Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Liebe Leserin, lieber Leser,
schon wieder, werden Sie vielleicht sagen. Ja, schon wieder ein Beitrag zum Heilpraktiker-Thema, das ist viel – und soll keinesfalls die Regel werden. Trotzdem bitte ich um Ihr geneigtes Interesse, denn das Thema ist hochaktuell und es scheint mir wenig sinnvoll, mit wichtigen Gedanken zuzuwarten und derweil das Terrain freizugeben. Man muss das Eisen nun mal schmieden, so lange es heiß ist.
Freiheit?
Bei der Diskussion über Alternativmedizin -sei es zu Mitteln und Methoden, sei es zu den Praktizierenden- kommt immer wieder eine Strategie der Kritisierten zum Vorschein, die sich gegenüber mit dem Hinweis auf die freie Entscheidung des Patienten, mit der Berufung auf Therapiefreiheit und mit einem scheinbaren Anspruch, vor staatlichen Eingriffen geschützt zu sein, verteidigen will. Mal erscheint dies eher subtil, indem den Kritikern unterstellt wird, sie wollten etwas „verbieten“, manchmal erscheint es ganz handfest, so wenn der „mündige Patient“ ins Feld geführt wird, auf den allein es ankäme. Letztlich eingefordert wird eine Art Anspruch darauf, dass der Staat den status quo schütze und Veränderungen den Hauch des Paternalistisch-Anmaßenden hätten.
All das verdient wegen der Bedeutung der Debatte eine differenzierte Betrachtung, denn es berührt das allgemeine Verständnis von persönlicher Freiheit und von dem, was staatliche Eingriffe rechtfertigt.
Um es gleich vorauszuschicken – ich stehe einem staatlichen Paternalismus ablehnend gegenüber, der entscheiden will, was „gut“ für die Menschen ist, wie mehr oder weniger offen oder subtil dies auch immer geschehe.
Aber: Sehr wohl ist der Staat berechtigt, ja verpflichtet, einzugreifen, wenn etwas „schlecht“ für seine Bürger ist. Sicher ein weites Feld, das viele Schattierungen aufweist, der hier interessierende Aspekt ist aber die Garantie körperlicher Unversehrtheit und der Schutz des Lebens, höchste, der Menschenwürde zugehörige Grundrechte. Die auf dem Gedanken des „Gesellschaftsvertrags“ beruhende Staatsrechtslehre sieht in der Schutzgarantie für Leib und Leben eine der Grundlagen staatlicher Legitimation überhaupt.
Zweifellos kann auch das nicht unbeschränkt gelten, will man das ebenfalls hohe Gut der individuellen Freiheit ebenso bewahren. Die Rechtsprechung hat für die Grenze, bis zu der staatliche Schutzregelungen legitim und erforderlich sind, den Begriff des „Gemeinwohlanliegens“ entwickelt. Will sagen: Je allgemeiner der Umfang des Problems ist, desto mehr rechtfertigt sich staatliches Eingreifen.
Gehen wir von dieser Grundprämisse aus und fragen uns, mit welchem Recht die Vertreter der Alternativmedizin, allen voran die Homöopathen und die Heilpraktiker, sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Patienten, auf ihre Therapiefreiheit und dergleichen berufen und damit Schutz für den status quo beanspruchen, indem sie einen vorgeblichen Paternalismus beschwören.
Es zeigt sich: Sie tun das von einer falschen Perspektive aus. Ein Handeln des Staates, um das Gesundheitswesen auf eine wissenschaftliche Basis (eine Selbstverständlichkeit!) zurückzuführen, wäre durchaus kein Paternalismus im Sinne einer „Hinführung zum Guten“. Es wäre richtig betrachtet nicht einmal ein Schutzeingriff. Denn es würde lediglich um die Korrektur der Schieflage gehen, die der Gesetzgeber in der Vergangenheit selbst verursacht hat. Die Politik ist hier nicht nur sachlich, sondern auch moralisch in der Pflicht. Denn sie hat mit dem Schein des gesetzgeberischen Segens dafür gesorgt, dass Methoden wie Homöopathie (durch den Binnenkonsens) ebenso soziale Reputation genießen wie der Stand der Heilpraktiker (durch die Duldung des Heilpraktikergesetzes aus dem Jahre 1939).
Das ist das Mindeste, was geboten ist. Ob darüber hinaus konkrete Schutzregelungen für den gesundheitlichen Bereich getroffen werden sollten, wäre Gegenstand weiterer Diskussion. Ich verhehle nicht, dass ich dies für dringend notwendig halte.
