Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

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„Richterin Saleschs größter Fall“ – Zum Rechtsverständnis im deutschen TV

Lädierte TV-Justizia (Microsoft Copilot)

Man lacht. Oder man schüttelt den Kopf. Oder beides.
Was RTL diese Woche (Anfang Juni 2025) als „größten Fall“ von Richterin Salesch zur besten Sendezeit in Spielfilmlänge angekündigt hatte, war nicht nur eine neue Folge dieser pseudo-juristischen Unterhaltungssendung – es war ein mediales Trauerspiel. Und es zeigt, wie weit sich Unterhaltung vom Anspruch entfernt hat, wenigstens nicht aktiv zu verdummen.

Denn diese Produktion, mit Dialogen wie aus einem schlechten Schüleraufsatz, Zombie-Schauspielern und einer Dramaturgie, die selbst bei Jura-Erstsemestern keine Gnade finden würde, leistet nicht einmal mehr den Versuch, die Abläufe einer Gerichtsverhandlung auch nur zu skizzieren.

Der Zuschauer wird systematisch irregeführt.

Er lernt: Gerichte klären Sachverhalte wie die Kripo oder gern auch mal im Stile von Detektiven (die polizeilichen Ermittlungen müssten zumeist von Volltrotteln durchgeführt worden sein), Zeugen dürfen auf Zuruf dazwischengrätschen und werden bei Bedarf einfach aus dem Hut gezogen, emotionale Ausbrüche sind Alltag, im Gerichtssaal entstehen aus Schreiorgien gar gelegentlich Handgreiflichkeiten – und der „Richter“ klärt das Ganze dann mit einem moralisch angereicherten Schlusswort.

Es sind nicht nur inhaltliche Fehler – es ist die Grundhaltung dieser Formate, die problematisch ist. Wer derartiges regelmäßig konsumiert, entwickelt ein Bild der Justiz, das mit der rechtsstaatlichen Realität nichts zu tun hat. Und das schlägt durch: in Talkshows, in Leserbriefen, in Gerichtssälen, im Smalltalk. In einem Klima, in dem Vertrauen in Institutionen ohnehin schwindet, ist das Gift.

Fiktion darf alles?

Nicht, wenn sie sich ins Gewand der Wirklichkeit kleidet und vorgibt, „Realität“ zu zeigen oder zumindest als „Infotainment“ realitätsnah zu agieren. Dann wird sie zur Simulation, zur semantischen Täuschung, zum performativen Realitätsersatz – und genau da liegt das Problem.
Das ist dann nicht mal mehr Justiztheater. Es ist ein Spiegelbild kultureller Verantwortungslosigkeit.

Fazit

Es geht nicht um Geschmack. Es geht um Haltung, um Linie, um die Bewahrung eines basalen Alltagsrealismus in einer Welt der „Infodemie“. Und darum, ob wir als Gesellschaft dulden wollen, dass selbst unsere Grundinstitutionen im Fernsehen zu Pappmaché werden – in Formaten, die unter dem Deckmantel des Entertainments das Vertrauen in Recht und Aufklärung unterminieren.

Und die Folgen?

Sind Menschen, die einen regelrechten Kulturschock erleben, wenn sie tatsächlich einmal als Beteiligte oder Zuschauer in einem echten Gerichtssaal sitzen. Die „Einspruch!“ von der Besucherbank rufen, vergeblich auf eine allfällige Rangelei warten und ganz allgemein davon enttäuscht wird, dass es bedauerlicherweise am Sex and Crime-Effekt weitestgehend fehlt. Die Spannung wird vor Gericht nun mal reduziert, wenn die Kripo vorher ihre Arbeit gemacht und den Sachverhalt geklärt hat und das nicht – wie im TV – dem Gericht selbst obliegt.

Übertrieben? Mitnichten.

Wer sich fragt, warum Schockanruf-Betrüger so erfolgreich sind, sollte sich einmal vor Augen führen, was mediale Fehlprägung bewirken kann – in diesem Falle sogar die von amerikanischen Krimiserien. Eine angebliche Polizistin am Telefon, die wegen eines Verkehrsunfalls eine Kaution zur Vermeidung von Untersuchungshaft verlangt – das klingt für viele inzwischen völlig plausibel. Dank täglicher Fernsehgewöhnung. Um es hier noch einmal deutlich klarzustellen: Es gibt in Deutschland keine Kautionen, die einen vor richterlich angeordneter Untersuchungshaft bewahren können. Entweder liegt ein Haftgrund vor (Flucht-, Wiederholungs- oder Verdunkelungsgefahr) oder nicht, was der Untersuchungsrichter binnen einer kurzen Frist zu entscheiden hat.

Selbst das Verhalten in deutschen Gerichtssälen verändert sich, wie man hier und da hört – nicht aus Böswilligkeit, sondern wegen schlichter Desorientierung. Fernsehen wie dieses leistet seinen Beitrag dazu. Und zwar nicht als harmloser Unsinn – sondern als unterschätzte Quelle struktureller Verblödung.



Anhang: Als Justiz im Fernsehen noch ernst genommen wurde

Die Kritik an den inszenierten Gerichtsshows des Privatfernsehens – ob Barbara Salesch, Alexander Hold oder jüngere Formate – richtet sich nicht primär gegen Unterhaltung an sich, sondern gegen die Verzerrung eines sensiblen gesellschaftlichen Bereichs: der Rechtsprechung. Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass Justiz im deutschen Fernsehen einst anders dargestellt wurde – differenzierter, respektvoller, oft sogar pädagogisch wertvoll.

1. Ehen vor Gericht (ZDF, 1970er–80er)

Diese Serie behandelte fiktive Scheidungs- und Familienrechtsfälle mit dem Anspruch, das Familienrecht verständlich zu machen. Die Inszenierung war zurückhaltend, der Fokus lag auf der juristischen Argumentation und den sozialen Implikationen. Kein Spektakel, sondern Recht als gesellschaftlicher Rahmen.

2. Das Verkehrsgericht (ARD, 1983–2001)

Eine lange Zeit erfolgreiche Reihe, die den Alltag juristisch reflektierte: Verkehrsunfälle, Alkohol am Steuer, Fahrerflucht – verhandelt vor Gericht, realitätsnah und ohne Schauprozess-Ästhetik. Was heute nach unspektakulärem Bildungsfernsehen klingt, war damals Publikumserfolg. Und heute – zusammen mit Ehen vor Gericht – ein Youtube-Hit.

3. Tatbestand (ZDF, 1970–1983)

Basierend auf echten Kriminalfällen, mit Fokus auf den Weg vom Ermittlungsverfahren bis zur richterlichen Entscheidung. Keine Action, kein CSI-Glamour – stattdessen: glaubwürdige Erzählung, rechtsstaatliches Verfahren, realistische Komplexität.

4. Streit um drei (ZDF, 1966–1995)

Nicht ausschließlich gerichtszentriert, aber geprägt vom juristischen Konflikt. Diese Dramaserie setzte auf plausible Alltagskonflikte mit nachvollziehbaren rechtlichen Hintergründen. Ihre lange Laufzeit spricht für die Nachhaltigkeit des Konzepts.


Das Medium als Mitgestalter von Rechtsbewusstsein

All diese Formate hatten gemein, dass sie das Justizsystem nicht entstellten, sondern erklärten. Sie trugen zur Rechtsbildung bei – ein Bildungsauftrag, der heute im Unterhaltungsmodus fast völlig verloren gegangen ist. Sie akzeptierten das Recht als etwas, das nicht schreit, sondern abwägt.

Im Kontrast dazu steht das Privatfernsehmodell der 2000er Jahre, das immerhin so erfolgreich war, dass es heute teilweise in neuen Produktionen mit den alten Protagonisten wieder aufgewärmt wird (Das Strafgericht, Richterin Barbara Salesch): Gericht als Bühne, Urteil als Gag, Publikum als moralischer Ersatzrichter. Und heute? Noch groteskere Varianten im Netz, auf YouTube und TikTok, wo „Gericht“ oft nur Kulisse für dramatische Selbstvermarktung ist.


Deutscher Justizfilm nach 1945 – selten, aber stark

Auch im Kino wurde das Thema Justiz in Deutschland selten, aber mit Anspruch behandelt. Besonders hervorzuheben sind:

  • Der Fall Fritz Bauer (2015) – Über den Staatsanwalt, der die Auschwitz-Prozesse ermöglichte
  • Das schreckliche Mädchen (1990) – Über institutionellen Selbstschutz in der Nachkriegsjustiz
  • Terror – Ihr Urteil (2016) – Über das ethische Dilemma zwischen Recht und Moral
  • In Sachen Kaminski (1983) – Über Machtmissbrauch und politische Justiz

Diese Filme zeigen, dass Justiz auch im Film kein Spektakel sein muss – sondern ein moralischer Prüfstein für Gesellschaften.


Fazit: Wer heute über Barbara Saleschs größten Fall spricht, sollte wissen:
Die Justiz im Fernsehen war nicht immer so. Und sie muss es auch nicht bleiben. Besser geht immer.


“Akupunktur ist mehr als Placebo” – Quark bei Quarks

Gestern – am 21.02.19 – veröffentlichte das WDR-Wissenschaftsmagazin “Quarks” einen Videobeitrag und den zugehörigen Text unter dem Titel “Akupunktur ist mehr als Placebo”. Wohlgemerkt, das mit einem wissenschaftlichen Anspruch antretende TV-Magazin “Quarks” tat das, nicht das Zentrum der Gesundheit oder der Zentralverein der deutschen Pseudomediziner.

