Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

Schlagwort: Pseudowissenschaftlich

Schüßler-Salze, Bachblüten, Homöopathie – ja was denn nun?

Heute war ich beim Podcast „Grams‘ Sprechstunde“ bei der sehr geschätzten Dr. Natalie Grams zu Gast – zu meiner Freude schon zum dritten Mal. Heute ging es – nach Zuhörerwunsch – um Schüßler-Salze und Bach-Blüten, ihre Einordnung aus medizinwissenschaftlicher Perspektive und vor allem um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede untereinander und im Verhältnis zur Homöopathie. Ja, mir ist durchaus bekannt, dass beide „Medizinen“ in den Apotheken gut nachgefragt sind und über die Theke gehen. Ohne dass dort hinreichende Klarheit geschaffen wird. Deshalb!

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Und das in einer halben Stunde …? Wir haben es versucht. Mir ist dabei klar geworden, dass ich dazu auch einmal etwas aufschreiben muss. Also dann!


Was vermutlich zunächst überrascht, denn dies vermitteln einem weder die Bekannten mit den „guten Erfahrungen“ noch erfährt man (in der Regel) dazu etwas in der Apotheke: Weder Bach-Blüten noch Schüßler-Salze kann man als Homöopathie bezeichnen und jedenfalls klassische und genuine Homöopathen (die, die noch halbwegs nach Hahnemanns Lehre arbeiten und noch nicht vollends ins Reich der Fantasie abgedriftet sind) werden das auch weit von sich weisen.

Beiden fehlen die tragenden Aspekte von Hahnemanns Homöopathie. Schüßler und Bach berufen sich weder auf Ähnlichkeitsprinzip noch auf rituelle Potenzierung (also die Kombination von Verdünnen und Schütteln und die damit einhergehende „Wirkungsverstärkung“). Bach immerhin setzt auf „Schwingungen“ und ist damit nicht so weit weg von Hahnemanns „geistiger Arzneikraft“ – Schüßler braucht die nur an einer einzigen Stelle seiner Lehre (wir kommen darauf zurück) – und verstand das damals durchaus nicht als esoterisch.

Oha!?

Ja, tatsächlich. Und es kommt noch toller.

Denn Schüßler-Salze gelten als Arzneimittel, woraus folgt, dass sie ausschließlich in der Apotheke erhältlich sind. Bach-Blüten dagegen sind rechtlich als Lebensmittel eingestuft!

Bitte???

Wilhelm Schüßlers „Biochemische Methode“

Ja, tatsächlich. Nach der EU-Arzneimittelrichtlinie ist Homöopathie alles, was nach homöopathischen Prinzipien hergestellt ist. Offensichtlich wird das weit ausgelegt – nur, weil die Schüßler-Salze als D6- und D12-Dilutionen (also Verdünnungen) angeboten werden, sind sie – was offenbar sogar Apothekerkammern manchmal nicht wissen – im Auge des Gesetzes Homöopathie. Der Begriff „Potenzen“ im homöopathischen Sinne ist aber ja gar nicht angebracht! Denn hier bei den Salzen sind es ja tatsächlich nur Verdünnungen, wie es Schüßler umfangreich beschrieb und begründete – und Schüßler bezweckte damit auch etwas ganz anderes als die Freisetzung einer „immer stärker werdenden geistigen Arzneikraft“, was der Sinn der eigentlichen homöopathischen „Potenzierung“ ist. Er sagte auch ganz klar, seine Methode sei „keine homöopathische“.

Man mag also durchaus an der Berechtigung zweifeln, den Schüßler-Salzen als „nach homöopathischen Grundsätzen hergestellten“ Mitteln die Arzneimitteleigenschaft zuzugestehen. Gleichwohl ist eine D6 – bis auf drei von Schüßlers 12 Mitteln die Regel – schon eine Verdünnung von 1 zu einer Million und damit die Grenze, an der die natürlichen Verunreinigungen in selbst für Laborzwecke aufgereinigten Lösungsmitteln (im Falle Schüßlers durch Verreibungsschritte mit Milchzucker) den Rest des Urstoffes übersteigt. Interessanterweise gab es den eigentlich daraus folgenden Einwand, es müssten daher stets auch (alle) anderen Mineralstoffe in etwa D6 bis D8 in seinen Salzen stecken, eingebracht durch das Lösungs- bzw. Verreibungsmittel, schon zu Schüßlers Zeiten. Er bemüht sich in seinem Büchlein wortreich, das als irrelevant hinzustellen, was es aber durchaus nicht ist.

Mit seiner von ihm selbst als „Biochemie“ bezeichneten Heilweise entfernte er sich unterm Strich also maximal von homöopathischen Grundsätzen. Obwohl er als Homöopath begonnen hatte (ein wenig zwangsweise, denn seine ärztliche Zulassung nach einem abgebrochenen Studium war einigermaßen dubios und er erhielt sie nur für eine homöopathische Praxis). Dann aber begann er, sich von der Homöopathie zu lösen – sie war ihm zu kompliziert. Eigentlich wollte er nur „weniger Mittel“ haben. Als er dann aber das Ähnlichkeitsprinzip verneinte und sich für Hahnemanns Potenzierungsidee (Wirkungszunahme durch Rituale während des Verdünnens) nicht die Bohne interessierte, wurden die Homöopathen einigermaßen ungehalten und kritisierten ihn scharf. Sie waren nicht bereit, Schüßlers „Biochemie“ als Homöopathie anzuerkennen. Die Sache eskalierte ordentlich und endete damit, dass Schüßler aus dem Zentralverein homöopathischer Ärzte austrat. Er war – nicht nur in diesem Fall – als ein streitlustiger Herr bekannt, der keine Gelegenheit ausließ, auf seinen Kritikern herumzuhacken.

Gleichwohl kann man aus vielen seiner Äußerungen entnehmen, dass er seine Methode als eine Art Bindeglied zwischen Homöopathie (die er nicht etwa gänzlich verwarf) und der sich gerade entwickelnden wissenschaftlichen Medizin ansah. Ursprünglich bezeichnete Schüßler seine Methode ja auch als eine „abgekürzte Homöopathie“ – er empfand sich wohl tatsächlich gleichzeitig in der Nachfolge Hahnemanns und als Jünger Rudolf Virchows, des Entdeckers der Zellularpathologie. Der wird sich gefreut haben …

Was die wissenschaftliche Beleglage angeht: es gibt überhaupt keine wissenschaftlichen Studien zu Schüßler-Salzen und ihrer Wirksamkeit. Keine einzige. Nichts zu finden in den medizinischen Datenbanken. Da müssen wir schon mal zurückgehen bis ins Jahr 1904, als das Preußische Ministerium für Medizinal-Angelegenheiten eine Begutachtung von Schüßlers Methode beauftragte. Die fiel ziemlich verheerend aus und der Gutachter hatte kein Problem damit, anzudeuten, dass es sich hier entweder um einen Scharlatan oder einen „Schwachsinnigen“ handeln müsse. So stand es drin. Wir wollen da nicht urteilen, skurrile Methoden gab es damals wie Sand am Meer, zumal seit 1869 in den Ländern des Deutschen Bundes und ab 1871 dann im Deutschen Reich die „Kurierfreiheit“ galt, also jedermann ungehindert „Heilkunde“ ausüben konnte. Ärzten schien man allerdings durchaus auf die Finger geschaut zu haben.

Interessant ist für uns vor allem, wie populär die Methode noch heutzutage ist. Wozu vielleicht auch beiträgt, dass heute die Bezeichnung „Biochemie“ eine Nähe zur wissenschaftlichen Biochemie suggeriert, was aber wieder eine Sache für sich ist. Zu Schüßlers Zeiten steckte das, was heute als Biochemie bezeichnet wird, gerade mal in den Kinderschuhen und nannte sich „physiologische Chemie“. Durch den Namenswandel dieser Disziplin geriet Schüßlers „Biochemie“ irgendwie in deren Nähe, obwohl er sich in seinem Büchlein von der „Biochemischen Heilweise“ selbst wiederum von der „physiologischen Chemie“ abgrenzte. Was wohl nur dem Wunsch geschuldet war, etwas Eigenes, Originales geschaffen zu haben. Näheres gleich, erstmal kurz zu Edward Bach, dessen Namen die bekannten Mittelchen tragen, die haben also mit Blüten an Bächen nur vielleicht rein zufällig mal was zu tun.

Edward Bachs Blütenessenzen

Bach kam auch von der Homöopathie. So richtig überzeugt davon scheint er aber nie gewesen zu sein. Er suchte wohl zeitlebens nach der „einen“ Krankheitsursache und einem „universellen“ Heilmittel (Schwurbelalarm!) und neigte dabei Mystizismus und Pseudopsychologie zu. Nachdem er ein Jahr lang zu Nosoden (homöopathische Zubereitungen aus pathogenem Material) „geforscht“ hatte, eröffnete er eine Landarztpraxis. Aber auch die schloss er ziemlich bald wieder (offenbar konnte er sich das erlauben) und machte sich künftig nur noch auf die Suche nach seiner universellen Heilmethode. Seine Überzeugung, dass alle (!) Krankheiten nur Folge psychologischer Befindlichkeiten und Zustände seien, hatte er da bereits gefasst. Von der Homöopathie war er da schon weit weg.

Das „universelle Heilmittel“ – und zwar nicht gegen die Krankheiten, sondern gegen die „eine Ursache“, die Störung des seelischen Gleichgewichts – fand er in den „Schwingungen“ von Blütenessenzen. Wie kam er nun darauf? Nun, rein „intuitiv“, oder anders ausgedrückt: er hat sich das mit erheblicher Fantasie so ausgedacht. Wozu passt, dass er selbst nie auch nur auf die Idee kam, einen Wirkungsnachweis für seine Mittelchen zu führen,

Wie kam er nun auf die Zuordnung von Pflanzen zu Zuständen von Psyche und Gemüt und von da aus zu Krankheitsbildern? Wie seine damalige Assistentin berichtete (und er selbst auch in seinem Buch „Zwölf Heiler“ beschrieb) spürte er bei der „Begegnung“ mit Pflanzen selbst ganz deutlich die Art von Verstimmung, gegen die diese geeignet sein würden. Im Zweifel legte er sich ein Blütenblatt oder ein anderes kleines Stück der Pflanze auf die Zunge und damit war dann die Forschung abgeschlossen. Mehr Esoterik geht allenfalls noch in der Anthroposophie.

