschen öffnet. Von der Integration unwirksamer Methoden in das öffentliche Gesundheitswesen gar nicht zu reden. Dies sind aus staatlicher Sicht ebenso Fehlleistungen, die zu korrigieren sind.

Die Schutzschilde, die derzeit in der Heilpraktikerdebatte mit dem Argument der Entscheidungsfreiheit des Patienten, der Therapiefreiheit des Therapeuten und dergleichen mehr aufgebaut werden und mit denen im Grunde dem Staat ein Handlungsrecht verwehrt werden soll, sind deshalb eine Schimäre.

Wahrheit?

Es gibt noch eine weitere Perspektive, die untrennbar zu diesem Thema gehört, weil sie sich nicht mit dem formalen, sondern dem inhaltlichen Aspekt des Themas beschäftigt. Wir kommen von der richtig verstandenen Freiheit zur richtig verstandenen Wahrheit. Beides ist für rationale Entscheidungen, auch und gerade im gesetzgeberischen Bereich, grundlegend.

Greifen wir nochmals den eben erwähnten Gesichtspunkt auf, dass die Welt zu komplex ist, als dass wir uns ein Abgleiten in Irrationalität leisten könnten. Objektivität und Nachvollziehbarkeit sind die Grundlagen dessen, was mit dem Begriff „Wahrheitssuche“ redlicherweise assoziiert wird. Keine wilden Spekulationen, kein Wunschdenken, keine Vermutungen, keine Behauptungen, bis hin zur Behauptung, die Behauptung sei gar keine Behauptung, haben etwas mit dem Wahrheitsbegriff zu tun. Diese Linie menschlicher Grundeinsicht zieht sich von Platon und Aristoteles über Francis Bacon, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis in die Neuzeit mit Persönlichkeiten wie Bertrand Russell, Karl Raimund Popper und Hans Albert. Wo ist der Beweis? Diese einfache Frage ist der Schlüssel.

Die pseudomedizinische Szene appelliert im Zweifel aber nicht an Beweise, die diskreditiert sie lieber, sondern an Gefühle und an erratisch in den Raum gestellte Behauptungen. Wollen wir aber in einer Gesellschaft leben, in der Gefühle und Behauptungen als Beweis für etwas ausreichen sollen? Was ist dann „Wahrheit“? Wohin gelangen wir damit?

Ein Beispiel, sinnigerweise gerade hier bei uns viel kritisiert, liefert uns der amerikanische Präsident. Sinngemäß hat er so etwas schon oft geäußert, das Time Magazine liefert uns ein wörtliches Zitat: „Ich bin eine sehr instinktive Person. Aber es stellt sich heraus: Meine Instinkte sind richtig.“ Nun ja. Beispielsweise sagt ihm sein Instinkt klar und unbezweifelbar, dass Mehrfachimpfungen Autismus auslösen. Sein Gefühl sagt ihm, was richtig und wahr ist, ohne eine Spur von Selbstzweifel. Keine Chance für wissenschaftliche Fakten. Die gelten einfach nicht. Dazu kommt, die Zeit arbeitet unter solchen Bedingungen gegen die Wahrheit. Es ist belegt: Je öfter man eine Behauptung hört oder liest, desto eher wird sie für wahr gehalten. Dieser Effekt ist sehr mächtig und wird meiner Ansicht nach weit unterschätzt. Weiter oben gibt es ein Beispiel: Die Verankerung sozialer Reputation durch den „Segen des Gesetzgebers“ für haltlose Mittel und Methoden.

Nun bin ich der Letzte, der einen Begriff wie den der vollständigen Wahrheit im Sinne von unumstößlicher Gewissheit vertritt. Wissenschaft ist systematische Annäherung an eine „Wahrheit“, nicht mehr. Aber: Der jeweilige Stand der Wissenschaft ist nun einmal der höchste Grad von Wahrheit, über den wir verfügen. Die wissenschaftliche Methode des Verwerfens von Irrtümern und das Integrieren neuer und besserer Erkenntnisse garantiert zudem im Grundsatz dafür, dass die Erkenntnis nicht wieder in frühere Stadien zurückfällt. Hier liegt der archimedische Punkt für das Streben nach „Wahrheit“. Nicht in Gefühlen, Instinkten, Beliebigkeit und Autoritätsgehabe. Wieso sollte denen ein Beweiswert zukommen?