Wir leben im 21. Jahrhundert. Die Welt ist zu fragil und zu komplex für eine öffentliche Duldung von Irrationalität. Denn nichts anderes ist es, wenn einerseits Ärzten eine wissenschaftsbasierte Ausbildung mit vielen Befähigungsprüfungen abverlangt wird, die im Schnitt länger als zehn Jahre dauert, und andererseits Menschen per Gesetz das Prädikat eines „Ausübenden der Heilkunde“ zuerkannt und diesen damit Tür und Tor für praktisch beliebige „Behandlungen“ von Menschen öffnet. Von der Integration unwirksamer Methoden in das öffentliche Gesundheitswesen gar nicht zu reden. Dies sind aus staatlicher Sicht ebenso Fehlleistungen, die zu korrigieren sind.
Die Schutzschilde, die derzeit in der Heilpraktikerdebatte mit dem Argument der Entscheidungsfreiheit des Patienten, der Therapiefreiheit des Therapeuten und dergleichen mehr aufgebaut werden und mit denen im Grunde dem Staat ein Handlungsrecht verwehrt werden soll, sind deshalb eine Schimäre.
Wahrheit?
Es gibt noch eine weitere Perspektive, die untrennbar zu diesem Thema gehört, weil sie sich nicht mit dem formalen, sondern dem inhaltlichen Aspekt des Themas beschäftigt. Wir kommen von der richtig verstandenen Freiheit zur richtig verstandenen Wahrheit. Beides ist für rationale Entscheidungen, auch und gerade im gesetzgeberischen Bereich, grundlegend.
Greifen wir nochmals den eben erwähnten Gesichtspunkt auf, dass die Welt zu komplex ist, als dass wir uns ein Abgleiten in Irrationalität leisten könnten. Objektivität und Nachvollziehbarkeit sind die Grundlagen dessen, was mit dem Begriff „Wahrheitssuche“ redlicherweise assoziiert wird. Keine wilden Spekulationen, kein Wunschdenken, keine Vermutungen, keine Behauptungen, bis hin zur Behauptung, die Behauptung sei gar keine Behauptung, haben etwas mit dem Wahrheitsbegriff zu tun. Diese Linie menschlicher Grundeinsicht zieht sich von Platon und Aristoteles über Francis Bacon, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis in die Neuzeit mit Persönlichkeiten wie Bertrand Russell, Karl Raimund Popper und Hans Albert. Wo ist der Beweis? Diese einfache Frage ist der Schlüssel.
Die pseudomedizinische Szene appelliert im Zweifel aber nicht an Beweise, die diskreditiert sie lieber, sondern an Gefühle und an erratisch in den Raum gestellte Behauptungen. Wollen wir aber in einer Gesellschaft leben, in der Gefühle und Behauptungen als Beweis für etwas ausreichen sollen? Was ist dann „Wahrheit“? Wohin gelangen wir damit?
Ein Beispiel, sinnigerweise gerade hier bei uns viel kritisiert, liefert uns der amerikanische Präsident. Sinngemäß hat er so etwas schon oft geäußert, das Time Magazine liefert uns ein wörtliches Zitat: „Ich bin eine sehr instinktive Person. Aber es stellt sich heraus: Meine Instinkte sind richtig.“ Nun ja. Beispielsweise sagt ihm sein Instinkt klar und unbezweifelbar, dass Mehrfachimpfungen Autismus auslösen. Sein Gefühl sagt ihm, was richtig und wahr ist, ohne eine Spur von Selbstzweifel. Keine Chance für wissenschaftliche Fakten. Die gelten einfach nicht. Dazu kommt, die Zeit arbeitet unter solchen Bedingungen gegen die Wahrheit. Es ist belegt: Je öfter man eine Behauptung hört oder liest, desto eher wird sie für wahr gehalten. Dieser Effekt ist sehr mächtig und wird meiner Ansicht nach weit unterschätzt. Weiter oben gibt es ein Beispiel: Die Verankerung sozialer Reputation durch den „Segen des Gesetzgebers“ für haltlose Mittel und Methoden.