Nein, Akupunktur ist NICHT mehr als Placebo (worunter ich in diesem Falle mal “unpräzise” die Gesamtheit der non-specific-Effects, aller Kontexteffekte, einschließlich der hier relevanten Suggestiveffekte verstehe), darüber besteht in der seriös-kritischen wissenschaftlichen Gemeinde kein Dissens. Was Quarks in der Diskussion auf Facebook für eine Haltung gegenüber einer Vielzahl fundierter und belegter Einwände demonstrierte, das hat mich mehr verstört als der Beitrag selbst.

Akupunktur ist eine typische “Gemengelage”. Hier kommen viele Aspekte zusammen: Falsche historische Bezüge, soziokulturelle Gegebenheiten, New-Age-Gedankengut, die üblichen Euphemismen von der “sanften” Medizin und pures Nichtwissen. Das Aufstreben der Akupunktur seit den 1970er Jahren ist geprägt von dieser Gemengelage (auf die frühe Rezeption im Westen schon seit dem 17. Jahrhundert gehe ich in diesem Zusammenhang nicht weiter ein). Die bis heute anhaltende Akupunktur-Welle wurde ausgelöst vom Bericht des Journalisten James Reston, der den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon auf seiner China-Reise begleitete und der dort nachoperativ (nach einer Blinddarmentfernung) mit Akupunktur behandelt wurde. Davon war er so angetan, dass er dies als eine Art Wunder in etlichen Artikeln berichtete. Dies traf auf die New-Age-Stimmung der damaligen Zeit und löste einen Hype aus, der erst zu einem Pilgerzug nach China führte, dann auch die Hürde zur ernsthaften medizinischen Forschung überschritt und – erwartbar – zunächst scheinbar belastbare Evidenz pro Akupunktur zutage förderte. Genau die unsägliche Vermischung von Spekulation mit unkritisch angewandter evidenzbasierter Methodik, die mir schon länger suspekt ist, auch auf anderen Gebieten.

In der Tat. Wie auch bei anderen pseudomedizinischen Methoden ohne Grundplausibilität zeigt sich hier, wie sehr die evidenzbasierte Methode (die Schaffung belastbarer Evidenz durch Studien) ein Einfallstor für ihr glattes Gegenteil sein kann: für die Scheinlegitimation von Pseudomedizin. Quarks gab mit seinem Beitrag und vor allem mit der unsäglichen Diskussion auf seiner Facebook-Seite hierfür ein bedauerliches Beispiel.

Was meine ich damit? Nun, mehr oder weniger wird durch die wissenschaftliche Untersuchung nach den Methoden der evidenzbasierten Medizin von vornherein eine Legitimation dessen suggeriert, was sich die Wissenschaft da “vornimmt”. Wenn wissenschaftliche Studien durchgeführt werden, dann muss doch was dran sein, denkt sich Otto Normalpatient. Das wäre nun noch nicht so gravierend. Aber es kommt noch mehr dazu:

Belastbare Outcomes (Ergebnisse) von Studien sind nur bei höchster Qualität von Studiendurchführung und -design zu erwarten. Es ist bekannt, dass selbst auf den ersten Blick nicht erkennbare Unzulänglichkeiten in Studien (z.B. mangelnde Verblindung, Bildung von Gruppen, die für eine Vergleichbarkeit ungeeignet sind) den Outcome nahezu ins Gegenteil verzerren können. Und dies geschieht. Besonders bei Studien zu pseudomedizinischen Methoden, die meist einen confirmation bias schon deshalb haben (vom publication bias wollen wir gar nicht reden), weil sie im Grunde nicht ergebnisoffen, sondern als eine Art Bestätigungsforschung durchgeführt werden. Und diese vielfach nicht belastbaren Outcomes einzelner Studien oder auch von schlecht durchgeführten Reviews dienen den Proponenten pseudomedizinischer Methoden als wohlfeile Argumentationsgrundlagen, um ihren Methoden den Anstrich des Evidenzbasierten zu geben. Was der normale Rezipient schlicht nicht nachprüfen kann.

Dies ist ein weites Feld und soll hier auch nur angerissen werden. Und zwar deshalb, weil Quarks uns genau hierfür ein Musterbeispiel geliefert hat.


Trotzdem zur Verdeutlichung dessen, was ich meine, eine kleine Geschichte (eher Parabel) – sie stammt von einem der Urväter des kritisch-skeptischen Denkens, von Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657 – 1757) und ist sehr illustrativ:

Im Jahr 1593 lief das Gerücht um, dass einem siebenjährigen Jungen in Silesia ein goldener Backenzahn an der Stelle eines ausgefallenen Milchzahns gewachsen war. Horatius, Medizinprofessor an der Universität von Helmstadt, schrieb 1595 eine “Historia” über diesen Zahn und führte darin aus, dass es sich teils um ein natürliches, teils um ein mirakulöses Ereignis gehandelt habe, das offenbar von Gott zu diesem Kind geschickt worden sei, um die Christenheit angesichts der Bedrohung durch die Türken zu einigen. Man möge sich vorstellen, was für einen Trost für die Christenheit einerseits und welche Beängstigung für die Türken andererseits dieser Vorgang mit sich bringen mochte. Um in der Sache des Zahnes die historische Wissenschaft nicht zurückstehen zu lassen, schrieb Rollandus sein großes Geschichtswerk noch im gleichen Jahr um.
Zwei Jahre danach nahm Ingolsteterus, ein ebenfalls gelehrter Mann, scharf Stellung gegen die Ausführungen von Rollandus zum goldenen Zahn, worauf Rollandus wiederum eine wohlformulierte und scharfsinnige Replik verfasste. Ein weiterer Gelehrter, Libavius, kompilierte das bis dahin Geschriebene in dieser Sache und fügte seine eigene Sicht der Dinge hinzu. Nichts war an all diesen großartigen Büchern zu bemängeln, abgesehen davon, dass bislang nicht geklärt war, ob der Zahn tatsächlich aus Gold bestand. Als ein Goldschmied die Sache untersuchte, fand er heraus, dass es sich nur um eine dünne Goldfolie handelte, die kunstvoll auf dem Zahn angebracht worden war.
Fazit: Sie fingen alle an, gelehrte Bücher zu schreiben, konsultierten aber erst danach den Goldschmied…

(nach Fontenelle: Entreriens sur la Pluralité des Mondes suivi de Historie des Oracles)

Ich finde, das illustriert sehr gut, wie schnell die Schranke zur “Verwissenschaftlichung” unplausiblen und / oder unbelegten Unsinns überschritten werden kann. Kluger Mann, dieser Fontenelle.


Die Einzelstudien zur Akupunktur sind kaum überschaubar, selbst an Reviews gibt es eine Menge. Trotzdem wissen wir seit geraumer Zeit (man kann sagen, seit Ende der 1990er Jahre), dass sich ein klares Muster bei den Studien abzeichnet, vor allem, seitdem sie kritisch betrachtet, nach Qualität selektiert und ihre Ergebnisse in der Community diskutiert und geradegerückt werden. Gerade bei Akupunkturstudien gibt es geradezu einen Katalog von typischen Design- und Durchführungsfehlern, die in leichten Abwandlungen immer wieder auftauchen. Ich werde irgendwann noch einmal näher darauf eingehen. Es ist aber festzuhalten, dass “Cherrypicking” im Meer der Akupunkturstudien eine leichte Übung ist – anders als das Herausarbeiten der tatsächlichen Evidenzlage. Letzteres ist aber auch keineswegs unmöglich, sondern setzt nur eine gewisse Recherchefähigkeit und kritisches Herangehen an die Sache voraus.

Man muss also, um eine gültige Aussage zum wissenschaftlichen Stand der Akupunktur treffen zu können, das “Muster” erkennen können, das sich aus einer kritischen Gesamtbetrachtung der gesamten Studienlage zur Akupunktur ergibt. Und dieses Muster ist vorhanden und inzwischen ziemlich klar: Nirgends ergeben sich relevante Unterschiede zwischen Akupunktur und Scheinakupunktur (auch nicht beim Pieksen mit einem Zahnstocher …). Eine reaktive Variable ist offenbar vor allem, wenn nicht allein, der Grad der Zuwendung des Therapeuten im Setting. Woraus folgt: Wenig bis nichts spricht für eine spezifische Wirkung. Akupunktur ist Placebo. Ein Placebo besonderer Art, sicher, mit einem hohen Suggestivfaktor, zutreffend “Theatrical Placebo” genannt, in dem gleichnamigen Artikel von Steven Novella und David Calquhoun in ihrem Aufsatz in “Anaesthesia and Analgesia” von 2013.

Eine spezifische, auf die Methode selbst (intrinsisch) zurückzuführende Wirkung hat Akupunktur nicht. Ihre Grundannahmen von “Qi” und “Meridianen” bestehen aus dem schon erwähnten Wust von soziokulturellen Missverständnissen, Bedingtheiten und Wunschvorstellungen. Nicht einmal den Wunsch nach “östlicher Weisheit” erfüllt all dies. Es ist längst – anthropologisch und medizinhistorisch – belegt, dass diese vitalistischen Vorstellungen sehr eng mit solchen der nahöstlichen und früheuropäischen Kulturen korrelieren und die “östliche Weisheit” darin eine Illusion ist, die von heutigem Wunschdenken beflügelt wird.