Es scheint aber leider eine Entwicklung Platz zu greifen, die den Willen zur Wahrheitsfindung erodieren lässt. Hat die Beschwörung der Wahrheitssuche durch Nietzsche als „Überwindung des Nihilismus und Abschaffung von Irrtümern und Täuschungen“, also die Verbindung von Freiheit des Menschen und Wahrheitssuche (dem Thema dieses Beitrages), heute noch einen Wert im allgemeinen Bewusstsein?

Allein weil es notwendig ist, diese Frage überhaupt zu stellen, darf nicht jeder  Beliebigkeit, jeder beleglosen Behauptung Raum gegeben werden. Auch dann nicht, wenn man sich damit dem  Vorwurf der Ignoranz, der Engstirnigkeit und der Diskursverweigerung derer aussetzt, deren Wahrheit nur ihre eigene Behauptung ist. Man nennt solche Leute, die sich dem verweigern (und dafür oft genug angefeindet werden), Skeptiker. Ich würde mir wünschen, dass es solche Skeptiker gar nicht als abgrenzbare Gruppe geben müsste, vielmehr der „ganz normale Bürger“ auch die Anstrengung auf sich nehmen würde, mehr wissen zu wollen, mehr zu hinterfragen und sich wirklich instand zu setzen, sich ein Urteil zu bilden. Wo bleibt denn -so lange nach Kant- der Ausgang aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“? In den Kommentarspalten zu unserem Thema, der Pseudomedizin, finde ich die jedenfalls nur höchst selten. Wobei ich gern zugestehe, dass es hier nicht ohne Mühe abgeht. Daraus leitet sich aber nicht das Recht ab, platte Parolen einfach nachzubeten, völlig unlogische Statements abzugeben, schlichte Behauptungen ohne Beleg in die Welt zu setzen oder gar ausfallend zu werden und das dann für die Verteidigung der „Wahrheit“ zu halten.

Zurück zum Ausgangsthema:

Gemessen an diesen Überlegungen sind durchweg die Repliken der Heilpraktikerszene zu den Feststellungen und Forderungen des Münsteraner Memorandums nichts weniger als ein Ärgernis (von den Whataboutismen und den Ausfälligkeiten einmal ganz abgesehen). Wo ist der Beweis? Die „Antworten“ auf diese von den Skeptikern stets gestellte Frage ist ständige Faktenleugnung, Diffamierung der wissenschaftlichen Methode, Verschwörungstheorien gegen „die Ärzteschaft“ oder „BigPharma“ (die meines Wissens auch Homöopathen und Heilpraktikern ihre Mittel verfügbar macht), Unterstellung von Böswilligkeit und persönlichen Motiven und dergleichen mehr. Die Szene steht „argumentativ“ Trump deutlich näher als Kant. Bereits das -inzwischen stark überstrapazierte- Mittel der Online-Petition wird bemüht, wobei man natürlich wieder die Mischung aus Denunziation und einen unhaltbaren Wahrheitsbegriff im eben beschriebenen Sinne für angemessen hält: „Einige Schulmediziner, die in vielen Bereichen an ihre eigenen Grenzen stoßen, versuchen gerade den Beruf der Heilpraktiker einzuschränken oder gar abzuschaffen, um die ungeliebte Konkurrenz loszuwerden.“ So kann man es im Umfeld der Petition lesen. Wahrheit? Muss ich noch mehr sagen, angesichts des in diesem Beitrag Ausgeführten?

Wobei natürlich zu bedenken ist – wo sollten die Beweise, die Argumente der Heilpraktiker und sonstiger Vertreter der Alternativmedizin denn herkommen? Gibt es keine, dann würde intellektuelle Redlichkeit es erfordern, der kritischen Seite ihr Recht zuzugestehen. So etwas habe ich in all den Repliken der letzten knapp zwei Wochen allerdings an keiner einzigen Stelle gefunden.


