Warum Friedrich Merz mit seiner Kürzungsrhetorik den Boden der Realität verlässt

Bundeskanzler Friedrich Merz hat in einem Interview mit Sat.1 eine konkrete Sparvorgabe formuliert: Zehn Prozent Einsparung beim Bürgergeld, das entspricht fünf Milliarden Euro jährlich. Damit verlässt er nicht nur den Boden der Realität – er verlässt auch den Rahmen des Sozialstaats, wie ihn das Grundgesetz vorsieht.

Denn was Merz als „möglich“ bezeichnet, ist in Wahrheit nicht machbar. Seine beiden bekannten Ansätze – Vollkürzungen bei sogenannten „Totalverweigerern“ und Einschnitte bei Unterkunftskosten – sind nicht nur sozial blind, sondern verfassungswidrig. Sanktionen dürfen nicht das Existenzminimum gefährden. Und genau das würde passieren, wenn man diese Ideen umsetzt. Von den sozialen Folgen mal ganz abgesehen, die von hungernden Familien über die Zunahme von Wohnungslosigkeit bis hin zu weiterem Lohndrückertum bei den noch Erwerbstätigen reichen.

Wer sind die „Totalverweigerer“ wirklich?

Die Vorstellung, dass es sich dabei um Menschen handelt, die „zumutbare Arbeit ablehnen“, ist ein Mythos. Die Realität sieht anders aus:

Die Mehrheit der Sanktionen trifft Menschen, die Termine nicht wahrnehmen. Und dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen:

  • Panik vor Behördenkontakt
  • psychische Erkrankungen
  • Überforderung durch bürokratische Abläufe
  • fehlende Kinderbetreuung oder Mobilität

Andere Sanktionen betreffen die Ablehnung von Maßnahmen, die nicht selten als entwürdigend oder sinnlos empfunden werden und es häufig auch sind.

Wer sich mit diesen „Maßnahmen“ einmal näher beschäftigt hat, erkennt schnell: Das System „Fördern und Fordern“ hat vor allem eine Industrie von Maßnahmeträgern hervorgebracht, die mit oft fragwürdigen Konzepten gutes Geld verdienen. Die Arbeitsagenturen müssen ihre Fördermittel ausschöpfen – sonst droht Ärger mit Nürnberg. Das Ergebnis: Zuweisung statt Perspektive, Verwaltung statt Integration.

Kürzungen bei Unterkunftskosten?

Auch dieser Vorschlag ist nicht haltbar. Die Angemessenheit der Wohnkosten wird lokal geprüft und ist bereits gesetzlich geregelt. Eine pauschale Kürzung würde Menschen in die Obdachlosigkeit treiben und Kommunen in rechtliche Auseinandersetzungen stürzen. Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 klargestellt: Sanktionen dürfen nicht das Existenzminimum gefährden. Merz’ Vorschläge tun genau das.

Und dann: Der Soli

Während beim Bürgergeld fünf Milliarden Euro eingespart werden sollen, steht gleichzeitig die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags im Raum – eine Maßnahme, die den Staat rund sechs Milliarden Euro kosten würde. Und wer profitiert davon? Nur die Besserverdienenden und Unternehmen, denn 90 Prozent der Steuerzahler sind längst vom Soli befreit.

Noch konkreter kann man die Umverteilung von unten nach oben wohl kaum vor Augen führen:

  • Unten wird gekürzt, wo es ohnehin kaum noch Spielraum gibt.
  • Oben wird entlastet, wo es am wenigsten nötig ist.

Was bleibt?

Was bleibt, ist der Eindruck einer Politik, die sich von der Lebensrealität der Menschen in Lichtgeschwindigkeit entfernt. Die nicht fragt, warum jemand nicht erscheint – sondern nur, wie man ihn bestrafen kann. Die nicht fragt, was eine Maßnahme bewirkt – sondern nur, wie man sie abrechnen kann. Und die nicht fragt, was sozial gerecht wäre – sondern nur, was sich kürzen lässt.

Diese Debatte braucht keine weiteren Schlagworte. Sie braucht Aufklärung. Und sie braucht Stimmen, die nicht mit dem Finger zeigen – sondern mit dem Kopf denken.