Auf diese Umstände hingewiesen und auf die Forschung von Ted Kaptchuk, der nach langjähriger Beschäftigung mit TCM und Akupunktur zu dem Schluss kam, dies alles könne nur Placebo sein, antwortete Quarks allen Ernstes mit einer Handvoll Einzelnachweise, die nun wirklich mit einer wissenschaftlichen Gesamtschau auf die Akupunktur nichts zu tun haben, ja, teils nicht einmal die behaupteten Schlüsse überhaupt zuließen. Eine dieser “Quellen” war zudem ein tendenzieller Besinnungsaufsatz in einem Akupunktur-Journal – was für ein Evidenzbeleg…

Keinen Millimeter ist Quarks in der langen Diskussion von seiner Grundposition abgewichen, Akupunktur sei “mehr als Placebo” – mit anderen Worten, verfüge über nachgewiesene Evidenz. Ich möchte das gar nicht weiter bewerten, weil mir nahezu die Worte dafür fehlen. Verhehlt sei aber nicht, dass mich ein Umstand bei alledem besonders aufgebracht hat: Dass die Quarks-Redaktion Kommentatoren mit berechtigten Einwänden aufgefordert hat, “Belege” beizubringen, damit man “evidenzbasiert weiterreden” könne. Angesichts der eigenen unbelegten Position schon ein starkes Stück.

Und das geht so nicht. Und die atemberaubende “Verteidigung” dieser Position in der Online-Debatte war nichts weniger als ein echtes Ärgernis. Wäre es nicht so, säße ich jetzt hier nicht und würde diesen Beitrag schreiben.


Mein Tipp an alle, die mit Pseudoevidenz zur Akupunktur behelligt oder gar aufgefordert werden, “Gegenbeweise” anzutreten: Bitte nicht auf der Grundlage einzelner Studien so etwas versuchen und umgekehrt auch Beweisversuche auf diesem Level zurückweisen. Immer konsequent auf die Gesamtlage verweisen, unter diesem Beitrag einige wichtige Linktipps zu Beiträgen und Aufsätzen, die sich genau mit dieser Gesamtlage befassen.

Leider ist praktisch nichts Wesentliches in deutscher Sprache verfügbar. Man kann aber sehr gut darauf hinweisen, dass die GERAC-Studien (German Acupuncture Trial) aus den Jahren 2002 bis 2007 eben NICHT zu einer breiten Legitimation der Akupunktur im deutschen Gesundheitswesen geführt haben. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat, ohne die Akupunktur als Methode mit spezifischem Wirkungsnachweis damit anzuerkennen, rein pragmatisch für Knie- und Rückenschmerzen (ausdrücklich NICHT für Kopfschmerzen und Migräne) eine Kassenerstattung zugelassen, weil der damalige Stand der Schmerztherapie nicht ausreichte, um die Kontexteffekte der Akupunktur (die es fraglos gibt) auf die Plätze zu verweisen. Nicht mehr – nicht weniger. Diesem Beschluss lag eine Unmenge wissenschaftlichen Materials und auch eine Reihe gutachtlicher Stellungnahmen zur Akupunktur zugrunde.

Und dieser Beschluss ist nach meiner bescheidenen Ansicht inzwischen auch revisionsbedürftig. Die NICE-Guideline für Muskel-Skelett- Beschwerden des National Health System (NHS), weltweit als maßstabsetzend anerkannt, hat Akupunktur aus ihren Therapieempfehlungen in der Neufassung 2018 verbannt (übrigens auch einige medikamentöse Therapien). Der ärztliche Direktor von NICE sagte dazu:


“Regrettably there is a lack of convincing evidence of effectiveness for some widely used treatments. For example acupuncture is no longer recommended for managing low back pain with or without sciatica. This is because there is not enough evidence to show that it is more effective than sham treatment.”


Links:

Acupuncture is Theatrical Placebo” – der Schlüsselartikel von Colquhoun / Novella (2013) zur wissenschaftlichen Gesamtschau auf die Akupunktur – Link

Is Acupuncture Winning” – ein aktueller Artikel (Januar 2019) von Dr. Harriet Hall, weltweit bekannt als “The SkepDoc”, über ihre persönliche “Laufbahn” in Sachen Akupunktur – Dr. Hall war Mitarbeiterin von Prof. Bonica, der als einer der ersten begann, dem von J. Reston losgetretenen Hype nach anfänglicher eigener Begeisterung auf den Grund zu gehen – Link

Moffet HH: Traditional acupuncture theories yield null outcomea systematic review of clinical trials. Diese Arbeit legte als erstes übergreifendes Review dar, dass bei kritischer Betrachtung die bisherige Bewertung der Studienlage viel zu optimistisch war und letztlich über Placebo hinaus keine Wirkung nachweisbar ist. Moffets Forschung stellte die Gegenposition zum “Consensus Statement Acupuncture” des National Health Institute aus dem gleichen Jahr dar, das sich vorsichtig, aber immerhin zu “vielversprechenden Resultaten bei einer Vielzahl von Indikationen” geäußert hatte – Link

Zusammenstellung sämtlicher Cochrane-Reviews zur Akupunktur nach dem Stand von März 2018 – Link

Acupuncture for migraine” – eine Kritik zur Li-Migräne-Studie von 2013 aus evidenzbasierter Sicht, als (noch recht harmloses) Beispiel für typische Fehlschlüsse in Akupunktur-Studien – Link

Chinese Medicine: Nature Versus Chemistry and Technology” – von Paul Unschuld, dem Experten schlechthin für die Einordnung der Mythen über die “Traditionelle chinesische Medizin” – als Kurzbeitrag zu der oben angesprochenen “soziokulturellen Gemengelage” – Link

Mit chinesischer Tradition hat das wenig zu tun” – Interview mit Paul Unschuld im SPIEGEL – Link

Ernst E: The recent history of acupuncture. AmJMed 2008 – Link
Das Fazit sei hier kurz zitiert:
“So, after 3 decades of intensive research, is the end of acupuncture nigh? Given its many supporters, acupuncture is bound to survive the current wave of negative evidence, as it has survived previous threats. What has changed, however, is that, for the first time in its long history, acupuncture has been submitted to rigorous science—and conclusively failed the test.”

Unverzichtbar dieser erhellende Blick von Lehmann “Akupunktur im Westen: Am Anfang stand ein Scharlatan” im Ärzteblatt, auch international nachgedruckt, auf das Thema der “Adaption” von “altem fernöstlichen Wissen” im Europa des 20. Jahrhunderts – Link

G-BA: Pressemitteilung “Akupunktur zur Behandlung von Rücken- und Knieschmerzen” – Link

Das soll an dieser Stelle genügen. Ist eh wieder zu lang geworden. Bitte um Entschuldigung. Nur noch eins: Bei “Susannchen braucht keine Globuli”, der Familienseite des Informationsnetzwerks Homöopathie, gibt es einen sehr schönen Überblicksartikel zur Akupunktur in zwei Teilen – Link.


Bildnachweis: Pixabay License


Nachtrag, Mai 2022

Nicht nur aus Gründen der Fairness, sondern in ausdrücklicher Anerkennung einer glänzenden Rehabilitation von „Quarks“ ist ein empfehlender Hinweis auf den Podcast der „Science Cops“ vom 22. Mai 2022 zum Thema Akupunktur hier sehr angebracht:
https://www.quarks.de/podcast/science-cops-die-akte-akupunktur-nichts-als-nutzlose-nadeln/

Bullshitschleuder pro Homöopathie?!?

Schon mal vom BPH gehört? Der “Bundesverband Patienten für Homöopathie e.V”. Gibts schon lange, dümpelte aber meines Wissens seit Äonen so vor sich hin, auch auf dem Webauftritt tat sich praktisch nichts.
Offenbar hat sich jemand aus der homöopathischen Szene gefunden, der sich darangemacht hat, den Verein wiederzubeleben. Dabei wird mächtig auf die Tube gedrückt. Anlässlich der bayerischen Landtagswahl wurde ordentlich gelärmt, fast unvermeidlich wurde vor kurzem auch dort das Geraune um das Review des australischen NHMRC aufgewärmt, wo Herr Tournier, (inzwischen dort ausgeschieden, Anm. UE 09.2022) Chef des Homeopathy Research Institute, angebliches Insiderwissen zum “Stand der Dinge” von sich gab, von dem in Australien nichts bekannt ist… Naja.


Nun hat die Propagandaabteilung dort einen feinen Artikel veröffentlicht, der sich mit dem Thema des öffentlichen Angebots von Bullshit in überwiegend von Steuermitteln finanzierten Volkshochschulen befasst, also möchte, dass den “alternativen Heilmethoden” angemessener Raum in deren Angebot eingeräumt werde – speziell der Homöopathie, selbstredend. Der SPIEGEL-Titelbeitrag vom 18. August d.J. muss mal wieder herhalten als Zielscheibe der Empörung, speziell in der Person von Edzard Ernst. Dieser hatte es – nicht zum ersten Mal – dort unternommen, die Verbreitung von Blödsinn (sorry, Bullshit) in Einrichtungen, die “Hochschule” in der Bezeichnung führen, scharf zu kritisieren.


Was einen allerdings sprachlos zurücklässt, ist die Mitteilung im Artikel, dass der Deutsche Volkshochschulverband auf Anfrage bestätigt habe, dass er diesem Ansinnen (auch weiterhin) folgen werde. Tja, da kann ich den Ländern nur empfehlen, ihre Finanzierung der Volkshochschulen stärker an die Seriosität von deren Angeboten zu binden. Denn die Hauptfinanzierung kommt aus den Landestöpfen, der Rest aus kommunalen Mitteln und nur der kleinste Teil aus Kursgebühren. Und es gibt in den Ländern Volkshochschulgesetze, die meines Wissens nicht auf die Verbreitung von Blödsinn (aka Bullshit) zugeschnitten sind.