Meine Empfehlung zum Schluss:


Och nee… Schon wieder Heilpraktiker(reformen)…

Bild von Reimund Bertrams auf Pixabay

Neues von der Heilpraktikerreformfront. Wie das Ärzteblatt berichtet, ist man in Berlin offenbar dabei, einen gewaltigen Anlauf zu einer grundlegenden Reform des Heilpraktikerwesens zu nehmen (zum Thema in diesem Blog siehe hier, hier und auch noch hier.

Worauf dürfen sich nun Skeptiker und Kritiker freuen, die in den letzten Wochen vielfach fundierte Kritik am Heilpraktikerwesen, diesem Wurmfortsatz am öffentlichen Gesundheitswesen, geäußert haben? Nun, ich zitiere das Ärzteblatt

“Die Gesundheitsämter können die Erlaubnis versagen, „wenn sich aus einer Überprü­fung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Volksgesundheit bedeuten wür­de“, heißt es in den Leitlinien. Gemäß Änderungsanträgen von Union und SPD soll künf­tig eine Erlaubnis auch dann versagt werden können, wenn die Überprüfung ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für jeden einzelnen Pa­tienten bedeuten würde.”

Aha. Soso. Darum geht’s. Ich erlaube mir mal, das als belangloses Wortgeklingel abzutun. Doch halt: Der juristische Instinkt in mir spürt: Hier stimmt doch was nicht…

Rein sprachlogisch: Wie soll denn festgestellt werden, dass jemand für jeden einzelnen Patienten, den er in Zukunft haben wird, eine Gefahr darstellt? Das ist doch kompletter Unsinn. Ungefähr der umgekehrte Fall des alten Problems, wie man feststellt, warum eine bestimmte Einrichtung einen gewaltigen Besucherschwund aufweist: Gar nicht, denn die Leute, die weg sind, kann man ja nicht mehr fragen. Und: Es liegt ja auf der Hand, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Wohlfühl-Patienten erscheinen werden, die entweder gar keine oder eine selbstlimitierende, harmlose Erkrankung haben und denen ein paar Globuli oder eine Pendelsitzung, meinetwegen auch eine anthroposophische Kräutermischung, sicher nicht gefährlich werden. Damit könnte dieser Ausschlussgrund niemals wirklich zum Tragen kommen.

Vollends als Scheingefecht erweist sich dieser Reformvorschlag angesichts der Tatsache, dass in den Leitlinien des BMG aus dem Jahr 1992 zur Heilpraktikerprüfung bereits steht: “Die Überprüfung dient der Abwehr von Gefahren für die Gesundheit einzelner Bürger und der Bevölkerung.” Sic! Hat wohl keiner im Gedächtnis gehabt …

Damit ist die geplante “Neuregelung” schon mal eine unnötige und unwirksame Leerformel. Vermutlich schielt der Bund mit einem Auge darauf, dass die Länder per Durchführungsbestimmung dieses schöne Produkt intensiven gesetzgeberischen Nachdenkens schon noch irgendwie mit Inhalt füllen werden. Nur: Siehe den vorhergehenden Absatz. Der Unterschied zwischen Leerlauf und Stillstand besteht lediglich im Energieverbrauch, für die Fortbewegung ist er unwesentlich.

Wie soll vor einem solchen Hintergrund eine rechtssichere, einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren standhaltende “Prüfung” stattfinden? Eine derart unsinnig-verquaste Regelung wird eher dazu führen, dass die Prüfenden, da ihnen die Kriterien entgleiten, mit Aussicht auf unfruchtbare Widerspruchs- und Rechtsmittelverfahren eher mal Fünfe gerade sein lassen als bisher. Und das wäre schlimm, sehr schlimm.

Fazit: Ich gehe mal in wohlwollendem Zweifel davon aus, dass das nicht alles sein kann, was den Fraktionen zur “Reform” des Heilpraktikerwesens einfällt. Das hier ist allerdings schon mal eine klassische Nullnummer.

Ich stelle fest: Keinen Schritt vor, einen halben zur Seite.


