
Rechtstreue ist ein sperriges Wort. Es klingt nach Formalismus, nach Paragraphenreiterei. Doch in Wahrheit bezeichnet es eine Grundhaltung, die für eine freiheitlich‑demokratische Gesellschaft unverzichtbar ist: die Anerkennung dessen, dass wir uns in einem normativen Rahmen bewegen, der nicht durch persönliche Vorlieben ersetzt werden kann.
Meinung ist keine Rechtsgrundlage
Immer wieder begegnet man Menschen, die ihre persönliche Meinung für eine Art Rechtsgrundlage halten. „Ich sehe das nicht so“ wird dann zum Ersatz für eine normative Einordnung eines Problems, selbst wenn diese offensichtlich gefordert ist oder gar erläutert wird. Doch Geschmacks- und Moralfragen des Alltags sind keine legitimen Inhalte für normative Setzungen. Öffentliche Rechtsträger – vom Bundestag bis zur Grundschule – dürfen nur Regeln erlassen, die sich durch einen allgemeinen Zweck in Bezug auf ihren Kompetenzbereich, insbesondere der Gefahrenabwehr, gerechtfertigt sind. Alles andere überschreitet ihre Kompetenz.
Rechtstreue bedeutet hier: Ich akzeptiere, dass nicht meine Meinung entscheidet, sondern die geltenden Normen und deren Auslegung.
Rechtstreue heißt auch: Grenzen respektieren
Rechtstreue bedeutet nicht, dass jede persönliche Präferenz „eigentlich“ normativ zu verstehen sei. Fragen des Geschmacks, der Moral (innerhalb klarer Grenzen) und der persönlichen Lebensführung müssen von der Rechtsordnung so weit wie möglich unangetastet bleiben.
Das ständige Rufen nach „das müsste verboten werden“ oder die provokative Frage „darf man das eigentlich?“ sind Ausdruck einer bedenklichen Haltung, die den Rahmen des Lebens in einer freiheitlichen Ordnung subtil verschiebt. Rechtstreue verlangt, dieser Versuchung zu widerstehen und die Freiheit des Anderen ebenso zu achten wie die eigene.
Rechtstreue als politische Pflicht
Noch gravierender wird es, wenn selbst Politiker die Grenzen des Rechts missachten. Wenn ein Innenminister öffentlich erklärt, EU‑Recht oder Gerichtsurteile nicht beachten zu wollen, ist das kein politischer Stil, sondern ein Angriff auf die normative Ordnung. Wenn Gesetzentwürfe eingebracht werden, die ersichtlich verfassungsrechtlich problematisch sind, wird das Recht zur Knetmasse degradiert.
Doch Recht ist keine Knetmasse. Es ist bewusst als Normatives gedacht: als Bollwerk gegen Willkür, als Begrenzung subjektiver Machtansprüche. Wer das ignoriert, schwächt die freiheitlich‑demokratische Grundordnung.
Rechtstreue als demokratische Kulturleistung
Rechtstreue ist mehr als Gesetzesgehorsam. Sie ist die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung: nicht alles, was ich für richtig halte, darf ich normativ durchsetzen. Sie verlangt von Bürgern, ihre Meinung hinter die Rechtsordnung zurückzustellen – und von Politikern, ihre Macht an die Verfassung zu binden.
Je mehr Rechtstreue dem Diktat des Subjektiven weicht, desto gefährdeter ist unsere Demokratie. Denn ohne die Anerkennung des Normativen bleibt nur noch die Willkür der Stärkeren.
Rechtstreue ist keine lästige Formalität, sondern die stille Grundlage unserer Freiheit. Sie schützt uns davor, dass Meinung zu Recht erklärt wird – und dass Macht das Recht beugt. Wer Rechtstreue praktiziert, stärkt den zivilgesellschaftlichen Frieden ebenso wie die Verfassungswirklichkeit. Wer sie ignoriert, betreibt Kulturkampf und gefährdet die Demokratie.
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