Der BPH “begrüßt” dies. Klar. Aber richtig sauer macht mich mal wieder, dass die Homöopathielobby in diesem Zusammenhang auch noch davon redet, es gehe um den mündigen und informierten Patienten. Wie bitte? Seit Jahrzehnten wird die Patientenschaft mit Fehl-, Des- und Nichtinformation zur Homöopathie überschüttet: Sie sei hoch wirksam, der Schulmedizin womöglich überlegen, sanft, natürlich und nebenwirkungsfrei, altbewährt und ohne Chemie und was dergleichen Unsinn da noch mehr unter dem Schutz des Arzneimittelgesetzes den Leuten wie das berühmte Shakespearesche “Gift in Othellos Ohr” eingeträufelt wird. Deshalb, ceterum censeo: Wir brauchen endlich, endlich ein klares Statement von deutschen Institutionen des Gesundheitswesens, nach dem Beispiel des englischen NHS, der Russischen Akademie der Wissenschaften, der Ärztekammern Frankreichs und Spaniens, um nur die in letzter Zeit Aufgetretenen zu nennen. Sonst wird es nicht gelingen, das völlig ungerechtfertigte Vertrauen der Bevölkerung in das Lügengespinst der Homöopathie-Propaganda wirklich aufzubrechen.

Die kritischen Informationsangebote sind da und werden auch angenommen (was man ja an den hektischen Aktivitäten der Lobbyisten in Opposition hierzu sieht) – aber ohne die Beseitigung des gesetzlichen Schutzschildes über der Homöopathie wird der Bürger auch weiterhin eben darauf vertrauen, dass eine staatliche geadelte Methode doch nicht unwirksame Scheinmedizin sein könne. Wobei ich die Gelegenheit wahrnehmen möchte, dies auch gleich der organisierten Ärzteschaft ins Stammbuch zu schreiben, die mit der weiteren Duldung von Homöopathie als ärztlicher Therapieform per Adelung durch ärztliche Zusatzbezeichnungen ihren wissenschaftlichen Anspruch täglich weiter untergräbt (was sich angesichts inzwischen 13 von 17 Landesärztekammern und der Bundesärztekammer so unerwartet schnell wie bemerkenswert verändert hat – Anm. UE 09.2022). Ich nehme dabei natürlich die Ärzte aus, die gar keinen wissenschaftlichen Anspruch an ihre Tätigkeit stellen, selbstverständlich.


Was soll man dazu sagen? Der BPH – letztlich nur ein weiterer Lautsprecher der Homöopathie-Lobby, der in Stellung gebracht wird, nachdem man hier und da seine Felle langsam nass werden sieht. Was erstaunt, ist die hochtrabende Selbstüberzeugung, der Tenor, der am Rande ultimativer Forderungen entlangschrammt. Allerdings kam mir doch kurz der Gedanke, dass BPH möglicherweise für Bullshitschleuder pro Homöopathie stehen könnte… aber nein, gänzlich abwegig, es geht ja um die Patienten. Die selbstbestimmten, informierten. Für die man sogar Mitglied im Europäischen Patientenverband pro Homöopathie ist.

Achso, ja – einen Beleg für die erhaltene Auskunft führt die BPH-Seite nicht an. Angesichts des Umstandes, dass eine landesweite Vortragsreihe der Volkshochschulen im Verband Baden-Württemberg für 2020/2021 zur kritischen Betrachtung der Homöopathie nur angesichts der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnte, scheinen doch Zweifel an der Validität der Behauptung angebracht.


Zur Selbstbesinnung empfehle ich hier die Lektüre von Harry G. Frankfurts kleinem Bändchen “Bullshit”. Das kleine Büchlein eignet sich zum ständigen Trost für Skeptiker und kann ob seines kleinen Formates immer mit dabei sein.


Bildnachweis: AZ QUOTES

Spiegel-Beilage vom 10.11.2018: War wohl nichts

Aus dem heute erschienenen SPIEGEL fällt einem eine Beilage entgegen, ein Heftchen namens „wohl – Das Gesundheitsmagazin“, das viermal jährlich in dieser Form unter die Leute gebracht wird. Ab der Seite 6 findet sich ein Artikel mit dem Namen „Sanfte Fördermittel“, der mich zunächst verwundert an die Tätigkeit der Kreditanstalt für Wiederaufbau denken ließ… Aber nein. Es handelt sich um einen Propagandaartikel pro Homöopathie, und zwar einen, der richtig dick aufträgt.

Nein, nichts für Presse- oder Werberat. Es ist eben „nur“ eine Beilage, verantwortlich herausgegeben von einer Agentur, die allerlei Anzeigen mit passenden Fachartikeln „einrahmt“. Ein Presseorgan im Sinne des Pressekodex ist das nicht. Und was den SPIEGEL angeht, so vermute ich mal zu dessen Gunsten, dass außer der Marketingabteilung, die die Möglichkeit verkauft, über das Heft Beilagen unters Volk zu bringen, niemand etwas groß von dieser Sache gewusst hat. Trennung von Werbemarketing und Redaktion zur Vermeidung von Beeinflussung ist ja eine löbliche Sache, läuft aber genau dann völlig in die falsche Richtung, wenn die redaktionelle Glaubwürdigkeit durch mit geschlossenen Augen eingefädelte Marketing-Maßnahmen konterkariert wird. Dies scheint mir hier der Fall zu sein.

Nun kann man das Ganze als unvermeidbares Ärgernis abtun, gegen das es sich eigentlich nicht einmal lohnt, Position zu beziehen. Der Homöopathiebeitrag strotzt jedoch derart vor fachlichen Fehlern und Falschdarstellungen, bei denen einen doch das Gefühl beschleicht, dass dazu doch ein paar Worte gesagt sein wollen.

Autoren des Beitrags sind Dr. Martin Frei-Erb, Homöopathiedozent am Institut für Komplementärmedizin an der Uni Bern und Dr. Annette Schönauer, tätig am Kinderkrankenhaus St. Marien, Landshut, vielfach vertreten in den Publikationen der Carstens-Stiftung. Zwei Experten, die doch wohl wenigstens die Details ihres Faches beherrschen sollten. Nun ja.


Gleich zu Beginn wird die geneigte Leserschaft mit allerlei mehr oder weniger exotischen homöopathischen Mitteln konfrontiert. Sicher würde es den Leser über die Namen der Substanzen hinaus viel mehr interessieren, wie es zu dem phänomenalen Remedium Hekla Lava gekommen ist, denn diese lesenswerte Story zeigt überdeutlich die skurrile Denkweise der Homöopathen und würde vielleicht eine gewisse Skepsis einsetzen lassen. Und nein, Apis mellifica beruht nicht auf einer Ursubstanz „Bienengift“. Die Ursubstanz ist ein alkoholischer Auszug aus der ganzen Biene, die lebend der Prozedur des Einlegens in Alkohol unterzogen wird. Das „Bienengift“ macht nicht mehr als etwa  ein Promille der Masse des Tiers aus, wenn die Biene überhaupt Giftträgerin war (was nicht unbedingt der Fall sein muss). Darüber aufzuklären, scheuen die Autoren ganz offensichtlich. Vielmehr bereiten sie mit dem Anführen dieser Mittel die große Auflösung vor, die da lautet:

„Homöopathie hat eine lange Geschichte und Tradition als naturheilkundliche Behandlungsmethode.“

Äh nein. Hat sie nicht. Darüber sollten sich die beiden Experten doch wohl klar sein. Da ist sie wieder, die völlig fehlgehende Gleichsetzung von Hahnemanns Methode mit sanfter, schonender, wirksamer und auch noch möglichst nebenwirkungsfreier „Naturheilkunde“. Zum hunderttausendsten Mal: Homöopathie hat mit Naturheilkunde nichts zu tun! Homöopathie ist eine Arzneimittellehre, eine Form von Pharmazie, die Arzneimittel herstellt, die keine wirksamen oder gar keine Inhaltsstoffe enthalten und auf Ursubstanzen beruhen, deren Eignung für spezifische Indikationen völlig unbelegt ist. In der Homöopathie darf man mit Fug und Recht das glatte Gegenteil von Naturheilkunde erkennen. Aber wir sehen hier einmal mehr die seit Jahrzehnten im wohlverstandenen Eigeninteresse bei der Kundschaft gepflegte Imagination von Blümchen, Schmetterlingen, sanfter Musik und engelsgleich schwebenden Globulipflückfeen. Bar jeder Redlichkeit wird gleich zu Anfang die Leserschaft so eingestimmt.


Herr Frei-Erb möchte sodann damit punkten, dass eine Kassenerstattung für Homöopathie in der Schweiz seit 2012 gegeben sei. Schon wieder das Verkaufen der Schweiz als gelobtes Land der staatlich legitimierten Pseudomedizin, nichts anderes als die nächste Fliegenfalle mit einem scheinbaren Autoritätsargument, dem kürzlich sogar die Neue Zürcher Zeitung in einem Artikel klarstellend entgegengetreten ist. Hier muss man festhalten, dass – kein Ruhmesblatt für die direkte Demokratie – trotz fehlender Wirksamkeitsnachweise und nicht, weil solche vorlägen, 2017 die Erstattungsfähigkeit von fünf “komplementären” Methoden (u.a. Homöopathie) nach gewaltigem Hin und Her wieder aufgenommen wurde. Trotz. Die ganze Geschichte findet sich hier. Also bitte, nicht wieder mit dem „Schweiz-Argument“ daherkommen, Herr Frei-Erb, wenn Ihnen auch in Sachen homöopathiespezifischer Narrative ein gewisser Bias zugestanden werden mag, bei reinen Tatsachen ist doch wohl zu erwarten, dass diese nicht auch noch verzerrt dargestellt werden. Dass Australien, Russland, England die Homöopathie aus dem Gesundheitswesen verbannt haben, dass Spanien und Frankreich dabei sind, das Gleiche zu tun und dass in den USA die Auflagen für die Verkaufskennzeichnung von Homöopathika immer strenger werden, das ist den Freunden der Zuckerpille keine Silbe wert. Fehlinformation durch Weglassen.


