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Die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit der Menschheit, ihrem Umfang und ihren Grenzen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Wissenschaften. Dabei haben sich zwei große Lager herausgebildet: die Naturwissenschaften, die sich empirisch-experimentell der Welt annähern, und die Geisteswissenschaften, die das kulturelle, historische und normative Fundament unseres Daseins analysieren. Diese beiden Ansätze wirken auf den ersten Blick wie getrennte Sphären, doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie nicht nur in einem Boot sitzen, sondern auch voneinander lernen könnten – wären sie bereit, ihre jeweiligen „Navigationsweisen“ gegenseitig zu verstehen.

Empirismus und Plausibilität: Die Gefahr der „reinen Empirie“

Ein Schlüsselproblem moderner Wissenschaftspraxis ist die Überbewertung der Empirie, wohl immer noch ein Echo der ungeheuren Erfolge der empirischen Wissenschaften in den frühen Zeiten der Aufklärung. Die naturwissenschaftliche Methode, mit ihrem Fokus auf experimenteller Reproduzierbarkeit und empirischer Messbarkeit, hat unbestreitbare Erfolge erzielt. Doch sie hat auch eine Art methodologischen Tunnelblick hervorgebracht. Dies zeigt sich besonders deutlich in Bereichen wie der Homöopathieforschung oder den Psi-Experimenten von Daryl Bem, wo empirische Studien scheinbar „Beweise“ für wissenschaftlich unplausible Hypothesen liefern.

Die Arbeiten von John Ioannidis, insbesondere Why Most Published Research Findings Are False, haben offengelegt, wie systematische Verzerrungen die wissenschaftliche Literatur prägen. Kleine Stichproben, selektive Publikation signifikanter Ergebnisse (Publication Bias) und das Missverstehen des p-Wertes (statistische Signifikanz) als Wahrheitskriterium sind nur einige der Probleme. Der Fall Bem zeigt ebenso wie die „zahlreichen positiven Studien zur Homöopathie“, dass selbst methodologisch solide durchgeführte Studien zu falschen Schlussfolgerungen führen können, wenn die Ausgangshypothesen jeglicher Plausibilität entbehren. Hier wäre eine „gesamtheitliche“ Betrachtung gefragt, die empirische Daten in den Kontext theoretischer und ontologischer Plausibilität stellt.

Ontologischer Naturalismus: Eine Brücke zwischen den Disziplinen?

Bems Versuche, eine naturwissenschaftlich unplausible Hypothese (die Existenz präkognitiver Fähigkeiten) mit empirischen Methoden zu überprüfen, illustrieren einen zentralen Konflikt: den zwischen wissenschaftlicher Methodologie und ontologischer Plausibilität. Dieser Konflikt weist auf den sogenannten schwachen ontologischen Naturalismus hin – die Idee, dass wissenschaftliche Methodik auch dann angewandt werden darf, wenn die Hypothese nicht in das etablierte naturwissenschaftliche Weltbild passt.

Dieser Ansatz hat unbestreitbare Vorzüge: Er bewahrt die Offenheit der Wissenschaft gegenüber neuen, unerwarteten Erkenntnissen. Gleichzeitig birgt er die Gefahr, dass wissenschaftliche Ressourcen für Studien verschwendet werden, die von vornherein keine Aussicht auf valide Ergebnisse haben. Hier könnte die geisteswissenschaftliche Reflexion zur Klärung beitragen: Was macht eine Hypothese plausibel? Was macht sie in hohem Maße unplausibel? Welche ontologischen Annahmen sollten vorab geklärt werden? Der schwache ontologische Naturalismus ist ja kein Freibrief für freischwebende Forschungsthemen, im Gegenteil. Die Geisteswissenschaften könnten so helfen, die Naturwissenschaften vor methodischem Leerlauf zu bewahren.

Im Falle der Homöopathieforschung fällt die ontologische Betrachtung nicht schwer: Der erhebliche Umfang bisheriger Forschung hat bei kritischer Betrachtung bisher gar keinen Beleg für die Existenz eines realen Effekts homöopathischer Therapien (über Kontexteffekte hinaus) erbracht. Das stärkt die Grundannahme, dass Homöopathie per se unplausibel ist, ganz ungemein – und stellt die Homöopathie außerhalb des Bereichs sinnvoller ontologisch begründeter Forschung.