Den Begleitchor zu den aktuellen “Reformbestrebungen” gibt unter anderem der Verband klassischer Homöopathen Deutschlands e.V. (VKHD), der übrigens unter dem Motto “ganz Homöopathie – ganz Heilpraktiker” steht und damit einmal mehr beweist, dass Homöopathie und Heilpraktiker symbiotisch zusammengehören. Klar, ist doch die Homöopathie schon deshalb im Schatzkästlein der Heilpraktiker und als Aushängeschild unverzichtbar, weil sie – zu Unrecht – vergleichsweise am Wenigsten im Ruf einer halbseidenen esoterischen Methode steht.

Die aktuelle Pressemitteilung des VKHD ist betitelt mit “Viele Gesetze regeln den Heilpraktikerberuf  – Heilpraktiker bereichern das Gesundheitswesen und unterliegen strengen gesetzlichen Regelungen”. Klar, man möchte der letztlich doch beunruhigenden Erkenntnis entgegenwirken, dass der Heilpraktikerstand mehr oder weniger ungeregelt vor sich hinwerkelt. Was finden wir hier außer den üblichen Beteuerungen zur Wichtigkeit, ja Unverzichtbarkeit und Seriosität des Heilpraktikerstandes?

“Das Behandlungsspektrum von Heilpraktikern wird zum Beispiel durch den sogenannten Arztvorbehalt eingeschränkt, wie es u.a. im Infektionsschutz-, Arzneimittel-, Zahnheilkunde- und Betäubungsmittelgesetz geregelt ist. So darf ein Heilpraktiker beispielsweise weder Zahnheilkunde ausüben noch bestimmte übertragbare Erkrankungen behandeln oder rezeptpflichtige Arzneien verordnen.

Heilpraktiker müssen sich auch an die Vorgaben des Patientenrechtegesetzes, des Medizinprodukterechts und Arzneimittel- sowie des Infektionsschutz- und Heilmittelwerbegesetzes halten. Der öffentliche Auftritt eines Heilpraktikers wird darüber hinaus noch durch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) geregelt. Zudem gelten auch für sie dieselben Haftungs-, Sorgfalts-, Aufklärungs-, Dokumentations- und Fortbildungspflichten wie für Ärzte. Neben der Schweigepflicht müssen Heilpraktiker auch die berufsgenossenschaftlichen Vorschriften, die gängigen Anforderungen an Hygiene (RKI-Hygienerichtlinie) und an Biologische Arbeitsstoffe (TRBA 250) einhalten.”

Ah ja. Wie mir scheint, eher eine quantitative Aufzählung. Dazu sei die Bemerkung erlaubt, dass sich Otto Normalstaatsbürger noch einer weitaus größeren Menge an zu beachtenden Regelungen gegenübersieht, vom Strafgesetzbuch bis zur örtlichen Lärmschutzregelung. Auch der Bäckermeister, der Kfz-Mechaniker, der Maurerpolier sehen sich einer vergleichbaren Regelungsfülle gegenüber. Aber: All das sind Rahmen- und Ordnungsregeln. Nicht mehr. Wo aber finde ich hier das Gebot, dass die Heilpraktiker ausschließlich im Rahmen wissenschaftlicher Standards “behandeln” dürfen? Wo finde ich eine Positiv- oder Negativliste zugelassener bzw. ausgeschlossener Mittel und Methoden? Wo finde ich etwas zum “Heilen” oder zur “Praxis”? Zudem wage ich zu bezweifeln, ob all diese aufgezählten Einzelaspekte tatsächlich praktische Bedeutung für den Heilpraktiker entfalten. Gerade der Aspekt der Haftungs-, Sorgfalts-, Aufklärungs- und Dokumentationspflichten würde für sich einer eingehenden Betrachtung bedürfen. Und Fortbildungspflicht? Es gibt ja nicht einmal eine Ausbildungspflicht, geschweige denn Ausbildungsinhalte, an die eine Fortbildung anknüpfen könnte! Die Beliebigkeitsfortbildung, wie sie die Heilpraktikerschulen anbieten, soll doch wohl nicht mit der Pflichtfortbildung der Ärzteschaft gleichgesetzt werden…

Potemkinsche Dörfer. Kulisse, die das Eigentliche verdeckt, nämlich die unter dem Begriff der “Therapiefreiheit” weitestgehende Beliebigkeit bei der Ausübung der “Heilkunde” durch nicht wissenschaftlich ausgebildete Menschen.


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