Bach stellte seine Pflanzen in einem Wasserkübel entweder eine Weile in die Sonne oder – im Falle von eher holzigen und festen Pflanzenteilen – kochte er sie schlicht ab. Anfänglich sammelte er den Morgentau von den Blüten, das erwies sich für ein größer angelegtes Geschäftsmodell allerdings als schwierig … Und Achtung! Was finden wir hier wieder im Hintergrund mitschwingen? Das Wassergedächtnis …

Die Sache mit den Tautropfen ist schon länger passé …
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Er verdünnte diesen Pflanzensud (der letztlich qualitativ und quantitativ undefinierbare Stoffe zum Inhalt hatte) zur Hälfte mit Cognac oder Brandy. Tja … es sei aber angemerkt, dass er damit keinen medizinischen Zweck verfolgte, sondern wohl nur eine Art Keimfreimachen. Irgendwas mit Potenzen gabs bei ihm nicht, vor allem keine definierten Potenzstufen. Und das ist der Punkt, der ihn aus der Definition von Homöopathie herausfallen ließ. Daran ändert auch nichts die Anweisung, diese dann als „Bach Stockbottles“ vertriebenen Lösungen zur Einnahme nochmal mit einigen Tropfen auf ein Glas Wasser zu verdünnen. So ist man ohnehin auf jeden Fall schon in der Größenordnung jenseits jeder physiologischen Wirksamkeits-Wahrscheinlichkeit angekommen. Aber das ist ja egal, es geht ja nur um die Schwingungen!

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Eine andere Sache ist, dass es Menschen gibt, die sich an die Sache mit den paar Tropfen nicht halten – und bei wiederholter gering oder gar nicht verdünnter Einnahme oder gar dem Konsum ganzer Stockbottles eine gewisse Menge Alkohol zu sich nehmen. Der Alkoholanteil von Bachblütenessenzen liegt etwa bei 27 Volumenprozent. Nicht schlecht! Oktoberfestbier hat etwa sechs Volumenprozent. Ein Fall eines bösen Alkoholiker-Rückfalls dadurch ist tatsächlich dokumentiert.

Für Kinder – insbesondere Säuglinge und Kleinkinder – würde ich persönlich allein wegen des Alkoholgehaltes Bach-Blüten gar nicht in Erwägung ziehen (abgesehen davon, dass ich das ohnehin nicht tun würde). Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA empfiehlt schon lange, Neugeborenen und Kindern bis zu 2 Jahren überhaupt keine „pflanzlichen“ Mittel auf alkoholischer Basis zu verabreichen sowie dies bei Älteren zu minimieren. Es gibt eine Absichtserklärung der EU-Kommission, dazu auf Sicht eine europäische Harmonisierung mit dem Endziel anzustreben, Alkohol generell aus Medikationen für Kinder und Heranwachsende zu verbannen. Warum, glaubt ihr wohl, ist vor einigen Jahren das jahrzehntelang „beliebteste Erkältungsmittel Deutschlands“, Meditonsin-Tropfen, plötzlich auch als Globuli auf den Markt gekommen?

Die hauptsächliche Parallele Bachs zu Hahnemann ist also das Setzen auf eine Art „geistigen“, jedenfalls „immateriellen“ Agens als Grundlage einer Wirkung. Ob das nun „Energie“ oder „Schwingung“ oder „feinstofflich“ heißt (Bezeichnungen, die heute auch „modern“ für Hahnemanns „geistige Arzneikraft“ verwendet werden), läuft auf das Gleiche hinaus, Denn diese Begriffe werden entweder nicht im klar definierten physikalischen Sinne verwendet (Energie, Schwingung) oder sind leere Worte (feinstofflich). Und an dieser Stelle wird klar, dass insofern Bach dem guten alten Samuel Hahnemann eigentlich nähersteht als Schüßler (der „Feinstofflichkeit“ nur als Erklärung braucht, wie die Mineralsalze in die Zelle gelangen sollen), obwohl wiederum anders als dessen Salze Bachs Essenzen rechtlich nicht als Homöopathie und damit auch nicht Arzneimittel … alles klar?!?

Ich sag ja, Gemengelage. Gepflegter Irrsinn, möchte man fast sagen.

Para- und Pseudowissenschaft

Beide Methoden balancieren auf der Grenze zwischen Para- und Pseudowissenschaft. Was uns Gelegenheit gibt, auch zu diesen Begriffen einmal Klarheit zu schaffen: Pseudowissenschaft nimmt für sich Wissenschaftlichkeit in Anspruch, ohne dafür die notwendigen Belege beibringen zu können (und meist ohne die „Spielregeln“ der Wissenschaft zu akzeptieren). Eine Pseudowissenschaft in diesem Sinne ist klassischerweise die Homöopathie oder auch die sogenannte „ernsthafte“ Astrologie.

Eine Parawissenschaft dagegen ist der klassische „Schwurbel“, der sich in Spekulationen und kühnen Behauptungen ergeht, aber gar nicht den „Ehrgeiz“ hat, das auf eine Ebene von Wissenschaftlichkeit zu heben – oder Wissenschaft glatt ablehnt. Wahrsagerei und Hellsehen zum Beispiel. So wie auch manches auf dem sogenannten „grauen Gesundheitsmarkt“, der dank eines lahmenden und hinkenden Verbraucherschutzes im Gesundheitswesen hierzulande sozusagen hinter jeder Ecke anzutreffen ist. Bach hatte offensichtlich keinen Ehrgeiz, sich wissenschaftlich zu etablieren, der wäre also ein formvollendeter Parawissenschaftler. Schüßler sah das zwar anders, aber er genügte sich wohl selbst in seinem Bewusstsein, sowohl Jünger von Hahnemann als auch von Virchow zu sein – bei ihm kommt ja auch noch das Fehlen jeglichen Versuches dazu, seine Methode nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu belegen. Andererseits wird er durch die Einbeziehung in den rechtlichen Begriff der homöopathischen Mittel wieder auf eine gewisse Ebene gehoben …

Sicher ist klar geworden, warum ich beide in der Grauzone zwischen Para- und Pseudowissenschaft verorte. Aber das nur zur Klärung nebenbei.

Jetzt aber noch ein wenig Wissenswertes zu den Therapievorschlägen beider Herren.

Schüßler setzte sich dadurch von den Homöopathen ab, indem er das Ähnlichkeitsprinzip durch seine biochemischen Überlegungen ersetzte und eine Wirkungszunahme durch Potenzierung nicht brauchte, nicht einmal irgendwo erwähnte, sondern mit umfangreichen physiologischen Begründungen auf „Verdünnung“ (bzw. auf Verreibung) „bis zur 6. Decimalstufe“) setzte. Schüßler selbst benutzte nie den Begriff „Potenzierung“, er interessierte sich offensichtlich nicht dafür.

Verdünnungen!!!
Quelle: Digitalisat der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) 

Gleichwohl liest man überall auf Schüßler-Infoseiten von „Potenzierung“, doch ist das ein von der Homöopathie mit einem bestimmten Bedeutungsinhalt geprägter Begriff (Verdünnen unter gleichzeitigem rituellem Schütteln, was eine „Wirkungszunahme der geistigen Arzneikraft“ bewirken soll), der bei Schüßler-Salzen durchaus unangebracht ist. Möchte man hier eine Nähe zur Homöopathie suggerieren? Oder wird das gar nicht mehr reflektiert?

Wichtig zu wissen ist, dass Schüßler mit seinen Salzen gar nicht direkt supplementieren, also Mineralstoffmängel ausgleichen wollte. Nein, obwohl er seine Lehre – anders als Hahnemann – auf gerade einmal 80 Druckseiten niederlegen konnte, war es schon etwas komplizierter. Er stellte sich vor, dass die Aufnahmefähigkeit für die essenziellen Mineralstoffe in den Zellen gestört sei, was zu einem zellulären Mangel führe und damit Krankheitserscheinungen aufrechterhalte. Aufrechterhalte? Ja, denn Auslöser dieser „Störung“ sei gerade die zu behandelnde Krankheit selbst, weil ihr pathogener „Reiz“ dazu führe, dass sich die Zellen sozusagen verausgaben und damit ihren Mineralstoffvorrat verlieren würden. Schüßlers Mittel bezwecken dabei aber nur, auf die Zellen einen gegenteiligen Reiz auszuüben, einen Anstoß, damit sie wieder ordentlich ihre Pflicht tun und die notwendigen Stoffe aus der Nahrung wieder aufnehmen. Er präzisierte dabei sogar, dass dazu die Zellen genau 26 Moleküle des Salzes aufnehmen müssten. Niemand weiß, wie er darauf kam und weshalb er annahm, genau dies werde exakt durch seine D6 – oder D12-Verdünnungen erreicht. An dieser Stelle kommt auf einmal beim so rationalen Schüßler doch wieder die „Feinstofflichkeit“ ins Spiel mit ihren „Schwingungen“ – damit erklärt er nämlich, wie die Moleküle ins Innere der Zellen gelangen sollen. Gar nicht mal so unkompliziert, oder?

Nun, wie dem auch sei. Jedenfalls durchaus folgerichtig schrieb Schüßler, damit dieser „Anstoß“ für die Zellen auch seinen Zweck erreicht, nach der Einnahme seiner Salze eine spezielle Diät vor, die dann die eigentliche Supplementierung (den Mangelausgleich) über die nun „aufnahmebereiten Zellen“ vornehmen solle. Erfährt man das in irgendeiner Apotheke? Weiß man das dort überhaupt? Oder lässt man die Leute in dem Irrglauben, sie würden allen Ernstes einem Mineralstoffmangel entgegenwirken?

Leider wohl ja – Natalie Grams brachte in unserem Gespräch das Beispiel, dass etliche SportlerInnen Magnesiummangel auszugleichen oder vorzubeugen glauben, wenn sie Schüßlers Salz Nr. 7 (Magnesiumphosphat) einnehmen … Und die so beliebte „heiße Sieben“? Genauso wenig wirksam wie alle anderen Stoffe Schüßlers, sie ist wohl irgendwie „populär“ geworden, weil die Nr. 7 das einzige Präparat war, bei dem Schüßler ein Auflösen in Wasser vorgeschrieben hat. Alle anderen Salze sollen schon direkt über die Mundschleimhaut, spätestens über die Schleimhaut der Speiseröhre aufgenommen werden. Schüßler befürchtete, dass seine „26 Moleküle“ im Verdauungstrakt Schaden nehmen oder chemisch ungewollt zu anderen Verbindungen reduziert werden könnten. Auch dazu habe ich bislang in Apotheken noch nie etwas gehört ….