Aber es wird jetzt erst richtig interessant, denn nun wendet sich der Artikel den bösen Kritikern, auch Skeptiker genannt, zu. Und das beginnt gleich mit dem Satz: „Hierzulande werden Skeptiker nicht müde, die Studienlage zum Thema Homöopathie zu kritisieren“.

Also, jetzt bin ich aber wirklich geplättet. Das ist mir nun gänzlich neu. Denn die Studienlage, die globale, die der höchsten Evidenzstufe, derjenigen der zusammenfassenden Reviews und Metaanalysen – die kritisieren wir Skeptiker keineswegs. “Die Studienlage” steht auf unserer Seite, sie ist eine der Säulen unserer wissenschaftlich begründeten Kritik, denn sie hat keinerlei belastbare Evidenz zugunsten einer spezifischen Wirksamkeit der Methode bei irgendeiner Indikation ergeben. Kein einziges der insgesamt neun Reviews seit 1999 hat dies getan. Wovon man sich hier im Blog und bei der Homöopedia schnell und umfassend überzeugen kann. Wir kritisieren nicht die „Studienlage“, wir kritisieren Missdeutungen des Gegebenen und immer wieder neu auftauchende einzelne Studien, die sich abmühen, gegen dieses evidente Ergebnis anzuargumentieren und damit aus verschiedenen Gründen regelmäßig scheitern. Und wenn es hier und da mal eine Studie gibt, die auch bei kritischer Betrachtung eine Tendenz pro Homöopathie erkennen lässt, was geschieht dann? Nichts. Denn diese Studien werden niemals, niemals repliziert, was die Vermutung nahelegt, dass die Homöopathen sie selbst als ein Ergebnis des sogenannten Alpha-Fehlers (falsch-positives Ergebnis) ansehen und sie nicht im wissenschaftlichen Sinne ernst nehmen (und weiterforschen), sondern sie lediglich zu Propagandazwecken zu Markte tragen.


Es kommt aber noch toller. Zur Stützung der eben kritisierten Aussage zu den Skeptikern führt der „wohl“-Artikel ausgerechnet den englischen Homöopathen und Forscher Robert T. Mathie ins Feld, mit einer Aussage beim Homöopathie-Weltkongress 2017 in Leipzig, mit dem Satz: „Es gibt für homöopathische Mittel Behandlungseffekte, nachgewiesen durch Studien, die dem höchsten medizinischen Standard entsprechen“. Mag sein, dass er das so gesagt hat. Vermutlich auch noch einiges mehr, was den Satz in einem anderen Licht erscheinen lassen könnte. In Leipzig 2017 wurde viel gesagt, auch dass Krebs mit Homöopathie heilbar sei, und zur Zeit des Kongresses bekam das Hahnemann-Denkmal am Leipziger Richard-Wagner-Platz auch einen Aluhut aufgesetzt, das wollen wir auch nicht unterschlagen.

Ja. Dass es einzelne Studien in diese Richtung gibt, ok, aber: siehe vorletzten Absatz. Und was sagt Mathie, der Autor von inzwischen vier großen zusammenfassenden Arbeiten zur Homöopathie, über diese vorsichtig relativierenden Sätze hinaus, die im Kreise von Homöopathien gesprochen wurden, wirklich als Fazit seiner Reviews? Unter anderem Folgendes:

„Arzneien, die als Homöopathika individuell verordnet wurden, haben vielleicht einen kleinen spezifischen Effekt. (…) Die generell niedrige und unklare Qualität der Nachweise gebietet aber, diese Ergebnisse nur vorsichtig zu interpretieren.“ (2014)

„Die Qualität der Nachweise als Ganzes ist gering. Eine Meta-Analyse aller ermittelbaren Daten führt zu einer Ablehnung unserer Nullhypothese [dass das Ergebnis einer Behandlung mit nicht-individuell verordneten Homöopathika nicht von Placebo unterscheidbar ist], aber eine Analyse der kleinen Gruppe der zuverlässigen Nachweise stützt diese Ablehnung nicht. Meta-Analysen für einzelne Krankheitsbilder ergeben keine zuverlässigen Nachweise, was klare Schlussfolgerungen verhindert.“ (2017)

Das ist – gemessen am Datenmaterial – sehr euphemistisch-wohlwollend in Richtung Homöopathie formuliert, wer wollte Mathie das übelnehmen. Aber auch in dieser Formulierung ist das Lichtjahre von einem Evidenzbeleg pro Homöopathie entfernt! Seine neuesten Reviews von 2018 und 2020 präsentieren ganz ähnliche Ergebnisse.


Der Rest ist das übliche Gemenge vom Loblied auf die allseits einsetzbare Homöopathie und ihren großen Wert als „komplementäre Methode“ – ironischerweise laut Artikel gerade dort, „wo die Schulmedizin große Erfolge hat“, bei Krankheiten von Krebs über schwere Depressionen, Parkinson und gar Multipler Sklerose. Immerhin wird dort betont, dass Homöopathie bei diesen Erkrankungen nicht „allein“ anzuwenden sei. Trittbrettfahrerei?


Hervorgehoben seien die Ausführungen zu Homöopathie bei Migräne, die angeblich zur Verringerung der Anfallshäufigkeit mit einer „Konstitutionsbehandlung“ anzugehen sei, also einer Mittelgabe nach (homöopathisch gedachtem) persönlichen Typus. Ich halte jede Wette, dass damit nie auch nur einem einzigen Migräne-Patienten mit Ausnahme eines gelegentlichen anfänglichen Placebo-Effekts geholfen worden ist, was heißt, dass die Entscheidung für eine homöopathische Behandlung nichts anderes bedeutet als vermeidbares schweres, vielleicht jahre- oder gar lebenslanges Leiden. Und das zu einer Zeit, wo endlich echte Durchbrüche beim Verständnis von Migräne und ihrer effektiven Behandlung gelungen und verfügbar sind!


Eines noch. “Wenn man Homöopathie als Option aktiv anbietet, möchten 80 Prozent der Eltern, dass ihre Kinder homöopathisch behandelt werden”. O-Ton Dr. Schönauer. Bitte, was soll uns das denn nun sagen? Dass, konfrontiert mit der ärztlichen Autorität, möglichst auch noch im Zusammenhang mit einem stationären Aufenthalt der Kinder, die Eltern wohl kaum geneigt sind, einem “aktiven Angebot” der behandelnden Ärzte zu widersprechen? Frau Dr. Schönauer sollte einmal über die ethischen Implikationen einer solchen Vorgehensweise nachdenken, statt das auch noch als “Argument pro Homöopathie” zu präsentieren!


Was liest man noch, wenn man noch kann? Ach ja, das Hohelied von der Beliebtheit der Homöopathie. Wie ich vor kurzem erst an anderer Stelle schrieb: Die Beliebtheit zeigt sicher den Wunsch vieler Menschen nach einer möglichst schonenden, einfachen und dabei effektiven Behandlungsform. Dieser Wunsch war schon zu Hahnemanns Zeiten mit ausschlaggebend für dessen Erfolg (wie Heinroth schon 1825 in seinem “Anti-Organon” ausführte), wurde aber auch schon damals genau wie heute mit dem Hinweis kritisiert, dass dieser Wunsch legitim und verständlich sei, aber nichts mit einem Wirksamkeitsnachweis der Homöopathie zu tun hat.


Hätte ich als Autor einen sinnvollen und guten Artikel in dieser Beilage veröffentlicht,  würde ich gegen die Kontamination durch einen so manipulativen, da für Laien in seinen halb- bis unwahren, teils irreführenden Aussagen nicht durchschaubaren Artikel pro Homöopathie protestieren. Für mich jedenfalls ist er schlicht ein Beispiel für Unredlichkeit.

Zu diesem Thema ist bei Übermedien ein sehr treffender und zusätzlich aufschlussreicher – da mit Statements des SPIEGEL angereicherter – Artikel erschienen: Link.


Bildnachweis: Titel SPIEGEL-Beilage “wohl – Das Gesundheitsmagazin” / Pixabay CC0


Wo sind wir hier eigentlich?

Die Debatte über Homöopathie in Apotheken hat seit kurzer Zeit aufgrund eines bemerkenswerten Vorganges zusätzlich Fahrt aufgenommen: Apothekerin Iris Hundertmark aus Weilheim in Oberbayern hat viel Zuspruch für ihre Entscheidung erfahren, in ihrem Betrieb keine Homöopathika mehr vorzuhalten und aktiv zu vertreiben. Diese Entscheidung ist selbstredend eine persönlich verantwortete und steht ihr im Rahmen ihrer Betriebsfreiheit fraglos zu, zumal sie die Belieferung rezeptierter Homöopathika weiterhin garantiert. Aber siehe da – in nicht geringem Ausmaß (jedoch für den erfahrenen Kritiker nicht unerwartet) war sie persönlich gefärbten, unsachlichen und von Unkenntnis über die Homöopathie strotzenden Anwürfen von vielen Seiten, vorrangig gar der Kollegenschaft, ausgesetzt. Der Grad von Irrationalität, mit dem die Homöopathie in Deutschland vielfach „verteidigt“ wird, zeigt sich in diesem Vorgang einmal mehr mit bestürzender Deutlichkeit.

