🟥 „Das Sozialstaatsprinzip ist keine politische Option – es ist eine verfassungsrechtlich garantierte Verpflichtung.“
Es konkretisiert das Gebot der Menschenwürde und setzt dem politischen Zugriff klare Grenzen. Wer am Existenzminimum kürzen will, ignoriert nicht nur die soziale Realität, sondern auch die Verfassung und die höchstrichterliche Rechtsprechung.

🟥 „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09


Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Während Friedrich Merz und seine Mitstreiter den ganz großen Umbau des Sozialstaats vorbereiten, wird parallel ein Vorschlag salonfähig gemacht, der Rentner*innen zu einem Pflichtjahr verdonnern will – und das unter dem Deckmantel der „Solidarität“. Willkommen in der neuen Reformrealität, in der man selbst als älterer Herr beim Sonntagsbrunch nicht mehr sicher ist vor dem Zwang, die neuesten Botschaften im Blog zu kommentieren.

Was sich hier abzeichnet, ist kein konstruktiver Diskurs, sondern ein ideologiegetrieberner Angriff auf die Grundfesten des Sozialstaats. Merz’ Rhetorik ist dabei so pauschal wie durchschaubar: Das Sozialsystem sei „nicht mehr finanzierbar“, es müsse „umgekrempelt“ werden. Gemeint ist: Kürzen, verschieben, belasten – und zwar dort, wo der Widerstand am geringsten scheint: bei denjenigen, die sich nicht mehr wehren können oder wollen.

Dass dieser Kurs juristisch kaum Bestand haben wird, ist fast nebensächlich. Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen längst abgesteckt – insbesondere nach unten. Das Existenzminimum ist nicht verhandelbar und – als konkrete Ausformung des Menschenwürdeprinzips – auch nicht mit Bedingungen verknüpfbar. Doch die politische Strategie zielt ohnehin nicht auf Rechtskonformität, sondern auf Diskursverschiebung: Wer das Sozialsystem als Luxusproblem darstellt, kann Kürzungen als Notwendigkeit verkaufen.

Interessant ist, wie sehr diese Provokation die SPD aufschreckt. Innerhalb der Partei mehren sich kritische Stimmen, wie man hört, auch solche, die einen Bruch der Koalition nicht mehr ausschließen. Selbst Lars Klingbeil, bislang eher als neoliberaler Pragmatiker unterwegs, reagiert inzwischen auf Merz’ Attacken. Man spürt: Die alte Tante SPD erinnert sich an ihre Wurzeln – oder wird zumindest von der Realität dazu gezwungen. Und von Friedrich Merz, der noch einen obendrauf setzt, indem er seinen Ausführungen hinzufügt, er werde es „der SPD nicht leicht machen“.

Doch die eigentliche Zumutung liegt tiefer: Wenn Reformvorschläge wie das Rentnerpflichtjahr ernsthaft als „Solidaritätsmodell“ diskutiert werden, zeigt das, wie weit sich der politische Diskurs von den Lebensrealitäten entfernt hat. Es ist nicht Solidarität, wenn man die Nichtprivilegierten gegeneinander ausspielt. Es ist auch keine Reform, wenn man Belastung neu etikettiert. Es ist schlicht: eine politische Entkernung des Sozialstaats.

Und genau hier lohnt ein Blick auf das, was das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes eigentlich bedeutet: Es ist keine politische Option, sondern eine verbindliche Zusage des Staates, mit der das Menschenwürdeprinzip konkretisiert wird. Der Sozialstaat steht nicht zur Disposition – weder rhetorisch noch haushaltspolitisch. Seine Grenzen sind höchstrichterlich definiert, insbesondere durch das Bundesverfassungsgericht, das das Existenzminimum als unantastbare Schwelle festgelegt hat.

Wer Reformpolitik ernst meint, sollte sich nicht in Kürzungsfantasien verlieren, sondern endlich die vielfältigen Ansätze für fundierte Analysen und gerechte Umverteilung aufgreifen. Kreativität zeigt sich nicht im Sparen, sondern im Gestalten. Und Verantwortung beginnt dort, wo man die Realität nicht länger ignoriert.