
Es sind nicht die Schlagzeilen, die den Zustand einer politischen Kultur offenbaren, sondern die Reaktionen auf das, was nicht gesagt werden darf. Als der CDU-Außenminister Johann Wadephul mit Blick auf Rückführungspläne für syrische Geflüchtete sichtlich betroffen äußerte, in den syrischen Stadtvierteln, die nur noch aus Betongerippen bestehen, könne niemand würdig leben, wurde er von Teilen seiner eigenen Fraktion abgestraft. Rücktrittsforderungen, interne Demütigungen, der Vorwurf der Illoyalität – und schließlich die Empörung darüber, dass er bei seiner Verteidigung auf das christliche Kreuz an der Wand verwies, als Erinnerung an das „C“ im Parteinamen. Dazu brauche man sich nicht belehren zu lassen. Vielleicht doch? Es gehe immerhin um die Autorität des Rechtsstaates, soll geäußert worden sein. Ach so!
Was hier sichtbar wird, ist mehr als parteipolitische Disziplinierung. Es ist die Verdrängung des Gewissens als legitimer politischer Kategorie. Wadephuls Satz war kein Bruch mit dem Rechtsstaat, sondern ein Versuch, ihn mit seiner humanistischen Grundlage zu verbinden. Dass ihm dafür die politische Existenz streitig gemacht wird, zeigt, wie sehr das Gewissen als Störgröße empfunden wird – als moralische Zumutung in einem System, das sich zunehmend über Durchsetzbarkeit und Formalität definiert.
Diese Entwicklung ist kein Einzelfall. Sie zeigt sich ebenso in der manischen Fixierung der Unionsfraktion auf die Kürzung von Sozialleistungen – allen voran bei den Bedürftigsten. Die vorgeschobene Begründung „massiver Einsparungen“ erwies sich als Luftnummer, doch das politische Ritual wurde vollzogen. Auch hier geht es nicht um sachliche Notwendigkeit, sondern um symbolische Grenzziehung: Wer als „nicht leistungsfähig“ gilt, wird zur verwaltbaren Größe. Der Mensch wird nicht mehr als Subjekt politischer Verantwortung gesehen, sondern als Kostenfaktor im System.
All das hat mit Konservatismus nichts zu tun. Die Eliminierung ethischer Maßstäbe in der Politik ist nicht konservativ – sie ist regressiv. Konservatismus, im besten Sinne, bedeutet Bewahrung des Menschlichen, der Maßstäbe, die sich nicht verrechnen lassen. Die Rückführung staatlichen Handelns auf reinen Funktionalismus ist keine Bewahrung, sondern Erosion – eine Entkernung des politischen Denkens, die sich hinter Begriffen wie „Ordnung“ und „Effizienz“ verschanzt.
Was hier verloren geht, ist nicht nur das „C“ im Parteinamen, sondern die Fähigkeit, politische Entscheidungen als Ausdruck einer gemeinsamen Verantwortung zu begreifen. Der Rechtsstaat wird zur bloßen Regelmaschine, zur Verwaltung von Konflikten ohne ethische Rückbindung. Doch ein Staat, der das Gewissen verdrängt, verliert nicht nur Maß – er verliert Vertrauen.
Es ist Zeit, diesen Verlust zu benennen. Nicht aus Nostalgie, sondern aus Sorge um die Tiefenstruktur unserer politischen Kultur. Denn wenn das Gewissen verstummt, bleibt nur noch die Berechnung. Und das ist zu wenig – für einen demokratischen Rechtsstaat, der den Menschen nicht als Fall, sondern als Subjekt seiner Ordnung begreifen will.
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