Man sollte sich schon darüber klar sein, dass die Position der Homöopathie als apothekenpflichtiges, vom Arzneimittelgesetz anerkanntes und privilegiertes Arzneimittel in Deutschland in weiten Teilen des Auslandes auf völliges Unverständnis stößt.

So hat in England beispielsweise nicht nur der National Health Service flächendeckend die Verschreibungs- und Erstattungsfähigkeit von Homöopathika beendet. Bereits im Verlauf der Diskussion darüber hat die British Pharmaceutical Society – ungeachtet des Einflusses, der von allerhöchster Seite immer wieder gern geltend gemacht wird – sich in einem „Quick Reference Guide“ zu wesentlichen Punkten in Sachen Homöopathie in größtmöglicher Deutlichkeit positioniert. So schreibt sie auf ihrer Homepage:

  • Die Royal Pharmaceutical Society (RPS) unterstützt die Homöopathie als Behandlungsform nicht, da es weder eine wissenschaftliche Grundlage für die Homöopathie noch Belege für eine klinische Wirksamkeit homöopathischer Produkte über den Placebo-Effekt hinaus gibt.
  • Die RPS unterstützt keine Verschreibung homöopathischer Produkte im Rahmen des NHS (inzwischen erledigt mit der Übernahme der NHS-Empfehlungen zur Homöopathie durch sämtliche englischen Regionalorganisationen).
  • Apotheker sollten sicherstellen, dass Patienten die Einnahme ihrer verschriebenen konventionellen Medikamente nicht einstellen, wenn sie ein homöopathisches Produkt einnehmen oder dies in Erwägung ziehen.
  • Apotheker müssen sich darüber im Klaren sein, dass Patienten, die nach homöopathischen Produkten fragen, schwere, nicht diagnostizierte Krankheiten haben können, die die Inanspruchnahme eines Arztes erfordern.
  • Apotheker müssen Patienten, die ein homöopathisches Produkt in Betracht ziehen, über dessen mangelnde Wirksamkeit über Placeboeffekte hinaus beraten.

Auf der Homepage der RPS folgen hierzu nähere Empfehlungen für die Apotheker. Die RPS fordert die Apotheker sogar auf, nachfragende Kunden unbedingt über den Fehlschluss aufzuklären, Homöopathie sei Naturheilkunde.

Weiter sei die Behandlung des Themas Homöopathie auf dem diesjährigen Pharmazeuten-Weltkongress in Glasgow erwähnt, auf dem eine Mehrheit der Delegierten ausdrücklich der Ansicht war, Homöopathie habe in Apotheken nichts verloren, weil sie damit in unvertretbarer Weise Glaubwürdigkeit als wirksame Medizin gewinne. Die Gegenrede war ein Anlass zu heftigem Fremdschämen – jedoch wurde das wieder dadurch ausgeglichen, dass einer der Delegierten (aus Irland) öffentlich seiner Verwunderung darüber Ausdruck gab, dass im Jahre 2018 überhaupt noch das Thema Homöopathie auf einem Pharmaziekongress diskutiert werden müsse.

Und all dies passiert praktisch gleichzeitig mit den eingangs erwähnten Reaktionen von “Fachkreisen” hierzulande, die von ehrenrührigen, ja justiziablen Vorwürfen an Apothekerin Hundertmark über die Lächerlichkeit, sie „beleidige“ die Ehre des homöopathischen Standes bis hin zu förmlichen “Beschwerden” über sie beim aufsichtführenden Kreisrat reichen. Angesichts eines unglaublichen Maßes von Verblendung, Uninformiertheit und nur schwer erklärlicher persönlicher Betroffenheit vieler Leute, die – schlicht gesagt – eine unternehmerische Entscheidung von Frau Hundertmark ohnehin nicht das Mindeste angeht, sei die Frage erlaubt:

WO SIND WIR HIER EIGENTLICH?

Ich spare mir an dieser Stelle eine ausformulierte Antwort, obwohl mir das durchaus schwerfällt. Nicht ersparen möchte ich mir den Hinweis, dass die Notwendigkeit eines Eintretens gegen Pseudomedizin auf allen Ebenen notwendig ist wie eh und je, wobei die Homöopathie bekanntlich das „Einfallstor“ für manch anderen evidenzbefreiten Unsinn bis hin zur Impf“skepsis“ darstellt und deshalb, aber auch wegen ihrer Privilegierung durch die Gesetzeslage völlig zu Recht im Fokus der Kritik steht.

Mit diesem Beitrag wird dieser Blog genau zwei Jahre alt. Mir scheint, er ist noch nicht vollständig überflüssig. Schaue ich mich aktuell um, sehe ich durchaus erhebliche Fortschritte, die mit der Homöopathie- und der Pseudomedizinkritik in dieser Zeit erreicht wurden. Über die Des- und Uninformiertheit weiter Teile der Öffentlichkeit mache ich mir keine Illusionen, auch angesichts der sich verstärkenden Bemühungen der PR-Abteilungen der Homöopathie-Hersteller.

Aber nach wie vor herrscht auch in vielen Presse- und Rundfunk-Redaktionen eine himmelschreiende Unkenntnis zur Homöopathie, was sich zumeist in grotesk-absurden, einer völlig fehlgehenden „Ausgewogenheit“ verpflichteten Berichterstattungen niederschlägt. Nach wie vor gibt es eine – sogar zunehmend aktive – „Opposition“ gegen die Homöopathiekritik von interessierter Seite, die völlig ungeachtet der einhelligen Meinung der weltweiten Wissenschaftsgemeinde versucht, die Kritiker als Ignoranten hinzustellen, über irgendwelche abstrusen Motive zu spekulieren (was ein bezeichnendes Licht auf die Kritiker der Kritik insofern wirft, als dass sie sich ein Engagement um der Sache willen ohne materielle Anreize offenbar nicht vorstellen können) und so zu tun, als sei die ganze Homöopathiekritik eine zentral orchestrierte Kampagne gegen Therapiefreiheit und Patientenautonomie (umso lächerlicher, als es genau die Homöopathie-Vertreter an Informationen für die Patienten über ihre Heilsversprechen fehlen lassen, die Therapiefreiheit und autonome Patientenentscheidung erst möglich machen). Dabei fehlt es zwar an Sachargumenten (völlig, wie ich hinzufügen möchte), jedoch nicht an Versuchen persönlicher Diffamierung.

Nein, liebe Kritik-Kritiker. Ihr liegt maximal daneben mit eurer “Feldforschung”.  Es ist ganz einfach und kann auf der Homepage des Informationsnetzwerks Homöopathie nachgelesen werden:

„Wir wollen nicht länger dazu schweigen, …

  • dass Patienten falsch oder unzureichend informiert werden und falschen Heilsversprechen Glauben schenken, die zu gesundheitlichen Schäden führen können.
  • dass wir Forschung gutheißen, die keinerlei Auswirkung auf die homöopathische Behandlungspraxis hat. Und die nur dem einen Zweck dient, dem Patienten vorzugaukeln, man wäre etwa nahe daran, einen Nachweis zu finden, dass bloße Zuckerkugeln gezielte Wirkungen entfalten können.
  • dass angehende Ärzte auf Universitäten pseudowissenschaftliche Inhalte wie die Repertorien und das im Widerspruch zur Physik stehende Prinzip der Potenzierung lernen. Dass wir also eine Generation Ärzte ausbilden, von der wir gar nicht mehr wissen, ob sie überhaupt weiß, dass Homöopathika Placebos sind.
  • dass Bauchgefühl und saubere wissenschaftliche evidenzbasierte Methodik als gleichberechtigte Nachweisverfahren zur Bestimmung des Risiko-/ Nutzenverhältnisses medizinischer Verfahren dargestellt werden – ebenso wie wissenschaftlich kritisches Denken und vorwissenschaftliche Weltbilder.“

Wer mehr zur Motivation und Notwendigkeit der Homöopathie-Kritik erfahren will, kann dies in der Freiburger Erklärung zur Homöopathie hier finden.

Und natürlich weiterhin auf diesem Blog.

Ich würde noch mehr schreiben, aber gerade läuft im TV beim SWR BW “Zur Sache” – In Sachen Homöopathie – ächz – Robert Bosch-Stiftung – Prof. Jütte – Glauben in der Medizin ist das Kriterium – Anekdoten – Märchengeschichten… braucht keine Studien… mir hats aber geholfen… – Danke, Dr. Natalie Grams, fürs Standhalten unter solchen Bedingungen, unter einer Defensive, die allein schon durch die redaktionelle Anlage der Sendung entsteht.


Nachtrag

Die unsägliche SWR-Sendung (es waren eigentlich zwei, tags zuvor ein Kurzbericht in der Landesschau war auch alles andere als glücklich) hatte ein mediales Nachspiel, immerhin. An verschiedenen Stellen im Netz wurde darüber berichtet, ich verlinke hier den Bericht von MedWatch, der letztlich eine gewisse Befriedigung angesichts der Qualen darstellt, denen der Skeptiker bei der Sendung ausgesetzt war – zu schweigen von denen von Dr. Natalie Grams.


Bild von FlitsArt auf Pixabay

„Eingeimpft“: Kein Impfgegner-, eher ein Katastrophenfilm.

Das Impfthema hatte seit jeher auf diesem Blog breiten Raum, ich erinnere an die Beiträge zu Wakefields „Vaxxed“ im ersten Halbjahr 2017. Dass noch einmal eine umfangreiche Befassung mit einem Kinofilm zum Impfthema anstehen würde, hätte ich nicht gedacht – die Arbeit mit dem anthroposophischen Vaxxed-Abklatsch „A Man Made Epidemic“ hatte mir Jan Oude-Aost auf dem Blog “diaphanoskopie” freundlicherweise abgenommen.