Schüßler hat also ein ganzes Therapiesystem geschaffen, bei dem es – selbst angenommen, es sei richtig – absurd wäre, sich auf die Einnahme der Salze zu beschränken. Zudem muss – Therapie setzt Diagnose voraus – erst einmal festgestellt werden, an welchem „Mangel“ im Schüßler’schen Sinne der Patient oder die Patientin denn eigentlich leiden. Auch dafür hat Schüßler seine spezielle Methode: die Antlitzanalyse. Man soll tatsächlich am Gesicht erkennen können, was Sache ist. Diese großartige Idee wurde übrigens von einem ehemaligen Polizeisekretär namens Kurt Hickethier aufgenommen, der zwei „Genesungsanstalten“ betrieb und die Antlitzanalyse zu einen ausgetüftelten „System“ namens „Sonnerschau“ entwickelte. Und die findet sich noch heute im Diagnostikrepertoire manches Heilpraktikers wieder, durchaus auch ganz unabhängig von Schüßlers System.

Hand aufs Herz, liebe Schüßler-Fans: wann hat zuletzt jemand in der Apotheke durch einen längeren Blick in euer Antlitz gecheckt, ob ihr auch nach dem richtigen Schüßler-Salz verlangt? Na? Obwohl ich schon weiß, dass es so etwas hier und da in Apotheken, die dem „Alternativen“ zugeneigt sind, als „Kundenservice“ durchaus gibt, oft ganz ohne Zusammenhang mit Schüßler-Salzen.

Noch einen obendrauf: Schüßler meinte, die Antlitzanalyse sei rein intuitiv und könne nicht durch Beschreibungen oder Schaubilder erlernt werden. Was Hickethier nicht weiter scherte. So ist das nun mal im Paralleluniversum.


Noch genug Kondition für ein bisschen Bachblütenkunde?

Vielleicht ist schon mal aufgefallen, dass man die Blütenessenzen mit den Stockbottles auch nur in Apotheken bekommt (und bei bestimmten, meist in England beheimateten Versandhändlern). Wie das? Liegt daran, dass der Originallieferant mit Lizenz der Bach-Stiftung, die Firma Nelsons, nur an Apotheken exportiert – kein schlechter Schachzug. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von „Derivaten“, also von Bachs Essenzen „abgeleiteten“ Präparaten, von Alpenblüten bis zu Himalayablüten, die aber nicht die Bezeichnung Bach-Blüten führen dürfen. Die Optik der bekannten Original-Stockbottles mit dem Bach-Schriftzug tut das Übrige in Sachen Kundenbindung.

Werfen wir noch einen Blick auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Hahnemann und Bach. Und zwar auf die Hahnemannsche und die Bachsche Ätiologie, also die jeweilige Lehre von der Ursache und der Entstehung von Krankheiten. Hahnemann vermied zeitlebens eine Kategorisierung von „Krankheit“ und lehnte ein Konzept überindividuell gleichförmig auftretender Krankheiten ab – er sprach ja nur davon, dass von „Krankheit“ nicht mehr zu erkennen sei als die außen wahrnehmbare individuelle Symptomatik. Daraus folgt Hahnemanns Postulat einer individuellen „verstimmten geistigen Lebenskraft“, der eine „geistige Arzneikraft“ mit der Auslösung einer auslöschenden „Kunstkrankheit“ entgegenwirken soll. Was dann wiederum die Basis für die vielgepriesene „Individualität“ der homöopathischen Therapie bildet und ebenso die Grundlage für die stetige abstruse Behauptung, die „Schulmedizin“ behandle keine Ursachen, sondern Symptome.

Bei Bach findet sich davon nichts. Dessen „Ätiologie“ zeichnet sich gegenüber Hahnemann (bei dem wir den Stand des Wissens in der ersten Hälfte des 19. Jh. zugrunde legen müssen) immerhin in den 1930er Jahren (!) durch ausufernd subjektive, damit inkonsistente reine Annahmen aus, bei der er gar nicht erst den Versuch unternahm, diese zu validieren (also auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen). Zwar war seine These, alle Krankheiten hätten ihre Ursache in seelischen Verstimmungszuständen („unharmonischen Schwingungen“), damals irgendwie so etwas wie ein Zeitgeistphänomen, wenn nicht gar ein Hype, aber gegenüber Hahnemanns Zeiten war die wissenschaftliche Medizin einschließlich der Ätiologie schon weit entwickelt. Bach scheint das – obwohl studierter Mediziner – gleichgültig gewesen zu sein, typisch Paramediziner.

Die Ausschließlichkeit aber, mit der Bach diese These allein psychische Ursachen für sämtliche Krankheitszustände in Anspruch nahm, diskreditierte seine Ätiologie aber schon damals. Sein nächster Schritt führte nun vollends ins Unbelegt-Subjektive. Schlicht aufgrund seiner „Intuition“ ordnete er „seelische Verstimmungszustände“ einzelnen Pflanzen zu. Und nicht nur das. Als Grundfolie der „Verstimmungszustände“ verwendete er die Archetypenlehre von C.G. Jung eine sehr vom – heute als unwissenschaftlich qualifizierten – Übervater Freud beeinflussten Psychologie (bei der Archetypenlehre z.B. spielt die Lehre vom „Unbewussten“ noch eine wesentliche Rolle). Möglicherweise sah er in dem einer gewissen Mystik (Traumlehre) durchaus zugeneigten Jung so etwas wie einen ideellen Partner …

Gerade der Anspruch, seelische, psychopathologisch einzuordnende Zustände und Befindlichkeiten nach „Archetypen des kollektiven Unbewussten“ mit den Blütenessenzen per „Schwingungsausgleich“ beeinflussen und damit die aus den Verstimmungszuständen erst folgenden Krankheiten kurieren zu wollen, ist das so Bedenkliche an der Pseudomethode Bach-Blüten. Man schaue sich nur einmal die Auswüchse an, die sich inzwischen auch in Apotheken zeigen; Bachblüten-Drops oder Gummibonbons gegen Schulangst … ich erspare uns hier weitere Beispiele. Zu suggerieren, regelrechte psychopathologische Krankheitszustände (teils deutlich über alltägliche Befindlichkeitsstörungen hinaus, die einen Griff zu Medikationen ohnehin gar nicht rechtfertigen) als eigentliche Krankheitsursache beheben zu können, macht die Bach-Blüten zu potenziell sehr kritischen und auch unethischen Mitteln. Hier wird suggeriert, dass es nur geringen Aufwandes bedarf, um wieder „in Ordnung zu kommen“ – fatal bei der ohnehin stark empfundenen Hemmschwelle, fachliche psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das ist der eigentlich wirklich fatale Punkt an der ganzen Bachblütengeschichte.

Man wird festhalten müssen, dass Bach ein Sonderling war, der – bei allen Unterschieden von der Homöopathie mitgeprägt – über den Weg einer esoterisch fundierten Naturverklärung zu seinen völlig subjektiven Thesen kam, die er selbst nie irgendwie empirisch prüfte und die auch in späteren Zeiten rigoroser empirischer Prüfung nicht standhielten. Es gibt trotz Bachs Desinteresse an wissenschaftlichen Belegen einiges an Studien (anders als bei den Schüßler-Salzen), sogar einige systematische Reviews der Studienlage. Erwartungsgemäß kommt keine dieser Arbeiten auch nur in die Nähe eines Belegs für eine medizinisch relevante Wirksamkeit.

Es verwundert auch nicht, dass Bachs mystisch-esoterisch zu verortende „Blütentherapie“ nach seinem Tode erst einmal schnell in Vergessenheit geriet und irgendwann (als sich ein Geschäftsmodell in der „New-Age-Ära“ der 1970er Jahre abzeichnete) recht plötzlich wieder das Tageslicht erblickte. Dass Bach-Blüten rechtlich Lebensmittel sind (und um ein Haar als alkoholische Getränke eingestuft worden wären) wissen die wenigsten Konsumenten. Damit ist die Werbung mit allzu konkreten gesundheitsbezogenen Aussagen sehr beschränkt, es ist nicht mehr möglich als das, was die Health-Claim-Verordnung der EU zulässt (z.B. allgemeine Aussagen zur Stärkung des Immunsystems, was ich auch schon für problematisch halte – und was arzneimittelrechtlich in Bezug auf Homöopathie schon untersagt wurde). Andererseits wirkt dann natürlich wieder der Verkauf in Apotheken vertrauensbildend. Über Inhalt und Qualität der Beratung dort wollen wir nicht spekulieren.

Übrigens wurde für das populärste aller Bach-Mittel, die sogenannten Rescue-Tropfen (Kombination aus fünf Einzelmitteln, die sozusagen als Expressmedikament für und gegen fast alles wirken sollen) vor nicht langer Zeit durch den Europäischen Gerichtshof diese Bezeichnung untersagt. In dem Wort „Rescue“ sahen die Richter eine gesundheitsbezogene Aussage, die die Schwelle der Health-Claim-Verordnung überschreite. Woraufhin Nelsons aus der Not eine Tugend machte, eine Werbekampagne startete und den neuen Begriff „Rescura“ massiv bewarb. So geht das!

Jetzt ist es aber genug …

Jetzt wisst ihr so ungefähr Bescheid, Bach und Schüßler sind im Grunde schöne Beispiele für die Zeitgebundenheit früherer medizinischer Ideen. Wir wollen uns allerdings nicht davon freisprechen, dass möglicherweise das, was wir heute für das Nonplusultra wissenschaftlicher Erkenntnismethoden halten, in den Augen späterer Generationen auch irgendwann mal „zeitgebunden“ erscheinen mag. Ein Kernpunkt heutiger wissenschaftlicher Methodik ist aber, die hemmungslose Subjektivität (man könnte auch sagen: Fantasie), wie sie sowohl bei Schüßler als auch bei Bach zum Ausdruck kommt, systematisch aus der empirischen Untersuchung (natur)wissenschaftlicher Fragen auszuscheiden. Das ist eine große Errungenschaft, die jedes „mir hat es aber geholfen“ obsolet macht – und wesentliche Grundlage moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis insgesamt. (Edit 13.11.2022: präzisiert nach Hinweis im Kommentar von Joseph Kuhn).

Geschichten rund um diese Mineral- und Blüten-Absurditäten gibt es noch weit mehr, zum Beispiel zur Bedeutung beider in der sogenannten alternativen Tiermedizin, aber es ist hier eh zu lang geworden. Merken wir uns einfach: Schüßler-Salze und Bach-Blüten sind ohne Homöopathie in der Vita ihrer Erfinder zwar nicht denkbar, unterscheiden sich aber ungeachtet ihrer unterschiedlichen rechtlichen Einordnung beide gravierend von dieser – und untereinander. Gemeinsam ist allen drei „Therapiemodellen“ die nie nachgewiesene medizinische Wirksamkeit.



