Frankreichs Krise, Deutschlands Schuldenbremse – ein hinkender Vergleich

Die FAZ sieht heute (10.09.2025) in Frankreichs wirtschaftlicher und sozialer Lage den Beleg dafür, wie zeitgemäß eine Schuldenbremse für Deutschland sei. Ich formuliere es zugespitzt: Frankreichs Beispiel wird instrumentalisiert, um neoliberale Austeritätspolitik hierzulande als alternativlos darzustellen.

Aber wie ich immer sage: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich.

Frankreichs politische Kultur ist anders. Dort gehört Protest zum demokratischen Alltag. Das „Volk“ – in seinen vielen Ausprägungen – meldet sich regelmäßig lautstark zu Wort. Man nennt das Protestkultur, und ich finde das grundsätzlich gesund. Nur: Wenn Regierungen darauf nicht mit strategischer Politik, sondern mit opportunistischer Kompensation reagieren, wird Protest zur Waffe, der man sich irgendwann nicht mehr erwehren kann. Oder, wie meine Oma sagte: „Dann iss schlecht.“ Und dann landet man irgendwann tatsächlich in einem Schuldensumpf – als Folge politschen Unverstandes und Opportunismus.

Eine besondere Pointe des FAZ-Kommentars besteht darin, genau diesen politischen Opportunismus auch in der deutschen Politik zu erkennen. Und das angesichts einer anhaltenden unsäglichen Diskussion darüber, was man den Bedürftigsten der Gesellschaft denn noch abverlangen könnte und einer öffentlichen Weigerung, der zunehmenden Ungleichheit in der Gesellschaft mit regulativen Mitteln wenigstens ein wenig Einhalt zu gebieten? Die Brillengläser, dies mit dem sicherlich in Frankreich katastrophalen politischen Opportunismus gegenüber allen möglichen Gruppen zu vergleichen, müssen schon ziemlich beschlagen sein.

In Deutschland herrscht seit Jahrzehnten eine bemerkenswertes politisches Stillhalten. 35 Jahre neoliberaler Politik, oft gegen die Interessen breiter Bevölkerungsschichten, haben keinen strukturellen Widerstand, sondern bestenfalls zaghafte Graswurzelbewegungen hervorgebracht – und Zulauf zu den rechten Rändern des politischen Spektrums und darüber hinaus. Was in Frankreich die Gelbwesten sind, die längst ihre Interessen durchzusetzen verstehen, sind bei uns – zugespitzt gesagt – die Gutverdienenden und Vermögenden, deren Interessen längst in der Politik verankert sind. Sie müssen nicht einmal protestieren. Sie sind im System integriert.

Die Schuldenbremse wird hierzulande nicht als Instrument diskutiert, sondern als Dogma verteidigt. Es sei rhetorisch gefragt: Cui bono? Wem nützt es? Sicher nicht den Schwächeren und Schwachen der Gesellschaaft, sondern denen, die ein Interesse an einem neoliberal ausgerichteten Staat haben. Frankreichs Beispiel zeigt eben nicht, dass man weniger investieren sollte – sondern dass man klüger investieren muss, und zwar vorausschauend, sozial und strukturell.

Wer aus Frankreichs Krise die Notwendigkeit deutscher Sparpolitik ableitet, verwechselt Ursache und Wirkung. Und wer Protest nur als Störung begreift, hat nicht verstanden, was Demokratie leisten kann – und muss.

Und während Frankreichs Protestkultur lärmt, bleibt Deutschland leise – nicht aus Zufriedenheit, sondern aus Gewöhnung. Vielleicht ist es Zeit, dass auch hier wieder Widerspruch zur politischen Kultur gehört und nicht diskreditiert wird. Nur zur Klarstellung: Rechte Narrative sind KEIN Widerspruch, es sind Entgleisungen, die die politische Kultur nur noch mehr beschädigen.


Dass der FAZ-Kommentator seine These offenbar nicht wider besseres Wissen, sondern aus ehrlicher Überzeugung formuliert, macht die Sache nicht besser – sondern symptomatisch. Es zeigt, wie tief die Vorstellung verankert ist, dass Disziplin und Sparsamkeit die einzig legitime Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen seien. Da wird auch schon mal ein schwer hinkender Vergleich aus dem Hut gezogen, um das zu „begründen“. Wer mit unseren Nachbarvölkern vertraut ist, erkennt: Frankreichs Protestkultur ist kein Zeichen von Instabilität, sondern von demokratischer Vitalität. Und in der opportunistischen Haltung der französischen Innenpolitik über viele Jahre eben das was es ist: opportunistisches Versagen. Und vielleicht wäre es an der Zeit, auch hierzulande wieder mehr Mut zum Widerspruch zu entwickeln – nicht gegen den Staat, sondern für eine lebendige politische Kultur. Die meines Erachtens eine Voraussetzung dafür ist, dass Politik nicht weiter in ideologisches Lagerdenken abgleitet, sondern mit Vernunft, Augenmaß und Empathie agiert.