Warum das Politbarometer rhetorische Nebel misst – und der Journalismus zu spät aufwacht


„Nachgeschärft“ wurde hier gar nichts

Sonntagmorgen. Zeit für Klarheit. Und für eine Nachschärfung – um die Begrifflichkeit des SPIEGEL zu verwenden. Denn was sich in den letzten Tagen rund um Friedrich Merz’ „Stadtbild“-Aussage und das ZDF-Politbarometer abgespielt hat, ist ein Paradebeispiel für das, was ich bereits in meinem letzten Beitrag kritisiert habe: die rhetorische Selbstverstärkung zwischen Politik, Umfrage und publizistischer Begleitmusik.

1. Der Drahtverhau als Ja-Nein-Frage

Die zentrale Verteidigungslinie gegen meine Kritik lautet: Die 63 Prozent Zustimmung im Politbarometer bezögen sich ja gar nicht auf Merz’ ursprüngliche Stadtbild-Äußerung, sondern auf seine spätere „Konkretisierung“ – also auf die berühmte „Fragen Sie mal Ihre Töchter“-Linie und die nachgeschobene Erklärung, es gehe um nicht aufenthaltsberechtigte, nicht arbeitende, regelverletzende Ausländer.

Aber genau das ist der Punkt: Diese „Konkretisierung“ ist keine überprüfbare Aussage, sondern ein nachgeschobenes Framing. Und die Umfragefrage, die daraus gebastelt wurde, ist ein hanebüchener verbaler Drahtverhau, der den Befragten eine Ja-Nein-Entscheidung abverlangt, wo es eigentlich um eine komplexe, mehrdimensionale Problemlage geht.

Die genaue Frage lautete:

„Bundeskanzler Friedrich Merz hat davon gesprochen, dass es in Deutschland Probleme im Stadtbild gibt. Konkret benannt hat Merz jetzt, dass es Probleme mit denjenigen gibt, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, nicht arbeiten und sich nicht an unsere Regeln halten. Was meinen Sie, hat Friedrich Merz mit dieser Aussage Recht oder hat er damit nicht Recht?“

Was soll man darauf antworten? Was genau ist hier die „Aussage“? Dass es Probleme gibt? Dass sie mit Migration zu tun haben? Dass Abschiebung die Lösung ist? Oder dass man sich Sorgen machen soll, wenn die eigenen Töchter abends unterwegs sind?

Wer hier „Ja“ sagt, stimmt nicht einer Tatsache zu, sondern einem Gefühl. Das wird schon belegt dadurch, dass sich zwei Drittel der Befragten im öffentlichen Raum „sicher“ fühlen und gleichzeitig (!) annähernd gleich viele die Umfragefrage „bejahen“. Wer das als „Zustimmung zur Aussage“ verkauft, betreibt erneut Framing – ob bewusst oder aus publizistischer Ermüdung.

2. Die späte Differenzierung – ein publizistisches Versäumnis

Was mich besonders irritiert: Kein einziges Medium hat vor Veröffentlichung der Umfrage und ihres vorgeblichen Ergebnisses den genauen Wortlaut der Frage kritisch eingeordnet. Erst als Zweifel am Ergebnis laut wurden – auch durch Leserzuschriften an mich – begannen einige, die Formulierung nachzureichen. Und selbst dann meist ohne methodische Einordnung, sondern eher apologetisch.

Das ist nicht nur nachlässig, das ist unredlich. Denn wer mit Umfragen arbeitet, trägt Verantwortung: für die Frage, für die Deutung, für die Wirkung. Und wer sich auf die nachgeschobene „Konkretisierung“ von Merz beruft, um die Kritik zu entkräften, bestätigt unfreiwillig meine Grundthese: Dass hier kein abstimmungsfähiger Sachverhalt vorlag, sondern ein rhetorisches Konstrukt – das nun durch Umfrage und Schlagzeile zur scheinbaren Realität wird.

3. Fazit: Wer nachschärft, muss auch nachdenken

„Nachgeschärft“ wurde hier gar nichts. Es wurde nachgelegt, nachgedeutet, nachgefasst – aber nicht geklärt. Und das Politbarometer hat diese Unschärfe nicht hinterfragt, sondern operationalisiert. Die Medien haben sie nicht analysiert, sondern weitergetragen. Und die Politik nutzt das Ergebnis als Beleg für „Volksnähe“.

Was bleibt, ist die Aufgabe, Sprache wieder zu entwirren. Und das heißt: nicht nur zu fragen, was gesagt wurde – sondern wie, warum und mit welcher Wirkung. Genau das ist publizistische Verantwortung. Und genau daran fehlt es derzeit – quer durch die Redaktionen.


Nachtrag: Wenn Sprache verlottert, verliert die Demokratie ihren Diskurs

Was mich in diesen Tagen besonders erschüttert, ist nicht nur die rhetorische Qualität der politischen Aussagen – sondern die sprachliche Verwahrlosung im publizistischen Umgang damit. Aus einer für einen Bundeskanzler wahrhaft unwürdigen Aussage („Stadtbild“) entsteht eine Kakophonie aus Empörung, Relativierung und Apologie. Und selbst Medien, die als kritisch gelten, verlieren den Überblick – ja, sogar die Contenance.

Das ist mehr als ein redaktionelles Versagen. Es ist ein Symptom für den Verlust des Diskurses. Denn Sprache ist nicht nur Medium, sondern Strukturträger demokratischer Urteilskraft. Wenn sie verlottert, wenn sie verkürzt, wenn sie sich rhetorisch selbst immunisiert, dann verliert die Demokratie ihre Fähigkeit zur Unterscheidung.

Was hier geschieht, ist ein schlagendes Beispiel:

  • Eine vage, suggestive Aussage wird zur scheinbaren Tatsache.
  • Eine rhetorische Nachschärfung wird zur Umfragegrundlage.
  • Eine methodisch fragwürdige Frage wird zur Schlagzeile.
  • Und die publizistische Begleitung wird zur Echokammer, nicht zum Korrektiv.

Ich arbeite ohnehin gerade am Thema des Diskursverlusts. Und dieser Fall zeigt, wie dringend es ist. Denn wenn Sprache nicht mehr erklärt, sondern nur noch wirkt, wenn Journalismus nicht mehr prüft, sondern nur noch transportiert, dann steht mehr auf dem Spiel als die nächste Schlagzeile. Dann steht die Sprachfähigkeit der Demokratie selbst zur Disposition.


Quellen:
t-online zur Kritik am Politbarometer