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Wissenschaft – zwischen Dogma und Toleranz?

    Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
    und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

    ZUM DEMARKATIONSPROBLEM AM BEISPIEL HOMÖOPATHIE

    Die Grenzziehung von Pseudowissenschaft und Wissenschaft, im speziellen Falle von Pseudomedizin und Medizin, ist ein ernsthaft behandeltes Problem der Wissenschaftstheorie. Man beschreibt es mit dem Begriff des „Demarkationsproblems“, auch Abgrenzungsproblem genannt.

    Es geht um die scheinbar schlichte Fragestellung, was die kritisch-rational orientierte Wissenschaft von der Pseudowissenschaft trennt und unterscheidet. Karl Popper selbst war einer der ersten, die dieses Thema aufwarfen. Das war vor dem Hintergrund seiner auf Falsifikation (Falschbeweisung) beruhenden Wissenschaftsprinzips wohl zwangsläufig. Nach manchen Wegen der Diskussion in die eine wie in die andere Richtung verfestigte sich gegen Ende der 1980er Jahre eine Tendenz, das Abgrenzungsproblem als letztlich unlösbar und möglicherweise sogar sinnlos zu betrachten. Die praktischen Folgen einer solchen Kapitulation haben jedoch wieder das dringend notwendige Umdenken befördert. Heute wird von vielen Erkenntnistheoretikern die Bedeutung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Trennung zwischen Pseudowissenschaft und kritisch-rational begründeter Wissenschaft wieder betont und diskutiert.

    In der Tat ist das Demarkationsproblem keineswegs theoretisch-akademischer Natur. Das führt uns die „Ära des Postfaktischen“ ja nun deutlich genug vor Augen. Ob zur längst nach den Kriterien belastbarer Erkenntnis komplett widerlegten Homöopathie, bei der Unsicherheit von Eltern in der Impffrage, die nach wissenschaftlichen Kriterien auch klar entscheidbar ist oder auch bei der offensichtlichen Erstarrung bei der Frage verantwortlichen Handelns in Sachen Klimaschutz wegen offenbar unzulänglicher Rezeption der Fakten – überall sehen wir ein Hinein- und Hinüberwirken von Pseudowissenschaft in Bereiche, denen nach strengen Erkenntniskriterien längst hohe bis höchstmögliche Evidenz, also hohe Gewissheit der gültigen Erkenntnis, zugeschrieben wird. Selbst dort, wo die Abgrenzung in großer Eindeutigkeit möglich ist, zeigt sie sich praktisch eben nicht als deutliche Grenzlinie, sondern verschwimmt zu einer breiten Grauzone. Die Ursachen sind vielfältig – ihren Ursprung haben sie durchweg in pseudowissenschaftlich „begründeten“ Gegenpositionen.

    Selbst wissenschaftsaffine Teile der Öffentlichkeit werden durch diese breite Grauzone zu einer falschen Wahrnehmung verführt. Bekanntlich ist es eine Methode der Pseudowissenschaften, sich mit einem wissenschaftlichen Duktus zu umgeben, sei es in der Diktion der Kommunikation selbst, sei es durch die Berufung auf – systemisch oder individuell – ungeeignete Belege (z.B. einzelne Studien) und ebensolche Autoritäten, ohne die in einer solchen Argumentationsweise liegenden vielfältigen Unsicherheiten und Probleme auch nur im Ansatz zu kommunizieren.  Im Bereich der Pseudomedizin erlebt der Autor buchstäblich täglich, manchmal geradezu im Stundentakt, wie wissenschaftlich unbelegte (vielfach widerlegte) Behauptungen mit solider Wissenschaft in den Medien konkurrieren – und oft die „Story“ auf ihrer Seite haben. Selbst der Wettlauf um Forschungsgelder und der Publikationsdruck in den Wissenschaften sind der „Flut der Pseudowissenschaft“ (Prof. David Gorski) ausgesetzt. Wir brauchen also Maßstäbe, alltagstaugliche Kriterien, die uns alle in die Lage versetzten, wissenschaftliche Erkenntnisse von Mimikry zu trennen, Entscheidungen darüber zu treffen, was Wissenschaft, was gültige Erkenntnis ist oder nicht.


    Weit entfernt sind nun aber die Pseudowissenschaftler und -mediziner selbst, im speziellen Falle die Homöopathen, davon, das Demarkationsproblem als ernsthafte Problematik wissenschaftlicher Natur zu begreifen. Sie ersetzen vielmehr eine solche tiefgehende Auseinandersetzung durch erstaunliche Postulate:

    • Mit dem Vorwurf einer „Wissenschaftsdogmatik“ gegenüber der kritisch-rationalen Methode, umschrieben mit Scheinbegriffen wie „monoparadigmatischer Reduktionismus“ oder auch „reduktionistischer Materialismus“; als ein Weg, der zu einem wissenschaftlichen, im Ergebnis gar politischen und gesellschaftlichen „Totalitarismus“ führen soll,
    • daraus folgend einen Intoleranzvorwurf gegenüber der als gegnerische Position verstandenen „Mainstream-Wissenschaft“, die allein als solcher unter Generalverdacht gestellt wird, und der pseudomedizinkritischen Position,
    • daraus wiederum folgend die Forderung nach „Pluralismus“ in Wissenschaft und Medizin, was meint, dass die Aussage „Der andere könnte auch Recht haben“ zum wissenschaftlichen Kriterium erklärt werden soll.

    So macht man es den um Abgrenzungskriterien zwischen Pseudowissenschaft und Wissenschaft Bemühten ja eigentlich leicht, wäre da nur eben nicht wieder der Impact, die Auswirkung solcher Äußerungen auf das – oft allzu geneigte Publikum. Ein Publikum, das sozusagen auch auf der (erkenntnistheoretischen) Metaebene nicht über die Kriterien verfügt, die eine Einordnung all dessen möglich machen. So schlimm sich das für Kritiker der Pseudowissenschaft anhört, so wohltönend mag dies in den Ohren derer klingen, die sich gern mit der Forderung nach „Toleranz“ einverstanden erklären – wer sähe darin nicht zunächst etwas Positives? Aber diese „pluralistische“ Position ist nicht mehr als eine krude Mischung aus Rechthabenwollen, offenbar echtem Unverständnis von Wissenschafts- und Erkenntnistheorie (oder doch wider besseres Wissen?) und dem seltsam anmutenden Versuch, Selbstkritik (nach Popper Grundvoraussetzung für eine wissenschaftliche Haltung) durch Behauptungen zu ersetzen. Letztlich ist sie eine Verunglimpfung ehrlich bemühter Wissenschaft und des jahrtausendelangen ernsthaften Ringens um die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis.


    Jedoch sei dies entgegengehalten:

    • Wie kann man einem metaphysischen Überbau rationaler Erkenntnis, der dazu dient, die Erkenntnisfähigkeit des Menschen auf den Raum der realen Welt zu beschränken und damit Spekulationen von Erkenntnis abgrenzt (der ontologische Naturalismus in seiner schwachen Form) so missverstehen, dass man aus ihm einen unangemessenen Dogmatismus ableitet?
    • Wie kann eine Methodik wie der kritische Rationalismus, das auf der ständigen Infragestellung bestehenden Wissens beruht und aus dem Verwerfen von Irrtümern Fortschritt gewinnt, dogmatisch sein? Wie kann man ein Erkenntnissystem, das sich durch eine niemals zuvor in der Geistesgeschichte dagewesene Form der Bescheidenheit durch den Verzicht auf „Wahrheitsansprüche“ auszeichnet, als „reduktionistischen Materialismus“ oder mit ähnlichen Diktionen bezeichnen?
    • Wie kann ich Toleranz zum Kriterium erheben, wenn es um Annäherung an die Wirklichkeit geht? Über bessere Methoden dazu als die heutigen, in langen Jahrhunderten mühsam gefundenen verfügen wir nicht. Seien wir froh, dass wir über die kritisch-rationalen Methode verfügen – wie nichts Menschliches sind sie nicht in Stein gemeißelt, sind aber in der weltweiten Wissenschaftsgemeinde als gültig durchgängig anerkannt. Auch, weil seit Popper, auch nach vielfältigen Betrachtungen und teils auch Modifikationen, im Grundsatz weit und breit nichts in Sicht ist, das Aussicht auf eine bessere Bewährung beim menschlichen Erkenntnisstreben bieten würde. Was den Prüfsteinen des kritischen Rationalismus nicht standhält, mag als Glaubensvorstellung Toleranz beanspruchen. Aber nicht als Erkenntnis.
    • Die Forderung nach „Pragmatismus“ in der Wissenschaft ist nichts anderes als die Forderung nach der Anerkennung von Beliebigkeit. Mit diesem Begriff wird ein scheinbares Defizit der rationalen Methode suggeriert – dies geht fehl. Wissenschaft nach der kritischen Methode ist ebenso quellen- wie methodenpragmatisch, aber nicht „pluralistisch“. (Selbst der immer wieder als Zeuge für den „Wissenschaftspluralismus“ herangezogene Paul Feyerabend war erklärtermaßen methoden- und nicht „wissenschafts“pluralistisch.) Forderung nach „Pluralismus in der Wissenschaft“ geht noch über die Forderung nach Toleranz hinaus, denn ein solcher Pluralismus würde die Poppersche Definition der „wissenschaftlichen Erkenntnis“ aushebeln: dass wissenschaftliche Ergebnisse belegbare Erkenntnisse sind. Nicht mehr, nicht weniger. Dazu passt ein treffender aktueller Tweet von Dr. Natalie Grams, der weitere Ausführungen überflüssig macht:

    Aktuell hat der Zentralverein homöopathischer Ärzte auf seiner Webseite („Homöopathie online“) eine „Homöopathie-Deklaration“ veröffentlicht, wiederum in „Zusammenarbeit“ mit dem „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ und unter Beteiligung weiterer üblicher Verdächtiger, die in bestürzender Weise die Verächtlichmachung seriöser Wissenschaftlichkeit durch pseudowissenschaftliche Verbrämungen betreibt. Dies wird sicher nicht die Wirkung haben, die Homöopathie durch Worte plötzlich zu einer wirksamen Medizin werden zu lassen. Allerdings ist dies ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Grauzone zwischen Erkenntnis (Wissenschaft) und Behauptung (Pseudowissenschaft) ein weiteres Mal verbreitert und mit zusätzlichem Nebel angereichert wird.

