
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.
Wissenschaftsfeindlichkeit, Esoterikboom, Ablehnung von „Chemie“, Misstrauen gegenüber wissenschaftlich fundierter Medizin, abgeleitet aus Natürlichkeitswahn, Wiederbelebung animistischer Vorstellungen wie „belebt“, „fließende Energie“, „Feinstofflichkeit“ – all das ist keineswegs ein „Back to the roots“, keine Rückbesinnung auf „natürliche Lebensformen“. Nein, ganz im Gegenteil, das ist viel eher eine Form von zivilisatorischer Dekadenz, eine irregeleitete Träumerei auf der Folie eines inzwischen sehr problemlosen Lebens. Die gemeinsame Grundlage all dessen ist das, was man als den Naturalistischen Fehlschluss (nach Edward Moore, auch Humes Gesetz, der unzulässige Schluss von einem Sein auf ein Sein-Sollen) bezeichnet, also nur aus der „Natur“ der Dinge (in diesem Falle der Natur selbst) abzuleiten, wie diese sein sollten und ihnen damit einen moralischen (implizit anthropozentrisch gedachten) Wert zu unterstellen. .
Der Mensch des wissenschaftlichen Zeitalters scheint in einer Umdeutung und Überhöhung des Rousseau’schen Mottos des „Zurück zur Natur“ zu leben. Er gefällt sich in „kritischer Haltung“ gegenüber der „rationalistisch-materialistischen Weltanschauung“, die angeblich die Jetztzeit beherrsche (also eine Art Negativum des Naturalistischen Fehlschlusses) und erhebt das „Natürliche“ vielfach geradezu zu einem Fetisch. Was dem Markt der medizinischen Mittel und Methoden, der sich nicht auf die wissenschaftliche Medizin beruft, nicht entgangen ist.
„Der Wissenschaft“ wird „Anmaßung“ vorgeworfen, weil sie behaupte, „alles zu wissen“, wahlweise wird sie als „Ideologie unter vielen“ oder als „Glaube“ bezeichnet. Die Abgrenzung eines Begriffs des „Natürlichen“ gegenüber den als Fehlentwicklungen gesehenen „gefährlichen“ und „nicht menschengerechten“ Erkenntnissen und Methoden der neueren Zeit wird immer schärfer – und moralisch aufgeladener. Sie bringt dabei solche Absurditäten hervor wie den Begriff „ohne Chemie“, der ohne Ansehen seiner kompletten Unsinnigkeit (ohne andauernde chemische Reaktionsketten ist der Körper tot) zu einem verbreiteten Markenzeichen auf dem pseudomedizinischen Markt geworden ist. Genau wie der gleichbedeutende Slogan von „100 Prozent natürlich“.
Das mag alles bei einigermaßen aufgeklärten Menschen Kopfschütteln hervorrufen. Es ist aber mehr als eine Verirrung. Es ist ein kompletter Irrtum, eine Schimäre.
Die Menschen der frühen Zivilisationen sahen die Natur nur sehr bedingt als freundliches Gegenüber. Sie waren sich dessen vollkommen bewusst, dass die Natur sie jederzeit würde vernichten können. Was die Natur ihnen gab, mussten sie ihr mühsam abringen. Die Entstehung von Götterwelten hatte zur Grundlage, die Natur zu beherrschen oder zumindest milde stimmen zu können.
Lange Zeit blieb dies so. Die Natur war ganz überwiegend unerbittliche Gegnerin. Von allen Seiten bedrängte sie die Menschen, mit Krankheiten und zerstörerischen Naturgewalten. Das Meme von der „guten Mutter Natur“ taucht erst bei recht hochzivilisierten Gemeinschaften auf, ist in Mitteleuropa ein Produkt des romantischen Zeitalters. Eines Zeitalters, in dem immerhin noch die durchschnittliche Lebenserwartung ein Drittel der heutigen ausmachte, Infektionskrankheiten große Teile der Bevölkerung dahinrafften, die Kindersterblichkeit enorm war und die Medizin auf „Herumtappen“ (Kant) statt auf Wissen und Kenntnisse angewiesen war. Die Naturbegeisterung der Romantik war eine typische Erscheinung der Oberschicht, die zumindest das Privileg ordentlicher Wohnverhältnisse, akzeptabler Hygiene und ausreichender Ernährung genoss. Allen anderen dürfte eine Naturverklärung auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ziemlich fremd geblieben sein.
Insofern ist die Verklärung von „Natürlichkeit“ etwas durchaus Neues, es drängt sich sogar auf, deren Entwicklung mit der Entwicklung der modernen Medizin und des technischen Fortschritts als zeitgleiches Phänomen zu identifizieren. Es ist eine Luxushaltung, die sich nur Menschen erlauben können, die in so hohen Standards leben, dass sie von den ständigen Attacken der Natur gegen sie im Großen und Ganzen bewahrt sind. Nur vor diesem Hintergrund kann sich eine Haltung ausbilden, die bewusst oder auch unbewusst davon ausgeht, die Natur sei auf den Menschen zentriert und verfolge insofern einen Zweckmäßigkeitsgedanken.