Aber: Aktuelles ist zu betrachten. Zu David Sievekings Buch und Film „eingeimpft – Familie mit Nebenwirkungen“ ist schon sehr viel gesagt worden. Die Presse sieht beides ziemlich einhellig als das an, was man in meiner Heimat als „Schuss in den Ofen“ bezeichnet. Sieveking und seine Berater haben sich offensichtlich gewaltig überhoben mit der Idee, ein gesundheitlich relevantes Thema wie das Impfen als Aufhänger für die bei ihm übliche autobiografische Story zu verwenden.

Ausgangspunkt der dramaturgischen Idee des Films ist, dass Sieveking meint, eine Beziehungskrise lösen zu müssen – eine „Beziehungskrise“, die sich in Form unterschiedlicher „Meinungen“ zum Thema Impfen manifestiert. Hier liegt bereits der schwere Fehler, das Grundmissverständnis des Films: Dass es um Meinungen gehe, um ein kompromissfähiges Thema, das man irgendwie auflösen könne – und als empathischer Partner wohl auch müsse (Sieveking fühlt sich hier sichtlich gedrängt in der Rolle als „Familienoberhaupt“). Die entscheidende Schieflage des Films ist damit von Anfang an zementiert: Die Einordnung des Impfthemas als kompromissfähige Meinungssache, das grundsätzliche Verkennen des Unterschiedes zwischen Meinungen und Fakten und in diesem Sinne als filmisches Narrativ zumindest hochproblematisch.

So paart sich dann die erste Fehleinschätzung, beim Impfen handele es sich ganz generell um ein kompromissfähiges Meinungsthema, mit der zweiten, da werde sich doch in Eigenregie ein Kompromiss finden lassen. Zwar ist Sieveking durchaus beseelt von dem Gefühl, das alles habe mit Wissenschaft zu tun. Aber: Das Grundverständnis von Wissenschaft, das hier zutage tritt – oder eben gerade nicht – ist bestürzend. Und das ist die zweite Schieflage des Films, die ihn – um in der Metapher zu bleiben – endgültig zum Kentern bringt:

Sieveking versteht Wissenschaft als eine Art Puzzlespiel nach eigenem Gusto, wo man sich die Puzzlestücke mal hier, mal da zusammenholt. Jeder, der schon mal einen akademischen Titel trägt, ist für ihn gleichermaßen „Fachmann“, auf den man sich mit voller Legitimität berufen kann und darf. Zu meiner Bestürzung erhielt er zu dieser massiv fehlgehenden Position auch noch Rückendeckung: Die für die Koproduktion verantwortliche Redakteurin des BR, Sonja Scheider, sagte dem NDR-Magazin “Zapp” auf den entsprechenden Vorhalt, die Experten im Film seien “genauso legitim” wie jeder andere Experte, der meine, sich zum Thema äußern zu können. Atemberaubend, kann ich da nur sagen.

Es gibt von Sieveking den scheinbar einsichtsvollen Satz, er „glaube nicht, dass dieses komplexe Thema überhaupt von einer einzelnen Person durchdrungen werden kann“. Zweifellos wäre er sehr erstaunt und würde sein bekanntes naives Jungengesicht aufsetzen, wenn ihm Immunologen vom Fach versichern würden, das könnten auch sie in der Tat nicht, weil es nicht auf die Autorität einer Einzelperson, sondern auf die von der wissenschaftlichen Community insgesamt hervorgebrachte Evidenz ankomme. Hätte ihm das mal jemand erklärt, wären uns möglicherweise Buch und Film erspart geblieben. Da recherchiert jemand über drei Jahre hinweg zu einem wissenschaftlich fundiert abgesicherten Thema, an dem weltweit tausende von Wissenschaftlern arbeiten und „Evidenz hervorbringen“ und hat danach immer noch keinen Begriff von Wissenschaft, davon, dass sie eine Methode zur Erkenntnisgewinnung durch das Erkennen und Beseitigen von Irrtümern ist, eine Methode der ständigen Kritik?

Auch der Evidenzbegriff ist Sieveking fremd. Dass Wissenschaft nicht nach absoluten Wahrheiten und unfehlbaren Richtigkeiten sucht, sondern mit einer kritisch-hinterfragenden Methodik versucht, sich der „Wahrheit“ möglichst anzunähern, das weiß er ersichtlich nicht. Sonst würde er seine groteske Form der „wissenschaftlichen Recherche“ nicht gewählt haben. Und dass sich die Relevanz von Erkenntnissen nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit richtet, die ihnen zugesprochen werden kann (wofür die Wissenschaft unglaublich diffizile Instrumente entwickelt hat), davon hat er auch keine Ahnung. Sonst würde er nicht davon sprechen, er liefere eine „ausgewogene“ Darstellung. Denn darum geht es nicht. Es geht um das Maß an Evidenz und damit Relevanz, das einer Position zugesprochen werden kann.

Den Mount Everest von jahrzehntelanger Forschung auf der Grundlage weltweit erhobener Evidenzdaten zum Impfen stellt er dem Kreuzberger Spielplatzhügel nicht verifizierter Außenseitermeinungen „ausgewogen“ gegenüber. Dabei spreche ich noch nicht einmal vom unkommentierten Stehenlassen glatter Falschbehauptungen, wie sie zum Beispiel im Rahmen des Gesprächs mit dem Impfgutachter Hartmann zu den angeblich vom Sechsfachimpfstoff Hexavac verursachten Todesfällen vorkommen – ein Musterbeispiel. Die Geschichte ist weder zu Ende erzählt (womit Hartmann als Verbreiter längst widerlegter Räuberpistolen entlarvt worden wäre) noch ist sie korrekt wiedergegeben (Hexavac wurde vom Markt genommen, aber nicht, weil man „Angst“ hatte, Hartmann könne doch recht haben, sondern weil die Hepatitis-B-Komponente des Impfstoffs sich als nicht effektiv genug herausgestellt hatte). Dafür braucht man keine externen „Impfkritiker“, so was erledigt die kritische Wissenschaft ganz allein. Nur – der Zuschauer des Films erfährt von alledem nichts, sondern nimmt Verschwörungsraunen mit nach Hause.

Sehr bezeichnend ist eine kleine Fehlleistung am Rande in diesem Zusammenhang. In einem von der Pressestelle des Films verbreiteten langen Eloge gegen die geübte Kritik wurde wiederum die Hexavac-Geschichte nicht korrekt erzählt – und auch noch Hexavac mit dem Konkurrenzimpfstoff Infanrix verwechselt. Man hatte sogar die „falsche“ Studie an die Pressemitteilung angehängt… Ein schlagender Kompetenzbeweis, wirklich!

Welche Rechtfertigung gibt es für so etwas? Keine. Das kann nicht einmal mit dem beschriebenen fehlenden Verständnis für Wissenschaft und Evidenz erklärt werden. Das ist einfach nur naive, schlechte Recherche und unsaubere Präsentation. Und deshalb wäre in der Tat die Zuschreibung des Etiketts “Impfgegnerfilm” für “eingeimpft” unzutreffend. Der Film positioniert sich zwar vielfach, aber allenfalls aus – Unvermögen.

Für mich persönlich ist das Schlimmste eigentlich die Auflösung des tragenden Grundkonflikts, der “Krise” aufgrund der „Meinungsunterschiede“ zwischen Sieveking und seiner Frau. Eigentlich hätte er heimkommen müssen und sagen: Pass auf, ich hab jetzt drei Jahre lang recherchiert. Das war eigentlich viel zu lange, aber dabei ist rausgekommen, dass die Belege für das Impfen die mit die stärksten sind, die es in der Medizin gibt. Jede Aspirintablette hat ein statistisch höheres Nebenwirkungsrisiko als eine Impfung. Also, dann jetzt aber wirklich ab zum Kinderarzt!

Nein. Stattdessen glaubt Sieveking allen Ernstes, auf seiner Reise den Stein der Weisen für die Lösung seines Kompromissanliegens gefunden zu haben. Er lässt tatsächlich seine Kinder jeweils selektiv unterschiedlich impfen – mit Sicherheit aus medizinischer Sicht das Verrückteste, was man überhaupt machen kann. Der Herdenschutzgedanke hat ohnehin im ganzen Film irgendwie keine Rolle gespielt, aber jetzt wirft ihn Sieveking sogar noch familienintern über Bord. Er realisiert beides nicht: weder den Gedanken des Individual- noch den des Herdenschutzes. Sieveking trifft mit seiner selektiven Wahl von Impfungen gleichzeitig eine selektive Wahl von Krankheitsrisiken.

Und damit entwirrt Sieveking nun den dramaturgischen Knoten seines durchlaufenden roten Fadens „Kompromisssuche in Sachen Impfen wg. Lösung von Beziehungskrise“! Die Dramaturgie verstehe ich schon. Das ist aber keine Katharsis, keine „Reinigung“ des dramatischen Konfliktes durch seine Auflösung, sondern der Grundstein für der Tragödie nächstem Teil.

Es muss aber auch noch erwähnt werden, wie Sieveking überhaupt auf diese grandiose Idee kommt. Sie ist eine Folge seiner Ahnungslosigkeit zum Evidenzbegriff. Die lässt ihn Positionen, über die er bei seiner Erkundungsreise stolpert, nicht unter Evidenzgesichtspunkten bewerten, sondern danach, wie weit er sie für seine Kompromisssuche zur Lösung der vielfach zitierten „Beziehungskrise“ gebrauchen kann. In geradezu klassischer Laienmanier „sammelt“ er Belege, wie sie ihm in den Kram zu passen scheinen. Und so ist er begeistert von Peter Aabys Forschungen in Afrika. Aaby ist ein seriöser Forscher und ein außerordentlich umgänglicher Mensch mit durchaus interessanten Ideen (er ist übrigens kein praktischer Mediziner, sein Hauptforschungsgebiet ist die Anthropologie), seine Ansätze sind aber bislang nicht wirklich über Hypothesen – wissenschaftlich gesehen also Meinungen mit Indizien – hinausgekommen.

