Prolog: Drei Szenen, ein Impuls
Ein kurzer Blick in die morgendliche Nachrichtenlage genügt – und schon drängen sich Anlässe für eine ganze Handvoll Kommentare auf. Was sich da zeigt, ist kein Zufall, sondern ein Muster: semantische Verantwortungslosigkeit, publizistisches Versagen, juristische Selbstverkennung.

Aus ökonomischen Gründen – und im Sinne einer kleinen Gesamtschau – sei das heutige Material in klassischer Form präsentiert: als Tryptichon. Drei Tafeln, drei Szenen, drei Tonlagen.
- Dummheit, wo man aus Fehlern nichts lernt.
- Kontrollverlust, wo das Amt dem Sprecher entgleitet.
- Fassungslosigkeit, wo das Recht zur Bühne wird.
Was sie verbindet, ist nicht nur ihre Tagesaktualität, sondern ein gemeinsamer Impuls: der Verlust an Maß, an Selbstprüfung, an semantischer Sorgfalt. Dieses Tryptichon ist kein Abgesang, ich bin ja bekanntlich Semi-Optimist – aber ein Kommentar zur Lage.
Teil I: Dummheit – Absprung durch Absurdlink
Szene:
Ich sehe eine Anzeige. Ein Hoodie, genau das Richtige für meinen Sohn: Farbe, Schnitt, Funktion – alles passt. Ich bin nicht auf der Suche, ich bin bereit zu kaufen. Ein Klick, und … nichts. Die Anzeige führt nicht zum Produkt, sondern zur Sammelseite der Black-Friday-Aktion. Kein Hoodie weit und breit. Ich werde den Teufel tun und mich durch diese Scrollwüste kämpfen. Ich bin kein Streuverlust, ich bin ein Kunde mit konkretem Bedarf – und Otto zählt mich jetzt als Abspringer.
Analyse:
Seit Jahren verlinkt Otto Anzeigen nicht auf das beworbene Produkt, sondern auf Einstiegsseiten. Das ist kein Einzelfall, sondern ein Muster. Und es erfüllt die klassische Definition von Dummheit: unter gleichen Bedingungen immer wieder das zu tun, mit dem man schon immer gescheitert ist. Otto ist ein respektables Unternehmen mit guten Produkten – gerade deshalb überschreitet dieses Verhalten die Schwelle vom Amüsieren zum Ärger.
Pointe:
Man stelle sich vor, ich würde in den Sozialen Medien für einen Blogartikel werben – und dann auf meine Startseite verlinken. Das wäre kein Angebot zur Orientierung, sondern ein rhetorischer Nebelwerfer.
„So ruinieren Sie Ihre Black-Friday-Kampagne – Eine Anleitung für Marketingabteilungen mit Mut zur Desorientierung“ ist da fast schon zu freundlich.
Teil II: Kontrollverlust – Der Kanzler und das kommentierte Gastgeberland
Szene:
Friedrich Merz, derzeit Bundeskanzler, äußert sich zur COP30 in Belém: Niemand aus der Delegation habe dort bleiben wollen. Die Bemerkung wirkt abfällig, herablassend – und löst in Brasilien eine diplomatische Verstimmung aus. Präsident Lula kontert: Berlin biete nicht einmal zehn Prozent der Qualität von Belém. Die Szene wäre fast komisch, wenn sie nicht symptomatisch wäre.
Analyse:
Die Äußerung ist nicht isoliert. Sie reiht sich ein in eine Serie von kommunikativen Entgleisungen, die inzwischen einen besorgniserregenden Hintergrund der Kanzlerschaft von Herrn Merz bilden. Ob es um Arbeitsmoral, Migration oder internationale Partner geht – der Kanzler spricht oft, bevor er denkt. Und wenn die Reaktion kommt, folgt nicht etwa Einsicht, sondern Relativierung. Vielleicht hören wir demnächst, er habe in Brasilien nicht als Kanzler, sondern als Tourist gesprochen.
Pointe:
Was hier sichtbar wird, ist nicht bloß ein Mangel an Fingerspitzengefühl, sondern ein strukturelles Defizit: fehlende Selbstkontrolle in der öffentlichen Kommunikation. Wer ein Land repräsentiert, spricht nie nur privat. Und wer Gastgeberländer öffentlich abwertet, beschädigt nicht nur Beziehungen – sondern auch das Bild der eigenen Republik. Ein Blick in die Geschichte der Diplomatie zeigt, welche Folgen derartiges Fettnäpfchenhopping haben kann. Gut, dass wir in zivilisierten Zeiten leben … hoffentlich.
Teil III: Fassungslosigkeit – Nach dem Urteil ist vor dem Prozess
Szene:
Andrea Tandler und ihr Geschäftspartner wurden rechtskräftig verurteilt. Bestätigt durch den BGH. Drei Jahre Haft. Nun, Monate später, der Versuch, über das Bundesverfassungsgericht eine neue Hauptverhandlung zu erzwingen – mit der Begründung, die Verurteilte sei damals verhandlungsunfähig gewesen. Eine neue Hauptverhandlung in einem Fall, der letztinstanzlich, bis hin zur Revision, rechtskräftig abgeschlossen ist. Das ist auch für mich mal was Neues.
Analyse:
In den USA ist „ineffective assistance of counsel“ ein gängiger Revisionsgrund. In Deutschland hingegen gilt: Die Verteidigung hat im Verfahren die Pflicht, relevante Umstände zeitnah geltend zu machen. Wer das unterlässt, kann nicht später so tun, als sei das Verfahren an ihm vorbeigegangen. Das BVerfG ist keine Nachbesserungsbühne für prozesstaktische Versäumnisse – und die Bundesanwaltschaft hat bereits darauf hingewiesen.
Pointe:
Wenn die Verfassungsrichter den Fall annehmen könnte das Begehren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht nur abgelehnt, sondern mit einem kräftigen Schuss juristischer Klarstellung in Richtung der Verteidigung und der Verurteilten quittiert werden. Eigentlich muss man darauf hoffen, denn wenn der Öffentlichkeit vorgeführt wird, dass es möglich ist, ein vollinstanzlich abgeschlossenes Verfahren wieder auf die Schiene zu setzen, dürfte das nur sehr wenig zum Vertrauen in die Justiz beitragen.
Verfassungsbeschwerde ist kein Wunschkonzert – und schon gar kein Reenactment.
Was sich in diesen drei Szenen zeigt, ist mehr als nur Tagesgeschehen. Es sind Schatten einer Entwicklung, die den Begriff der Wahrheit zur rhetorischen Figur, Rationalität zur Taktik und Ethik zur Kulisse macht. Vielleicht ist es Zeit, die philosophische Frage neu zu stellen: Was heißt Verantwortung – heute, hier, öffentlich?
Andreas Lichte
„Merz‘ Worte offenbarten vor allem etwas über ihn selbst und eine nach wie vor koloniale Denkweise, findet die Braslianerin Hosana Puruburá. »Ich will, dass er unser Brasilien etwas mehr respektiert. Wir haben nicht, wie die Europäer, andere Kulturen überfallen und haben dann behauptet, wir hätten sie entdeckt.«“
https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/merz-brasilien-kommentar-100.html
Stand Merz nicht neulich noch wegen einer rassistischen Äusserung in der Kritik?
Ich glaube ja, bei Merz geraten einfach nur die Jahrhunderte durcheinander: als Konquistador wäre er sicher hochgeschätzt!