    Man könnte über diesen Vorgang hinweggehen, der sich von ähnlichen. früheren Statements eigentlich kaum unterscheidet. Aber er wird seinen „Impact“ haben, und sei es nur, der Selbstvergewisserung der pseudomedizinischen Szene und als Steinbruch in allfälligen Diskussionen zu dienen. Und hier ist kein Sandkastenverein unterwegs – hier äußert sich eine Vielzahl von Akademikern.


    Nutzen wir die Gelegenheit, noch einmal kurz über die menschliche Erkenntnisfähigkeit und das, was wir darüber mühsam herausdestilliert haben, zu reflektieren.

    So schwierig ist das gar nicht, und die Homöopathie eignet sich gut als Exempel:

    • Nach Karl Popper gibt es nur eine Theorie der Wahrheit, die ernsthaft vertreten werden kann: die Korrespondenztheorie, die These, dass die Wahrheit (der Wahrheitsgrad) einer Aussage in ihrer Übereinstimmung mit den Fakten besteht. Nicht in der Übereinstimmung mit einer Anhäufung von Worten. Und da sieht es für die Homöopathie ganz schlecht aus, wie schon vielfach ausgeführt und belegt wurde.
    • Die Wissenschaft ist die Suche nach der Wahrheit, eine Annäherung an sie, nicht der Besitz „der“ Wahrheit. Die Vorstellung von Wahrheit als ebenso existentes wie erkennbares Absolutum ist leider weit verbreitet (das ist die Wahrheitsannahme Francis Bacons („If truth is manifest, thruth is there to be seen“), die seit David Hume und Immanuel Kant ins Wanken geriet und spätestens seit Karl Popper obsolet für wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ist).
    • Das aber ist kein Freibrief für Beliebigkeit – ganz im Gegenteil verlangt diese Grunderkenntnis einen verantwortlichen Umgang mit Erkenntnisfähigkeit. Es scheint, als würden die „Pluralisten“ glauben, im Verzicht auf den absoluten Wahrheitsbegriff im kritischen Rationalismus eine „Schwachstelle“, ein „Einfallstor“ für ihre kruden Wissenschaftlichkeitsbegriffe gefunden zu haben – ein Missverständnis epischen Ausmaßes?
    • Insofern ist die kritische Methode dadurch gekennzeichnet, dass man nicht versucht, Hypothesen zu überprüfen (zu verifizieren – letztlich zu bestätigen), sondern zu widerlegen (zu falsifizieren). Das sollte nach den Regeln wissenschaftlicher Arbeit vom Urheber der Hypothese so weit wie möglich selbst getan werden, bevor man sich ernsthafter Kritik stellt.
    • Reine Erfahrung (Empirie) führt wegen des Induktionsproblems (jede noch so große Sammlung von reinen Erfahrungen kann durch die nächste Erfahrung widerlegt werden) nicht zu gesicherter Erkenntnis. Wie David Hume als erster verdeutlichte, halten wir Ereignisse fälschlich für Ursachen und deren Wirkungen, wenn wir sie wiederholt aufeinanderfolgen sehen, da wir dann automatisch (aufgrund des Menschen immanenter Eigenschaften) glauben, diese Folge sei auch in Zukunft so zu erwarten. Das beste Beispiel dafür ist der post hoc ergo propter hoc-Fehlschluss, gerade in der Homöopathie – wie trügerisch er speziell dort ist, ist auch dadurch belegt, dass die scheinbar beobachteten „Wirkungen“ zwanglos durch schlüssigere, einfachere, widerspruchsfreie Erklärungen ersetzt werden konnten.
    • Und eben hieran, an der fehlenden empirischen Belegbarkeit, wird die Widerlegung des hypothetischen Grundgebäudes von Hahnemanns Methode evident. Genau deswegen, weil die Behauptung der spezifischen „Wirkung“ der Homöopathie lange nur durch Fehlschlüsse und Irrtümer aufrechterhalten bleiben konnte und längst widerlegt ist und deshalb nur scheinbar eine Stütze der hypothetischen Grundlagen darstellte („wir wissen nicht, wie sie wirkt, wir sehen aber, dass sie wirkt“).  Der Falschbeweis ist geführt, die Hypothetik der Homöopathie am Experiment gescheitert. Der empirische, induktive Teil, die „Summe der Erfahrungen“, hat sich als Luftschloss aus Selbsttäuschungen und Fehlannahmen entpuppt – und widerlegt damit auch den axiomatisch-hypothetischen Part von Hahnemanns Gedankenkonstrukt durch die Prüfung an der Realität. Ein geradezu klassisches Beispiel „Kant’scher Wissenschaft“, der Bewährung oder eben Nichtbewährung logisch-deduktiv (oder auch spekulativ) gewonnener Hypothesen durch experimentelle Überprüfung.

    Lassen wir es dabei bewenden.

    Nun, auf eine gewisse Weise trägt das Gezeter der Homöopathen ja auch zur weiteren Klärung des Demarkationsproblems bei – es zeigt, dass jedes Problembewusstsein, jede Selbstkritik, jede strenge Prüfmethode dort dem Absolutheitsanspruch der eigenen Position geopfert wird. Das ist immerhin auch eine Form klarer Grenzziehung.

    Nein, der Auftritt auf dem Feld der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie wird der Pseudomedizin auch diesmal nicht zu mehr „Wahrheit“ verhelfen.


    Zum Weiterlesen:

    Pigliucci M, Bourdry M (Hrsg.), Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem, University of Chicago Press, 2013

    Popper K, Gesammelte Werke: Band 3: Logik der Forschung, 11. Auflage, 2005

    Popper K, Gesammelte Werke: Band 7: Realismus und das Ziel der Wissenschaft (Postscript zur „Logik der Forschung“), 1, Auflage 2002

    Popper K, Gesammelte Werke: Band 10: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, 2. Auflage, 2009

    Baum W (Hrsg), Paul Feyerabend – Hans Albert: Briefwechsel, Band 1: (1958-1971), veränd. Neuauflage, 2008

    Albert H, Plädoyer für den kritischen Rationalismus, Piper (1975)


    Der Trugschluss der „globalen Erklärung“

    … oder: Einfaches, Falsches und Hypes

    Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
    und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

    Ganz einfach – oder… ?

    Komplex ist eben nicht einfach

    In ihrer Untersuchung zu Mitläufereffekten („Bandwagons [1]) in der Medizin haben Cohen und Rothschild [2] festgestellt, dass nicht nur Patienten, sondern ebenso Ärzte oft eine neue Idee einfach deshalb akzeptieren, weil sie eben eine neue Idee ist, die Verlockung einer einfachen Lösung für ein komplexes Problem.

    Man wird hierin H.L. Menckens [3] Diktum [4] empirisch bestätigt sehen, wonach es für jedes komplexe Problem eine Lösung gibt, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet: Einfach, plausibel und falsch.

    Ich möchte hiervon ausgehend auf einen Spezialfall dieser Art von Trugschlüssen hinaus: Man könnte ihn den „Trugschluss der globalen Erklärung“ nennen. Damit ist eine Erklärung gemeint, die insofern einfach ist, dass sie ihren Schwerpunkt auf das Allgemeine, den Grundsatz, den Ursprung, auf einen dogmatischen Urgrund legt, damit der allgemeinen Neigung zu einfach, direkt, generalisierend und – falsch entgegenkommt und so imstande ist, einen Hype, aber auch einen langlebigen Trend zu erzeugen. Solche pauschalen Erklärungen und Theorien sind kennzeichnend für die Pseudomedizin. Aber nicht nur, wie wir im Folgenden sehen werden.

    Zum Beispiel basiert die Homöopathie auf den bekannten drei Grundprinzipien des Simile (Ähnliches heilt Ähnliches), der Arzneimittelprüfung am Gesunden (die letztlich ein Ausfluss des Ähnlichkeitsprinzips ist) und der Wirkungszunahme ihrer Mittel durch Potenzierung. Sie lässt dabei jeden Gedanken an Krankheitsentstehung und -verläufe völlig außer Acht, kennt nicht einmal den Krankheitsbegriff, und verspricht dem Patienten, auf so einfache und scheinbar einsichtige Art und Weise seine Symptome zu beseitigen. Verführerisch für Mediziner wie Patienten (worauf schon Heinroth 1825 im Anti-Organon zutreffend hinwies [5]) – und eben deshalb nicht sofort sichtbar das Falsche. Hahnemanns Gefolgschaft erlag genau wegen dieser Einfachheit und Scheinplausibilität, verbunden mit dem Reiz des Neuen, dem Mitläufereffekt – und tut dies bis heute. Die Selbsttäuschung darin hat immerhin mehr als 200 Jahre gehalten und baut heute noch Bollwerke gegen die schlichte Einsicht, dass die Homöopathie eine Irrlehre ist, als die sie schon zu ihrer Entstehungszeit von kritischen Geistern entlarvt wurde. [6] [7] [8] [9]

    Ein weiteres Beispiel für einen „Hype“, der auf eine „einfache und direkte“ Erklärung zurückgeht, ist der von einem Vorläufer Hahnemanns, John Brown (1735-1788) begründete Brownianismus [10]. Der stellte nun gleich eine doppelte Vereinfachung dar. Brown lehrte, dass jede Krankheit nur entweder eine Reizüberflutung (sthenia) oder eine Reizhemmung (asthenia) sei und postulierte gleich passend dazu, dass beides nach dem Grundsatz „Gleiches kuriert Gleiches“ (Isopathieprinzip) behandelt werden müsse.

    Entsprechend den damaligen Zeiten der „heroischen Medizin“ waren die Kuren entsprechend: Die jeweiligen Behandlungen bestanden entweder in Gaben von Opium oder in solchen von Alkohol, und zwar in massiven Dosen. Sehr einfach, höchst einleuchtend und – fatal falsch.

    Das System wurde von den Ärzten (vor allem in Deutschland) begeistert angenommen. Nach Ansicht des Medizinhistorikers J.H. Baas war diese Behandlung „verantwortlich für mehr Tote als die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege zusammen“. [11] Ein Hype par excellence.

    Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde aus dem Schlagwort „Belastung“ eine beliebte „monokausale“ Erklärung für viele Krankheiten: Herzbelastung, Herzmuskelschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Beschwerden des Iliosakralgelenks (vorher fast unbekannt) oder „Augenbelastung“ als Hauptursache für Kopfschmerzen und vieles mehr. Später im 20. Jahrhundert wurde „Belastung“ durch den eindrucksvolleren Begriff „Stress“ ersetzt, ein Konzept, das sich zu extremer Popularität entwickelte, nachdem Hans Selye es 1936 zum Herzstück seines „Allgemeinen Adaptionssyndroms“ [12] gemacht hatte, mit dem es möglich war, scheinbare Stress-Leitsymptome auf fast jedes Krankheitsbild zu projizieren. Der „Erfolg“ dieses Konzepts war, dass aufgrund dessen sehr viele Ärzte, Patienten und auch Nichtpatienten „Stress“ als ursächlich für beinahe jede pathologische Diagnose wie koronare Herzkrankheit, Krebs, Colitis ulcerosa, Magengeschwüre und viele andere Erkrankungen auch im psychischen Bereich geradezu verinnerlichten (und dies vielfach bis heute tun). Das Dogma des übersäuerungsbedingten Stress-Magengeschwürs fiel erst mit der Identifizierung des Bakteriums helicobacter pylori als dem Hauptverursacher. Dafür gab es immerhin 2005 den Medizinnobelpreis. [13]

    Skrabanek und McCormick meinen in ihrer Monografie über „Follies and Fallacies in Medicine“ zum Stress-Syndrom, man müsste zurück bis zu Galen [14] gehen, um eine ähnlich grandiose Konzeption zu finden, die keine umfassende Erklärungskraft hat, aber alles zu erklären scheint. [15]

    Gern angenommene, sich verbreitende und erhaltende pauschale Trends und Hypes wie den um „Positive Thinking“ [16] , der Glaube an eine -nicht vorhandene- „Krebspersönlichkeit“ [17] wie auch der Natürlichkeitswahn der Gegenwart zeigen, dass H.L. Menkens eingangs zitiertes Diktum auch heute noch ungebrochen gültig ist. All dies, genau wie auch der Hang zu den pseudomedizinischen Heilslehren, ist der wenig rationalen Suche nach der monokausalen, also einfachen, direkten (und wirklich meist falschen) Erklärung und der Flucht vor der nicht fassbaren, sich dem eigenen Einfluss entziehenden Multikausalität einer immer komplexeren Welt geschuldet, gerade in Fragen der Gesundheit. Dies ist, wie gezeigt, nicht neu – und nicht zu rechtfertigen.

    Evidenz und was man dafür hält

    Auch wenn es zunächst nicht sonderlich auffällt: Der vorangegangene Abschnitt hat eine Menge mit „Evidenz“ zu tun.

    Evidenz ist ein zunächst neutraler Begriff. Er bedeutet, dass etwas offensichtlich, augenscheinlich, auf der Hand liegend ist, dass man an einer Einsicht in etwas schlechterdings nicht vorbeikommt. Auch die Mediziner der eben beschriebenen Zeit waren überzeugt, gerade wegen der „einfachen und direkten“ Erklärungen ihrer vermeintlichen Grundlagen „Evidenz“ zu sehen. Es leuchtete ihnen ein, und nicht nur ihnen. Wir sehen also, dass es mit einer einfach angenommenen Evidenz, mit dem Gefühl, etwas leuchte ein und habe den offensichtlichen Anschein der Richtigkeit für sich, längst nicht getan ist. Mir scheint nach vielen Gesprächen und Erfahrungen der letzten Zeit, dass ein so missverstandener allzu subjektiver Evidenzbegriff vielen, wenn nicht den meisten Anwendern pseudomedizinischer Methoden -auf Therapeuten- wie auf Patientenseite- eine trügerische Selbstlegitimation verleiht. Zudem oft auch noch die Überzeugung, der geschmähten „Schulmedizin“ gleichwertig oder gar überlegen zu sein. Das ist aber, wie wir gesehen haben, das fatale Denken in den Mustern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in den Kategorien der idealistischen und der romantischen Medizin.

    Kürzlich begegnete mir die Äußerung, jeglichem Menschen mit einem Intelligenzquotienten „von einem gewissen Grad aufwärts“ müsse die Homöopathie doch „unmittelbar einleuchten“. Zweifellos sollte diese Aussage als Ausdruck einer „Evidenz“ verstanden werden. Dieses Statement dürfte allerdings eher ein Bespiel dafür sein, dass Evidenz nicht aus purer Subjektivität entstehen kann, nicht aus dem Anspruch, dass das Gegenüber einer Behauptung zu glauben habe, deshalb, weil der Behauptende sie für richtig hält. Um auf eine Formulierung von Skrabanek und McCormick aus dem vorigen Abschnitt zurückzukommen: Evidenz ist eben noch lange nicht das, was alles zu erklären scheint, aber keine Erklärungskraft hat.

    Evidenz so, wie die moderne Medizin (und die Wissenschaft insgesamt) den Begriff versteht, setzt sowohl eine einwandfreie Beleglage als auch logische Widerspruchsfreiheit dessen voraus, was als evident anerkannt werden soll. Evidenz ist nicht einfach da. Evidenz ist vor allem nicht subjektiv, sie ist mehr als nur eine Meinung oder das Ergebnis eines oberflächlichen, von Selbstbestätigungsmechanismen geprägten Eindrucks.

    Evidenz aus Logik

    Evident kann nicht nur eine positive, bestätigende Wahrnehmung sein, sondern auch ein Ausschluss von Optionen und Möglichkeiten, eine sich zwingend aufdrängende Unmöglichkeit. Bei dieser Art „negativer“ Evidenz spielt die formale Logik eine große Rolle. Auf diesem Weg kommen wir zu einer grundlegenden Betrachtung von pseudomedizinischen Methoden, die seit jeher ihr Überleben dem anfangs erläuterten bandwagoning, dem Mitläufereffekt in der Medizin verdanken. [18]

    Sie kennen vielleicht das Argument der Religionskritik, dass die Vielzahl der mit einem alleinigen Wahrheitsanspruch auftretenden Religionen an sich bereits das schlagende Argument gegen ihre Gültigkeit sei. Aus ihrem Vorhandensein folgt nach logischen Prinzipien (Kontrarietät), dass entweder alle falsch sein müssen – oder (höchst unwahrscheinlich) nur eine richtig. Diesem Verdikt könnte nur eine Religion ohne Alleingültigkeitsanspruch entgehen, eine in ihren Möglichkeiten offene, aber nicht entgrenzte Religion, wie sie beispielsweise das Römische Reich vor der Christianisierung pflegte, indem die Gottheiten der ins Reich aufgenommenen Völker auch in den Götterhimmel der Römer inkorporiert wurden.

    Was hat das nun mit Pseudomedizin zu tun?

    Nun, sehr viele pseudomedizinische Methoden sind dogmatisch in dem Sinne, als dass sie ein monokausales Bild von Krankheitsentstehung und Heilungsversprechen zeichnen. Sie machen damit das verführerische Angebot der einfachen und direkten Erklärung von Krankheit und Genesung und gehen damit so tief an die Grundlagen, dass dadurch ein logisches (konträres) Ausschlusskriterium gegenüber „konkurrierenden“ Methoden entsteht. Nicht umsonst bezeichnet man solche scheinbar tiefgründigen, aber letztlich auf pauschale Vereinfachung und Alleingültigkeit hinauslaufenden Erklärungsmodelle als „Heilslehren“. Man sollte sich das immer vergegenwärtigen, besonders dann, wenn solche „Methoden“ versuchen, sich als „komplementär“ zur wissenschaftlichen Medizin und -im angeblichen Gegensatz zu dieser- als „ganzheitlich“ anzudienen und damit das Vertrauen der Patientenschaft zu erlangen. Wie soll dies aus Sicht einer Methode, die von sich überzeugt ist, den medizinischen Stein der Weisen zu besitzen, überzeugend oder gar redlich sein?

    Werfen wir einen Blick auf einige Beispiele bekannter medizinischer Heilslehren. Wir beschränken uns dabei auf kurze Erklärungen der dogmatischen Ansätze dieser Lehren, die für ihre gegenseitige logische Ausschließung wichtig sind. Die Widerlegung der einzelnen Lehrgebäude für sich ist hier nicht unser Thema.

    • Arzneimittellehren:

    Homöopathie nach Hahnemann postuliert als alleinige Ursache von Krankheitserscheinungen (Krankheiten im heutigen Sinne kennt sie nicht, nur Symptome) eine „Verstimmung der geistigen Lebenskraft“, die mit einer gegenläufig wirkenden „geistigen Arzneikraft“ zu korrigieren sei.

    Wilhelm Schüßler postulierte als alleinige Ursache von Krankheiten einen Mineralstoffmangel (zudem den Mangel ganz bestimmter Mineralien) auf Zellniveau und bietet das ultimative Sortiment für einen Ausgleich dessen passend in Form seiner „Schüßler-Salze“ an. Was Schüßler als „Weiterentwicklung“ von Hahnemanns Homöopathie empfand, aber keineswegs der Zentralverein homöopathischer Ärzte, der ihn wegen seines „Umstiegs“ von der geistigen Lebenskraft auf „biochemische Grundlagen“ ausschloss.

    Edward Bachs System der Bachblüten sucht Krankheitsursachen ausschließlich in emotionalen Auffälligkeiten bestimmter Persönlichkeitstypen, deren Systematik selbstverständlich seiner ganz persönlichen Einschätzung unterlag. Seine Heilmethode beruht darauf, diesen Persönlichkeitstypen nach seiner persönlichen Intuition Heilpflanzen zuzuordnen. Die Homöopathie war in seinen Augen eine Irrlehre. Was in dieses Dogma nicht passen wollte, ordnete Bach schlicht dem Darm als Krankheitsauslöser zu.

    Homotoxiologie nach Reckeweg geht davon aus, dass alle Krankheiten ausschließlich Reaktionen des Körpers auf andauernd einwirkende Giftstoffe sind. Der Körper kämpft gegen diese Gifte an und möchte sie ausscheiden. Akute Krankheiten werden als erfolgreiche Ausscheidungsphasen gedeutet, chronische Krankheiten sollen entstehen, wenn das Entgiften nach und nach nicht mehr vollständig gelingt. Erstaunlicherweise sah auch Reckeweg seine Lehre als Weiterentwicklung der Homöopathie.

    Wir dürfen nach diesen Beispielen schon einmal kurz innehalten und uns vergegenwärtigen, in welcher trauten Eintracht die Mittelchen dieser populären Pseudomedizinen in den Apotheken nebeneinander stehen und mitunter gleichzeitig vom werten Publikum nachgefragt und ihm auch so verkauft werden – ohne dass irgendjemand einen Gedanken daran verschwendet, dass diese vier Methoden sich wegen ihrer völlig unterschiedlichen dogmatischen Ansätze gegenseitig ausschließen (ihre einzige Gemeinsamkeit liegt in ihrer Unwirksamkeit).

