Hendrik Streeck, Drogenbeauftragter der Bundesregierung und CDU-Mann, hat sich jüngst mit einem Vorschlag zur Begrenzung von Kassenleistungen für sogenannte „Bagatellfälle“ ins Gespräch gebracht. Wer mit Husten zum Arzt geht, soll künftig womöglich selbst zahlen. Das klingt nach Effizienz — ist aber in Wahrheit ein Rückschritt in der sozialen Gesundheitsversorgung. Und wahrlich nichts Neues.

Willkommen bei BagatelleCare – wo Husten zur Haltungssache wird
(Illustration via Microsoft Copilot)

Zunächst befremdet mich die Plattheit, mit der hier „mit Husten zum Arzt“ durch einen Mediziner pauschal als Bagatellfall abqualifiziert wird. Wenn es das wäre, dann gäbe es sicher nicht die AWMF-S2k-Leitlinie „Fachärztliche Diagnostik und Therapie von erwachsenen Patienten mit Husten“, in der Langfassung immerhin 61 Seiten umfassend.

Was Streeck übersieht

Der Arztbesuch ist für viele Menschen nicht nur medizinisch, sondern auch mental wichtig. Unsicherheit, chronische Belastung und ganz wesentlich fehlende Gesundheitskompetenz führen dazu, dass Menschen Hilfe suchen — nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Notwendigkeit. Der gute Arzt wird sich immer bewusst sein, dass der Notfall – von krassen Ausnahmen abgesehen – immer in Kopf und Auge des Patienten existiert. Der Arzt-Patienten-Bezug ist ein Vertrauensverhältnis, kein Kostenfaktor. Wer hier Trennwände einzieht, untergräbt die Versorgungslogik.

Ich persönlich zweifle daran, dass Menschen aus eigenem Antrieb „gern“ zum Arzt gehen. Allein schon wegen der Begleitumstände, die mit dem Besuch eines Cafés oder der örtlichen Bücherei wenig gemein haben, gar für viele vor allem berufsunfähige Menschen ein erhebliches Alltagshindernis darstellt. Ja, klar, das Gegenteil mag es geben. Aber dazu zähle ich nicht einmal die alten Menschen, die beim Arzt und vielleicht auch im Wartezimmer ein wenig Ablenkung und Kontakt suchen. Denen gebührt Verständnis dafür, dass sie hier einen kleinen Ausweg aus ihrer Alltagsnot sehen, was eigentlich auf andere Art und Weise aufgefangen werden müsste. Es sind wohl eher Leute, die real hypochondrisch veranlagt sind und deswegen auf ihre Weise krank sind.

Und selbst wenn es zu häufigen Besuchen kommt: Die Belastung trifft den Arzt, nicht die Kasse. Denn durch die Budgetierung der Leistungen im Quartal entstehen grundsätzlich keine zusätzlichen Kosten für die GKV — sondern nur Zeitdruck und Versorgungsengpässe in den Praxen. (Grundsätzlich, weil es ja ab Oktober 2025 in Teilen der ärztlichen Leistungen zu einer sogenannten Entbudgetierung kommen wird, die ist aber so speziell ausgelegt, dass sie am Grundsatz des Quartalsbudgets nichts ändert.) Der Arzt verwendet Zeit, die an anderer Stelle dringender gebraucht wird — und bekommt sie nicht einmal bezahlt. Das halte ich durchaus für ein relevantes Problem – aber nicht im Fokus der Äußerungen von Herrn Streeck.

Das eigentliche Problem liegt woanders

Was Streeck verkennt, ist die systematische Unterhöhlung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung als Ursache für ein möglicherweise fehlgeleitetes Gesundheitsverhalten. Ein völlig unregulierter dritter Gesundheitsmarkt, auf dem Nahrungsergänzungsmittel, Wunderdiäten und pseudomedizinische Verfahren ohne Kontrolle angeboten werden. Eine freie Bahn für Pseudomedizin innerhalb des Gesundheitswesens selbst — von Homöopathie bis zu esoterischen Heilverfahren, oft sogar mit Kassenerstattung. Eine allgemeine Informationslage, die von Werbung, Influencern und Halbwissen geprägt ist — nicht von Aufklärung, Transparenz und evidenzbasierter Medizin.

Wer hier ansetzen will, muss nicht die Patienten zur Kasse bitten — sondern die Systemverantwortung ernst nehmen: Gesundheitsbildung in Schulen und Medien, Regulierung des dritten Gesundheitsmarkts, klare Trennung zwischen evidenzbasierter Versorgung und pseudomedizinischer Spielwiese.

Und wer weiß das eigentlich?

Wissen das die öffentlichen Stimmen nicht?
Wissen sie nicht, dass der Arztbesuch für die allermeisten Menschen kein Freizeitvergnügen ist, sondern ein Schritt aus Unsicherheit, aus Sorge, aus Notwendigkeit? Oft nach langem Zögern?
Wissen sie nicht, dass die Belastung den Arzt doppelt trifft — durch Zeitaufwand, der an anderer Stelle fehlt, und durch fehlende Vergütung, die das System selbst verursacht?

Und warum wissen sie das nicht?
Weil sie das System von außen betrachten, durch die Brille der Effizienz, der Ökonomie, der politischen Schlagkraft.
Weil sie nicht fragen, wie Versorgung wirklich funktioniert — sondern nur, wie sie sich reformieren lässt.


Samira El Ouassils Kommentar zu Streecks Vorstoß im SPIEGEL (Spiegel+) enthält viel Richtiges. Aber auch sie dringt nicht zum Grundproblem vor:
Wenn man die Bevölkerung gesundheitskompetent aufstellen will, dann darf die Gesundheitspolitik nicht ständig genau in die andere Richtung arbeiten.
Mit einem unregulierten dritten Gesundheitsmarkt, mit Pseudomedizin im Gesundheitswesen, mit GKV-Kassen, denen man über Satzungsleistungen einen „Wettbewerb“ zubilligt, der mehr mit Marketing als mit Versorgung zu tun hat.

Fazit:

Wer über Reform spricht, muss zuerst das System kennen.
Wer über Bagatellmedizin spricht, muss zuerst die Menschen verstehen.
Und wer über Kosten spricht, muss zuerst die Verantwortung klären.