Die Replikationskrise: Ein Weckruf?

Die sogenannte Replikationskrise, die in der Psychologie und anderen Disziplinen auch als Folge der genauen Analyse von Daryl Bems Publikationen offenbar wurde, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig eine Besinnung auf die Grundlagen der Wissenschaft ist. Die Krise hat gezeigt, dass empirische Ergebnisse oft nicht reproduzierbar sind und somit die wissenschaftliche Aussagekraft vieler Studien infrage steht. Sie ist jedoch nicht nur ein methodisches Problem, sondern auch ein erkenntnistheoretisches: Wie gehen wir mit Unsicherheiten in der Wissenschaft um? Welche Rolle spielen Plausibilität und Theorie in der Bewertung empirischer Ergebnisse? Wie verwerflich ist es, fehlgehende Replikationen in der Schublade verschwinden zu lassen, statt sie offen zu publizieren (Publikationsbias)? Wie sehr fördert die wissenschaftliche Publikationspraxis, die auf Neues und „Sensation“ erpicht ist, solche Fehlentwicklungen?

Hier zeigt sich erneut die Notwendigkeit einer gesamtwissenschaftlichen Betrachtung. Die Geisteswissenschaften, insbesondere die Wissenschaftsphilosophie, können helfen, die methodologischen Schwächen der empirischen Wissenschaften zu reflektieren und zu beheben. Gleichzeitig sollten die Geisteswissenschaften die Strenge der naturwissenschaftlichen Methodologie als Ansporn nehmen, ihre eigenen Ansätze zu schärfen und empirische Methoden dort einzusetzen, wo sie sinnvoll sind.

Was tun? Ein Plädoyer für die Interdisziplinarität

Die Frage „Was können wir wissen?“ kann weder von den Geistes- noch von den Naturwissenschaften allein beantwortet werden. Beide Disziplinen müssen erkennen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Die Naturwissenschaften brauchen die geisteswissenschaftliche Reflexion, um die Plausibilität und Relevanz ihrer Hypothesen zu prüfen. Die Geisteswissenschaften wiederum können von der Strenge und empirischen Validierung der Naturwissenschaften lernen.

Ein erster Schritt könnte sein, die Ausbildung in beiden Bereichen interdisziplinärer zu gestalten. Naturwissenschaftler sollten fundierte Kenntnisse in Wissenschaftsphilosophie und Statistik erwerben, um die methodologischen Grenzen ihrer Disziplin besser zu verstehen. Geisteswissenschaftler wiederum könnten verstärkt empirische Methoden einsetzen und ihre Ergebnisse in engerem Austausch mit den Naturwissenschaften interpretieren.

Darüber hinaus sollten Wissenschaftsjournale und -institutionen Anreize für interdisziplinäre Forschung schaffen. Studien, die empirische und theoretische Ansätze kombinieren, könnten priorisiert werden. Gleichzeitig müssen Replikationsstudien und theoretische Arbeiten mehr Anerkennung erfahren, um die wissenschaftliche Basis zu stärken. Letzteres gilt auch und gerade für die wissenschaftliche Publikationspraxis.

Fazit

Die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften ist weniger eine ontologische Notwendigkeit als eine historische Entwicklung. Beide Disziplinen teilen das Ziel, die Welt besser zu verstehen, auch wenn ihre Methoden und Perspektiven unterschiedlich sind. Die großen Herausforderungen der modernen Wissenschaft – von der Replikationskrise bis zur Überbewertung der Empirie – zeigen, dass wir eine gesamtwissenschaftliche Perspektive brauchen, die Empirie, Theorie und Reflexion vereint. Nur so können wir dem Ideal der Wissenschaft gerecht werden: der Suche nach Wahrheit in einer komplexen Welt. Für eine Konkurrenz oder gar eine Prioritätendebatte zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist bei dieser Betrachtungsweise kein Raum. Wo sie aufscheint oder gar ausgetragen werden soll, stimmt etwas nicht.