    Aber die Galerie der dogmatischen Krankheitsdeuter und Heilslehrer geht noch weiter:

    • Manuelle Lehren

    Osteopathie postuliert nach seinem Begründer Andrew Taylor Still, dass es für sämtliche Krankheiten keinerlei andere Heilung als die durch die Selbstheilungskräfte („Selbstregulationsfähigkeit“) des Körpers gebe, somit eine Heilung „von außen“ unmöglich und die Osteopathie die einzige Methode sei, gestörte Funktionen zu erkennen und zu beheben. Diese „gestörten Funktionen“ verortete er allen in Beeinträchtigungen von Muskel und Skelett.

    Chiropraktik definierte der Begründer D.D. Palmer als „Heilen ohne Medikamente“ und ging davon aus, Erkrankungen seien ausschließlich auf Fehlstellungen innerhalb der Wirbelsäule zurückzuführen. Er will damit Taubheit, Asthma, Blindheit und mehr geheilt haben.

    • Okkulte / vitalistische Lehren

    In der Anthroposophie entspringen Krankheiten nach der okkulten Lehre Rudolf Steiners einer „Disharmonie der Wesensglieder“, des physischen Leibs (Körper), des Ätherleibs (lebenserfüllte Geistgestalt), des Astralleibs (Seele) und des „Ich“, letzteres als dem spezifisch „menschlichen“ Anteil an der Wesenheit Mensch.

    Traditionelle Chinesische Medizin ist ein Konglomerat aus traditionellen Heilweisen unterschiedlichster Art und schlicht „erfundenen“ Pseudomethoden, die zur Zeit der Kulturrevolution mangels anderer Möglichkeiten in sozusagen reduzierter Form als Gesundheitsversorgung der Bevölkerung eingesetzt wurden, zudem heute in westlichen Formen assimiliert, die mit wirklicher traditioneller Heilkunde Chinas wenig zu tun haben. Die meisten der darin verbundenen Ansätze vereint die Annahme der Regulierung einer imaginären, im Falle von Krankheit aus dem Gleichgewicht geratenen Lebenskraft („Qi“).

    Die Zahl an Deutungs- und Erklärungsmodellen zur Akupunktur, einem verselbständigten Zweig der TCM, ist kaum noch überschaubar. Grundlegend bleibt festzuhalten, dass ihr ursprünglicher Ansatz war, Krankheiten durch die „Ableitung“ von falschem, blockiertem oder überschüssigem „Qi“ (imaginäre Lebensenergie) mittels Wiederherstellung eines harmonischen Gleichgewichts der körperlichen „Energien“ zu heilen (Yin-Yang-Prinzip).

    Nach dem Begründer des Reiki, Mikao Usui, beruht die Lehre auf der Annahme eines Ki (Chi) als unpersönlicher Natur- und Seelenkraft, die als Energie die ganze Welt durchwirkt und die Grundlage des Lebens bildet. Krankheiten sind ein Mangel an dieser Energie, Reiki-Heiler sollen sie durch das ritualisierte Auflegen ihrer Hände auf den Körper übertragen. (Wir sehen hier schon einen bezeichnenden Widerspruch zu einer anderen Lebensenergielehre, der Akupunktur: Dort soll Qi blockiert und überschüssig oder gar falsch sein und demzufolge „abgeleitet“ werden, Reiki will „fehlende“ Energie „einleiten“).

    • Pseudopsychologische Ansätze

    Die sogenannte „Germanische Neue Medizin“, kurz GNM nach Ryke Geerd Hamer postuliert, alle Erkrankungen bei Menschen (und Tieren) seien Folge von so genannten „biologischen Konflikten“, zwangsläufig sich körperlich (verzögerungslos) niederschlagenden Auswirkungen von Einwirkungen auf die Psyche und seien nur durch Beseitigung dieser Konflikte heilbar.

    Die Lehren der assoziativen Krankheitssymbolik vertreten Konzepte (Dahlke und Tepperwein), die eine Art primitiver Psychosomatik als alleinige Ursache für Krankheiten postuliert. Ausnahmslos allen Krankheiten soll eine geistig/seelische „Fehlhaltung“ zugrunde liegen, die der Therapeut rein intuitiv erfassen und dem Patienten nahebringen will – und diesen damit auch noch zum „Verantwortlichen“ für seine eigene Krankheit macht.

    Kann fortgesetzt werden.

    Ja, was denn nun?

    Es sollte einleuchten, dass all diese Ansätze wegen ihrer spezifischen Deutungsmodelle für Krankheit und Heilung miteinander unvereinbar sind. Sie vertreten jeweils eine „Selbstimmanenz“, einen hermetisch in sich abgeschlossenen Erklärungskanon, dem die Nichtvereinbarkeit mit dem „externen“ Erkenntnisstand gleichgültig ist. Dies hat nun einmal den Preis, dass alle diese Ansätze ohne externe Plausibilität falsch sein müssen – oder nur einer ist richtig. Neigen Sie ungeachtet ihrer Unwahrscheinlichkeit der zweiten Möglichkeit zu, sollten Sie sich fragen, ob Sie eine Wette auf die These des „einen richtigen“ Ansatzes abschließen würden.

    Manche dieser Methoden -wenn nicht die meisten- werden heute in veränderter und / oder abgeschwächter Form praktiziert, was gern als „Weiterentwicklung“ etikettiert wird. All dies ist durchweg als reiner Pragmatismus anzusehen, um die Methode als solche am Leben zu erhalten. Wie sollte aus einer zwangsläufig falschen Grundannahme durch „Weiterentwicklung“ etwas Sinnvolles, Belastbares entstehen? Ex falso sequitur quodlibet – aus Falschem folgt Beliebiges. Wobei das Falsche falsch bleibt.

    Ist es nicht haarsträubend, zu sehen, dass „Ausübende der Heilkunde“ -seien es Heilpraktiker oder leider auch Ärzte- ganze Portfolios aus solchen miteinander unvereinbaren Heilslehren, zudem noch in abenteuerlichsten Varianten, offerieren?

    Mit Blick auf unsere Ausgangsthese sei auch anderes nicht übersehen: Die Vielzahl von Methoden, die man als simplifizierte Varianten schulmedizinischer Verfahren ansehen kann, die Pseudopharmazie mit herbeifantasierten Mitteln wie dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Aprikosenkernextrakt oder dem ominösen „Vitamin K-Hype“ oder auch die Versprechen einer Heilung schwerer und schwerster Krankheiten nur durch Ernährung oder Vitamin-/Mineralstoffgaben. Auch dies ist alles H.L. Menkens Verdikt von einfach, plausibel und – falsch zuzuordnen. Da das „falsch“ nicht wahrgenommen wird, vertraut man dem „einfach und plausibel“ nur allzu gern – das bandwagoning beginnt.

    Und die wissenschaftliche Medizin?

    Welche Position nun nimmt dabei die wissenschaftliche Medizin ein? Sie entgeht dem logischen Verdikt der Unvereinbarkeit von Allgültigkeitsansprüchen, weil sie undogmatisch ist. Die Medizin ist offen für alles, was nach ihren Maßstäben eine Wirksamkeit und einen Nutzen für den Patienten belegen kann, wobei ihr die Herkunft des Mittels oder der Methode herzlich gleichgültig ist. Sie entgeht dem Verdikt der gegenseitigen Unvereinbarkeit auch, weil sie eine offene Methode ist, kein „Glaube“, kein „Religionsersatz“ oder als was man sie auch immer fälschlich ansehen mag. Sie kennt eine weit gefächerte Ätiologie, eine Lehre von Krankheitsentstehung und -verlauf, die auf multikausalen differenzierten Ansätzen beruht, die sich täglich bewähren und gemäß dem wissenschaftlichen Prinzip ebenso täglich verfeinert, verbessert und erweitert werden. Damit führt sie jede monokausal begründete Heilslehre, ob arzneimittelorientiert, okkult oder auf imaginären Lebenskräften (Vitalismus) beruhend, ad absurdum. Und sie kommt, trotz oder auch wegen ihrer großen Fortschritte, ohne all die unbelegten und oft transzendenten Annahmen aus, die all die pseudomedizinischen Methoden so scheinattraktiv machen – als einfache, direkte und – falsche Erklärungen.

    Wir dürfen der wissenschaftlichen Entwicklung dankbar dafür sein, dass sie den pseudomedizinischen Verfahren den Freiraum streitig macht, der zu Auswüchsen wie denen von Baas beschriebenen beim Brownianismus führen kann. Leider wird solchen Irrationalitäten noch hier und heute ein Raum und eine öffentliche Glaubwürdigkeit eingeräumt, was mit dem Denken des 18. Jahrhunderts zwar erklärt, aber im vielbeschworenen Bildungs- und Wissenschaftszeitalter längst nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Wir solten nicht zulassen, dass die wissenschaftliche Medizin für ihre Gegenposition auch noch kritisiert und -unter grotesker Verdrehung der Begriffe- als „Schulmedizin“ [19] und „wissenschaftsdogmatisch“ [20] diffamiert wird.

    Im Medienzeitalter – was tun?

    Die Neigung zu den monokausalen -also den einfach, einleuchtend und – falsch begründeten Heilslehren und ihren Versprechungen (nicht nur in der Medizin) wird niemals verschwinden. Aber in einer Bildungs- und Mediengesellschaft sollte es möglich sein, dem gezielt entgegenzuwirken.

    Die Multikausalität und die Komplexität der heutigen medizinischen Lehre dürfen nicht als Negativum wahrgenommen werden, sondern als das, was sie sind: Ausdruck eines zunehmend vertieften Verständnisses, einer immer größeren Annäherung an eine nun einmal hochkomplexe Wirklichkeit. Evidenzbasiertes Expertenwissen ist heute der Gegenpol gegen die Flucht ins Einfache, Direkte und Falsche – einschließlich der Mittel zur Verfügbarkeit dieses Wissens, was erstmals im gegenwärtigen Medienzeitalter überhaupt möglich ist.

    Der gleiche Trend zu einfachen, plausiblen und meist falschen Erklärungen, der seit der vorwissenschaftlichen Zeit (nicht nur) bei der Medizin imstande war, Hypes auszulösen und oft lange zu erhalten, ist auch heute noch am Werk. Ja, die Komplexität heutigen Wissens befördert das noch, weil diese ein Gefühl von Autonomieverlust mit sich bringt, das durch die schnellen, einfachen und scheinbar evidenten monokausalen Erklärungen medizinischer Heilslehren ein scheinbares Gegengewicht erfährt. Dafür wird der Preis von Irrationalität und Misstrauen gegen Expertenwissen offenbar allzu gern gezahlt. Wenn man sich fragt, wieso ausgerechnet im Gesundheitsbereich, wo es um einen selbst geht, um ein menschliches Kernanliegen – dann muss man eigentlich sagen: Wahrscheinlich wirken diese Dinge dort erst recht, weil dort der Autonomieverlust als besonders stark empfunden wird.