Die Unterstellung, die Natur sei als solche gut und a priori auf die menschlichen Belange und Bedürfnisse ausgerichtet, ist ein klassischer Sein-Sollen-Fehlschluss. Esoterik und Pseudomedizin sind nach wie vor voller solcher ausgesprochener wie stillschweigender Annahmen. So sprechen Homöopathen im Zusammenhang mit der homöopathischen Arzneimittelprüfung am Gesunden geradezu von einer „Frage an die Natur“ und die am Gesunden erzielten Symptome seien „die Sprache der Natur selbst“ (Schlegel 1954, nach Prokop 1957) (1). Martini, der die großen umfassenden Untersuchungen zum Wert der Arzneimittelprüfungen durchgeführt hat, wies zu Recht darauf hin, dass eine solche Betrachtungsweise die Kausalität auf den Kopf stelle: Das erst in der Zukunft liegende Ziel der Untersuchung wird selbst als Ursache der Richtung angesprochen, in der sich ein Vorgang entwickelt. Er wendet sich scharf gegen die Unterstellung „rein biozentrischer oder gar anthropozentrischer Tendenzen“ in der Naturbeobachtung (Martini 1948, nach Prokop aaO).
In die Naturverherrlichung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlug Darwins Lehre eine große Bresche. Die von Freud so formulierte „darwinistische Kränkung“ des Menschen, die Erkenntnis, dass der Mensch als Teil der Natur ihren Daseinsbedingungen und insbesondere ihren Entwicklungsgesetzen unterworfen ist, beinhaltet eigentlich den Zusammenbruch des naturverklärenden humanzentrierten Weltbildes. Die Natur ist in keiner Weise zweckgerichtet auf Belange oder Bedürfnisse des Menschen. Am Beispiel der schönen Chilischoten im Bild: Sie sind nicht scharf, um unser Chili con carne zu würzen, sie sind scharf, um Fressfeinde abzuschrecken. Wie Darwin zeigte, hat „die Natur“ (sofern man sie überhaupt „personalisieren“ will) nicht einmal irgendein Interesse am Bestand des einzelnen Individuums.
Wenn man der Natur schon so etwas wie eine Zielgerichtetheit unterstellen will, dann allenfalls die, mit „ihrer Methodik“ auf das Überleben der Spezies, nicht des Individuums, abzuzielen. Aber auch dies gilt nur im engen Rahmen einer rein biologistischen Betrachtungsweise und scheitert schon bei der Kosmologie. Die häufige Anführung des anthropischen Prinzips als Beleg für eine Humanzentrierung geht nämlich fehl, weil dies seine eigentliche Bedeutung überinterpretiert: Das anthropische Prinzip besagt nicht mehr, als dass das beobachtbare Universum nur deshalb beobachtbar ist, weil es alle Eigenschaften hat, die dem Beobachter seine Existenz ermöglichen. Wäre es nicht für die Entwicklung bewusstseinsfähigen Lebens geeignet, so wäre auch niemand da, der es beobachten könnte. Was aber nicht heißt, dass es wegen der Beobachter so ist.
Hat der Mensch die „darwinsche Kränkung“ längst noch nicht überwunden, was vielfach offensichtlich ist, kann es auch nicht verwundern, wenn er die Natur und das Natürliche als scheinbaren Gegenpol zu den von ihm als solche empfundenen Zumutungen einer wissenschaftlich-technischen Welt kultiviert. Umso mehr, als er -wie schon erwähnt- den Angriffen und Zumutungen dieser Natur längst nicht mehr im früheren Maße ausgesetzt ist – paradoxerweise gerade wegen der von ihm mit Misstrauen betrachteten technisch-wissenschaftlichen Fortschritte. Er übersieht dabei, dass alle diese Fortschritte nichts anderes sind als eben dieser Natur abgerungene Erkenntnisse, die sich der Mensch aufgrund seiner ebenfalls naturgegebenen Fähigkeiten zunutze macht. In manchen Wissenschaftsdisziplinen mag dies undeutlich hervortreten, aber gerade die Medizin ist ein herausragendes Beispiel hierfür. Der Begriff Naturwissenschaft existiert nicht umsonst. Damit fällt der konstruierte Gegensatz von „natürlich“ und „menschengemacht“ in sich zusammen.
So wird nun „Natürliches“ zum Kronzeugen für das Heil, als Urgrund alles Guten überhöht und zur Universalwaffe gegen „böse Schulmedizin“ und beschwört eine heile Welt auch dort, wo es keine gibt. Statt aber einen künstlichen und nicht aufrechtzuerhaltenden Gegensatz von „natürlich“ und „technisch-chemisch-wissenschaftlich“ zu konstruieren, sollte die Trennlinie lieber zwischen wirksam und unwirksam, objektiv nützlich und objektiv sinnlos bis schädlich verlaufen. Geschähe dies, wäre das Problem der pseudomedizinischen Durchseuchung des Gesundheitsmarktes zumindest vom Ansatz her gelöst.
Wie von dem Schriftsteller Wolfgang Herrndorf zu Beginn seiner Krebsbehandlung kolportiert wurde, als man ihm „natürliche“ Alternativen zur evident wissenschaftlichen Methodik anbot: „Die Natur ist gerade dabei, mich umzubringen. Ich vertraue auf die Menschen, die ihre Tricks kennen und sie ausbremsen können.“ In dieser Sentenz wird vieles geradegerückt.
Der Wissenschaftler empfindet Demut vor der Natur. Aber er vergötzt sie nicht. Dies wäre als grundsätzliche Haltung zu empfehlen, die dann auch das Tor zu Fragen der Ethik in der Wissenschaft weiter öffnen kann.
(1) Prokop, O. u. Prokop, L.: Homöopathie und Wissenschaft, Stuttgart 1957
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