Nun bin ich der Letzte, der einen Begriff wie den der vollständigen Wahrheit im Sinne von unumstößlicher Gewissheit vertritt. Wissenschaft ist systematische Annäherung an eine „Wahrheit“, nicht mehr. Aber: Der jeweilige Stand der Wissenschaft ist nun einmal der höchste Grad von Wahrheit, über den wir verfügen. Die wissenschaftliche Methode des Verwerfens von Irrtümern und das Integrieren neuer und besserer Erkenntnisse garantiert zudem im Grundsatz dafür, dass die Erkenntnis nicht wieder in frühere Stadien zurückfällt. Hier liegt der archimedische Punkt für das Streben nach „Wahrheit“. Nicht in Gefühlen, Instinkten, Beliebigkeit und Autoritätsgehabe. Wieso sollte denen ein Beweiswert zukommen?
Es scheint aber leider eine Entwicklung Platz zu greifen, die den Willen zur Wahrheitsfindung erodieren lässt. Hat die Beschwörung der Wahrheitssuche durch Nietzsche als „Überwindung des Nihilismus und Abschaffung von Irrtümern und Täuschungen“, also die Verbindung von Freiheit des Menschen und Wahrheitssuche (dem Thema dieses Beitrages), heute noch einen Wert im allgemeinen Bewusstsein?
Allein weil es notwendig ist, diese Frage überhaupt zu stellen, darf nicht jeder Beliebigkeit, jeder beleglosen Behauptung Raum gegeben werden. Auch dann nicht, wenn man sich damit dem Vorwurf der Ignoranz, der Engstirnigkeit und der Diskursverweigerung derer aussetzt, deren Wahrheit nur ihre eigene Behauptung ist. Man nennt solche Leute, die sich dem verweigern (und dafür oft genug angefeindet werden), Skeptiker. Ich würde mir wünschen, dass es solche Skeptiker gar nicht als abgrenzbare Gruppe geben müsste, vielmehr der „ganz normale Bürger“ auch die Anstrengung auf sich nehmen würde, mehr wissen zu wollen, mehr zu hinterfragen und sich wirklich instand zu setzen, sich ein Urteil zu bilden. Wo bleibt denn -so lange nach Kant- der Ausgang aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“? In den Kommentarspalten zu unserem Thema, der Pseudomedizin, finde ich die jedenfalls nur höchst selten. Wobei ich gern zugestehe, dass es hier nicht ohne Mühe abgeht. Daraus leitet sich aber nicht das Recht ab, platte Parolen einfach nachzubeten, völlig unlogische Statements abzugeben, schlichte Behauptungen ohne Beleg in die Welt zu setzen oder gar ausfallend zu werden und das dann für die Verteidigung der „Wahrheit“ zu halten.
Zurück zum Ausgangsthema:
Gemessen an diesen Überlegungen sind durchweg die Repliken der Heilpraktikerszene zu den Feststellungen und Forderungen des Münsteraner Memorandums nichts weniger als ein Ärgernis (von den Whataboutismen und den Ausfälligkeiten einmal ganz abgesehen). Wo ist der Beweis? Die „Antworten“ auf diese von den Skeptikern stets gestellte Frage ist ständige Faktenleugnung, Diffamierung der wissenschaftlichen Methode, Verschwörungstheorien gegen „die Ärzteschaft“ oder „BigPharma“ (die meines Wissens auch Homöopathen und Heilpraktikern ihre Mittel verfügbar macht), Unterstellung von Böswilligkeit und persönlichen Motiven und dergleichen mehr. Die Szene steht „argumentativ“ Trump deutlich näher als Kant. Bereits das -inzwischen stark überstrapazierte- Mittel der Online-Petition wird bemüht, wobei man natürlich wieder die Mischung aus Denunziation und einen unhaltbaren Wahrheitsbegriff im eben beschriebenen Sinne für angemessen hält: „Einige Schulmediziner, die in vielen Bereichen an ihre eigenen Grenzen stoßen, versuchen gerade den Beruf der Heilpraktiker einzuschränken oder gar abzuschaffen, um die ungeliebte Konkurrenz loszuwerden.“ So kann man es im Umfeld der Petition lesen. Wahrheit? Muss ich noch mehr sagen, angesichts des in diesem Beitrag Ausgeführten?
Wobei natürlich zu bedenken ist – wo sollten die Beweise, die Argumente der Heilpraktiker und sonstiger Vertreter der Alternativmedizin denn herkommen? Gibt es keine, dann würde intellektuelle Redlichkeit es erfordern, der kritischen Seite ihr Recht zuzugestehen. So etwas habe ich in all den Repliken der letzten knapp zwei Wochen allerdings an keiner einzigen Stelle gefunden.
Meine Empfehlung zum Schluss:

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