    Nur am Rande sei angemerkt, dass diese Mechanismen sich natürlich nicht auf den medizinischen Bereich beschränken. Oft genug kommt es selbst innerhalb der wissenschaftlichen Community dazu, dass der eine oder andere der Verlockung der Einfachheit erliegt und mit einer „globalen Erklärung“ einen Trugschluss produziert. [21] Dort allerdings gibt es wegen der weltweiten Vernetzung der Wissenschaftsgemeinde und der Verständigung über einen gemeinsamen Wissenschaftsbegriff inzwischen immanente Korrekturmechanismen, auf die man sich verlassen kann.

    Die Chancen des Medienzeitalters, der Verbreitung von Falschem unter dem Deckmantel des Einfachen und Einleuchtenden entgegenzuwirken, müssen genutzt werden. Korrekturmechanismen wie innerhalb der wissenschaftlichen Community gibt es im Alltag nicht oder kaum. Wir brauchen deshalb weit mehr als bisher eine Verständigung zwischen (Medizin-)Wissenschaft und dem Publikum. Dabei sehe ich die Wissenschaft (im weitesten Sinne, als die Summe der Informierten) durchaus in einer Bringschuld. Wir brauchen vertrauensbildende Maßnahmen. Wir brauchen Aufklärung, wir brauchen entschiedenes Auftreten gegen Irrationalität und Bauernfängerei. Wir brauchen mehr und bessere Methoden der Wissenschaftskommunikation. Dazu gehört auch ein guter und verantwortlicher Wissenschaftsjournalismus. Projekte wie die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) [22], das Informationsnetzwerk Homöopathie [23] mit seinen Angeboten auf verschiedenen Ebenen, das Recherchenetzwerk Correctiv [24], das den Schwerpunkt „Alternativmedizin“ im Portfolio hat, die Initiative des Münsteraner Kreises [25] pro evidenzbasierte Medizin im Gesundheitswesen oder das am Start befindliche Projekt MedWatch [26], einem Portal für Faktencheck zu Gesundheitsinformationen, lassen hoffen, dass mit den Möglichkeiten des Medienzeitalters Brücken gebaut werden können, die stärker sind als die überkommenen Strukturen des einfachen und schnellen Denkens. Wenn es auch manchmal schwer erscheint.

    Was aber auch vonnöten ist: Das Vertrauen des Publikums und eine minimale Bereitschaft seinerseits, sich mit den Fragen des modernen Lebens vorurteilsfrei auseinanderzusetzen. Hier ist wohl das Bildungssystem mehr als bisher gefordert. Gute und wissenschaftsbasierte Medizin darf nicht länger gegen irrationale Heilslehren, Beliebigkeits- und Wünschdirwas-Medizin ausgespielt werden. Nicht von den Proponenten der Pseudomedizin, nicht von der Politik und auch nicht vom leider noch allzusehr dazu geneigten Publikum.


    TL;DR

    Wie einfache Lösungen komplexer Probleme fast immer falsch sind, gleichwohl große Anziehungskraft ausüben, dadurch Mitläufertum in Fachwelt und Publikum erzeugen und Hypes anfachen, die sehr lange anhalten können.

    Wie einfache monokausale Erklärungen -in der Pseudomedizin für den Grundsachverhalt der Erklärung von Krankheit und Heilung- sich logisch gegenseitig ausschließen und die moderne Wissenschaft diesem Ausschluss durch undogmatisches Vorgehen und die Suche nach differenzierten mulitkausalen Erklärungsmodellen entgeht.

    Wie dem Trugschluss der globalen Erklärung und der Entfremdung der Fach- von der Laienwelt mit allen ihren verhängnisvollen Folgen im Medienzeitalter begegnet werden kann und soll, als Bringschuld bei der Wissenschaft, aber auch als Holschuld beim Publikum.


    Leseempfehlung zum Thema:
    Grams, Natalie: Gesundheit! Ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen, Springer Heidelberg 2017


    Referenzen:

    [1] https://sites.google.com/site/skepticalmedicine//cognitive-biases#TOC-Bandwagon-effect-
    [2] The Bandwagons of Medicine; Lawrence CohenHenry Rothschild; aus: Perspectives in Biology and Medicine Volume 22, Number 4, Summer 1979 (pp. 531-538 | 10.1353/pbm.1979.0037)
    [3] https://de.wikipedia.org/wiki/H._L._Mencken
    [4] “Explanations exist; they have existed for all time; there is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong.” In: „The Divine Afflatus“ in New York Evening Mail (16 November 1917); later published in Prejudices: Second Series (1920) and A Mencken Chrestomathy (1949) – via Wikiquote (https://en.wikiquote.org/wiki/H._L._Mencken)
    [5] Heinroth, Joh.Chr.Aug., Anti-Organon oder Das Irrige der Hahnemannischen Lehre im Organon der Heilkunst. C.H.F. Hartmann, Leipzig (1825)
    [6] The end of homoeopathy. Lancet. 2005;366:690
    [7] Skrabanek P, Mc Cormick J. Follies and Fallacies in Medicine. Glasgow: The Terragone Press; 1989
    [8] Hopff W. Homöopathie kritisch betrachtet. Stuttgart: Thieme; 1991
    [9] Prokop O, Hopff W. Gibt es heute noch Schildbürgerstreiche? Schweiz MedWochenschr. 1992; 122(46):1770-1
    [10] https://de.wikipedia.org/wiki/Brownianismus
    [11] Baas, J.H., Die geschichtliche Entwicklung des ärztlichen Standes und der medicinischen Wissenschaften. Berlin Fr Wreden, 1896
    [12] Hans Selye, The Stress Of Life; McGraw-Hill Book Company, NY 1956 (http://repositorio.cenpat-conicet.gob.ar:8081/xmlui/bitstream/handle/123456789/415/theStressOfLife.pdf?sequence=1)
    [13] https://www.aerzteblatt.de/archiv/48558/Nobelpreis-fuer-Medizin-Der-Bakterientrunk-lieferte-der-Fachwelt-den-Beweis
    [14] http://flexikon.doccheck.com/de/Galen
    [15] FOLLIES AND FALLACIES IN MEDICINE Third Edition Petr Skrabanek James McCormick TARRAGON PRESS Whithorn; 3. Auflage 1998 (http://euract.woncaeurope.org/sites/euractdev/files/documents/resources/documents/folliesandfalliciesinmedicine-thirdeditionpetrskrabanekjamesmccormick-1998.pdf)
    [16] https://www.nytimes.com/2014/12/23/science/gabriele-oettingen-turns-her-mind-to-motivation-in-rethinking-positive-thinking.html
    [17] https://www.krebsinformationsdienst.de/leben/krankheitsverarbeitung/psyche-und-krebsrisiko.php
    [18] https://sciencebasedmedicine.org/hop-on-the-im-bandwagon/
    [19] https://scilogs.spektrum.de/sprachlog/hom-pathische-sprachfallen-und-wie-geo-sie-nicht-vermeidet/
    [20] http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/2012/11/09/ist-wissenschaft-dogmatisch/
    [21] Ein aktuelles Beispiel: http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/2017/11/27/dunkle-materie-und-dunkle-energie-wurden-abgeschafft-schon-wieder/
    [22] https://gwup.org
    [23] www.netzwerk-homoeopathie.eu
    [24] https://correctiv.org
    [25] www.münsteraner-kreis.de
    [26] https://medwatch.de


    Bildnachweis; Fotolia_181263450_S

    Nur ganz kurz angeklopft …

    Bild von Myléne auf Pixabay

    Jetzt weiß ich, was Alternativmedizin ist:

    http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/england-diabetikerin-stirbt-nach-chinesischer-pruegeltherapie-a-1121182.html

    Leider nicht kommentierbar. Deshalb vielleicht auf diesem Wege die Bitte an den Spiegel, künftig das Wort “Alternativmedizin” zu vermeiden und in derartigen Zusammenhängen nur noch von “Pseudomedizin” (oder von Kriminalfällen) zu sprechen.

    Der Duden gibt folgende Bedeutungen für “alternativ” an:

    freie, aber unabdingbare Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten; das Entweder-oder;
    zweite, andere Möglichkeit; Möglichkeit des Wählens zwischen zwei oder mehreren Dingen

    Alternativ in unseren Fällen also die Wahl zwischen bewährter medizinischer Behandlung andererseits, von der schon Millionen profitiert haben, und völlig ungewisser, nicht beurteilbarer Methoden, die zudem richtig teuer sind, auf der anderen Seite. Als Ausdruck des Menschenrechts, die Freiheit zur Entscheidung für den eigenen Untergang treffen zu dürfen.

    Ich vergaß – in Deutschland ja seit einiger Zeit durch § 217 StGB ziemlich eingeschränkt (seit 2020 obsolet, dem Bundesverfassungsgericht sei Dank). Aber nicht bei der Inanspruchnahme von Scharlatanerie jeder Art. Da fällt mir ein – könnte man diese Leute nicht im Bedarfsfall nach § 217 StGB in Deutschland wegen geschäftsmäßiger Beihilfe zum Suizid belangen?

    Um jedem Vorwurf der Unvergleichbarkeit mit der Geschichte im Link vorzubeugen: Der Unterschied ist gradueller Art. Im Falle homöopathischer oder heilpraktischer “Behandlung” ernster Erkrankungen sind diese potenziell genauso gefährlich.

    Demnächst an dieser Stelle wieder längere Beiträge von mir. Vielleicht auch mal zu der Frage, was Menschen dazu bringt, sich freiwillig in solche “Alternativen” zu begeben.


    Nachtrag, auf Anregung einer treuen Leserin:

    Klopftherapie in allen erdenklichen Formen, mit oder ohne Bezug fernöstliche Weisheiten, ist im Programm jedes besseren Heilpraktikers gleich um die Ecke. Deshalb kriegt dieser Beitrag auch noch einen Tag zum Begriff “Heilpraktiker”. Passt ja zu meinen sonstigen Auslassungen zu diesem Spezialthema.

    Wie man sich eine Privatwissenschaft mit dem Anspruch auf Gültigkeit (wg. tiefer eigener Überzeugung) selbst zurechtlegen und das auch noch in einem Journal eines wissenschaftlichen Fachverlages zur Veröffentlichung bringen kann, zeigt dieser Beitrag („Klopfen gegen die Angst“) in der „Deutschen Heilpraktiker Zeitschrift“ aus dem Jahre 2020.


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