Die Forschung zu unspezifischen Wirkungen von Impfungen, die nicht nur Aaby betreibt, ist ein hochinteressantes Gebiet, aber wirklich greifbare Ergebnisse dazu sind mehr als rar. Wissenschaftliche Zusammenfassungen konstatieren – auch 15 Jahre nach Aabys ersten Hypothesen – dass dies interessant, aber noch längst kein validiertes Feld sei. Das gilt für die angeblichen Vorteile von Lebendimpfungen, aber erst recht für die Hypothese, Totimpfungen hätten spezifische Nachteile. Dafür gibt es weder belastbare Evidenz noch – anders als bei den möglichen Vorteilen von Lebendimpfstoffen – Denkmodelle, die zumindest eine Plausibilität nahelegen. Und genau deshalb hat die WHO nach durchaus gründlicher Prüfung entschieden, dass dafür die auf der bisherigen Evidenz beruhenden Impfempfehlungen nicht umgeworfen werden – nicht umgeworfen werden dürfen, nimmt man den Evidenzgedanken ernst.

Man muss auch hier konstatieren, dass Aabys Hypothesen gegenüber der gültigen Evidenzlage zum Impfen nahezu keine praktische Bedeutung zukommt, jedenfalls noch nicht, das sei gern zugestanden, denn Wissenschaft ist ständiges Fortschreiten. Aaby forscht innerhalb eines sehr speziellen Feldes, in afrikanischen Gegenden mit enormen Kindersterblichkeitsraten. Aus diesen sehr selektiven, auch nicht widerspruchsfreien Daten aus Beobachtungsstudien belastbare, auch unter den Bedingungen entwickelter westlicher Länder gültige Schlussfolgerungen abzuleiten, ist ein Unterfangen, dem bisher ein greifbarer Erfolg nicht beschieden war. Aber Sieveking in seiner Fokussierung auf eine „Lösung“ seines Kompromissproblems greift hier gierig zu. Er meint, bei Aaby und seiner Hypothese der Differenzierung von “guten” und “bösen” Impfstoffen nun sein Heureka-Erlebnis zu haben – was dann zu dem haarsträubenden Filmschluss führt. Den haben manche kritischen Rezensenten des Films geglaubt, noch als irgendwie „versöhnliches Ende“ herausstreichen zu können. Nein. Falsch. Er ist das bezeichnende, konsequente Ende von 90 Minuten Irrweg und Irrtum.

Und Sieveking hat auch aus all der sachlich-erklärenden Kritik – viele Kommentatoren bei Facebook zum Beispiel wenden unglaubliche Mühe auf, ihm die Schieflage seiner Sicht zu erklären – bislang nichts dazugelernt, wie es scheint. Dies zeigen seine zwischen naiver Unschuld (“es ist doch nur ein Familienfilm, der gar keine Botschaft vermitteln möchte”) und Seriositätsanspruch (“ich habe solide recherchiert und der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ist eine Lüge“) irrlichternden Apologien.

Um Himmels Willen, was für Berater schicken da eigentlich Herrn Sieveking ständig ins Feuer? Was ist das für eine Kommunikationsstrategie, die inzwischen beim Vorwurf einer persönlich gegen ihn gerichteten Kampagne, bei der Unterstellung angekommen ist, die Kritiker seien so aggressiv-militant, dass er bei Kinoterminen schon Security-Personal benötige (so in der ZDF-Sendung “Markus Lanz” am 13.09.2018)? Eine Strategie, die die Unwahrheit verbreitet, die Informationsseite von GWUP / Deutschem Konsumentenbund diffamiere ihn persönlich als Impfgegner? Die behauptet, die von Skeptikern verteilten Flyer seien „gegen den Film gerichtet“ (ebenfalls eine glatte Unwahrheit, der Flyer richtet sich ausdrücklich an diejenigen, die „vor oder nach dem Anschauen des Films“ Interesse an zusätzlichen Informationen haben)? Eine Strategie, die damit instrumentiert wird, dass zu Podiumsdiskussionen anthroposophische Impfgegner als Apologeten eingeladen werden – womit man sich eben doch der impfkritischen Szene annähert (siehe Nachtrag unten)? Merkt das eigentlich niemand in Sievekings Entourage? Zieht niemand Schlüsse daraus, dass der Film Zustimmung nur aus der impfskeptischen Szene erhält? Das ist doch verheerend!

Das sind doch Medienprofis! Aber offensichtlich ist die Fähigkeit zum Umgang mit Kritik hier von einem bisher nie in Frage gestellten Selbstbild geprägt, worauf auch hindeutet, dass zwischen der Sach- und der persönlichen Ebene der Kritik offenbar nicht mehr differenziert werden kann.

Und das tut weh. Richtig weh. Mir ganz persönlich. Leider erinnert es mich an den rüden Umgang mit den aufklärenden Skeptikern bei der Wakefield-Vaxxed-Geschichte. Es ist ein Trauerspiel. Der Film, ja – man hätte vielleicht sogar noch was draus machen können. Aber nicht mit den haarsträubenden Apologien, der falschen Taktik, mit der man versucht, zu retten, was so nicht zu retten ist. Realisiert man überhaupt noch, dass sich positive Rezensionen und Stimmen in den Medien – anders als bei Sievekings bisherigen Werken – kaum finden lassen? Aber, Herr Sieveking, das liegt weder an den Medien, noch an Facebook- und Twitter-Kommentaren, noch an den Informationsangeboten von GWUP und  Deutschem Konsumentenbund. Es liegt daran, dass Sie sich am Thema schlicht verhoben haben. Sie können nicht erwarten, dass dies ohne Widerspruch bleibt. Ohne legitimen, ja notwendigen Widerspruch. Man nennt das den zivilgesellschaftlichen Diskurs.


Nachtrag, 15.09.2018:

Muss ich den Titel dieses Beitrags ändern? Sieveking positioniert sich zunehmend selbst im Impf”skeptiker”-Abseits – oder lässt sich von “Beratern” positionieren. So naiv, nicht zu wissen, dass er hier den Proponenten der anthroposophisch geprägten Ärzteszene und Chef des Vereins “Ärzte für die eigenverantwortliche Impfentscheidung” (zudem Bewohner des Psiram-Universums) höchstpersönlich zur Verteidigung seiner Fehlleistung auf die Bühne holt, kann er nicht sein und ist er auch nicht. Sieveking zwischen völliger Verirrung und Amoklauf:

Zum nicht mehr bezweifelbaren anthroposophischen Hintergrund, der Film und Buch durchzieht, mehr auf dem Ratgebernewsblog und beim Humanistischen Pressedienst.


Bildnachweis: Pixabay Creative Commons Lizenz CC0 / Screenshot Thalia Potsdam

„Ausgewogene“ Berichterstattung – ein Problem?!?

Credits: University of California, Berkeley

Wieso Problem? Nun, ausgewogene Berichterstattung ist sicher zunächst einmal eine journalistische Tugend, die auch in den journalistischen Studiengängen vermittelt wird. Offenbar nicht vermittelt wird dort, dass diese Tugend nicht immer und überall Sinn macht und gelten kann.

Das große Feld, in dem diese Tugend zur Untugend wird, ist die Pseudomedizin, ganz besonders beliebt ist dabei einmal mehr das Thema Homöopathie. Kommt es zu Berichterstattungen -vom TV-Feature über größere Artikel der überörtlichen Presse bis hin zum Lokalblatt- sieht man in den allermeisten Fällen auf den ersten Blick die „ausgewogene Berichterstattung“ am Werk, das peinliche Bemühen, nur ja keine Position zu beziehen. Es wird so getan, als gelte es hier zwei gleichberechtigte Positionen darzustellen. Das äußert sich in Formulierungen wie „nach wie vor umstritten“, „wissenschaftlich noch nicht anerkannt“, aber auch in Sätzen wie „Wer heilt hat Recht“. Liest man dann die betreffenden Artikel, erfährt man oft in aller Ausführlichkeit von einem Heilpraktiker, Apotheker oder auch Arzt – wahlweise auch gern von treuherzig dreinblickenden Anwendern – dass Nux vomica bei diesen und Belladonna bei jenen Beschwerden zu empfehlen sei, es habe schon immer geholfen… Kommt es zu einer Darstellung skeptischer Positionen, muss man sich über eine „Ausgewogenheit“ schon freuen. Die eingangs genannten relativerenden Formulierungen erwecken oft eher den Eindruck, es gebe da irgendwelche Leute, die an allem etwas auszusetzen hätten… Und die Wissenschaft und so. Ja. Wir erleben es beinahe täglich.

Und außerdem hat ja Hans-Joachim Friedrichs gesagt, ein guter Journalist dürfe sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch keiner „guten“! Hört man in jeder Journalistenschule! Wobei man aber ruhig davon ausgehen darf, dass er damit nicht „falsch“ oder „richtig“ gemeint hat – ganz sicher nicht, sondern etwas ganz anderes. Wie so vieles, wird auch dieses Zitat, das sogenannte „Objektivitäts-Dogma“, zum Problem, wenn man es platt in seinen persönlichen Zitatenschatz aufnimmt und nicht reflektiert – siehe hier (Link).

Wenn man einmal für eine solche Veröffentlichung zu einer kritischen Sicht befragt wird, wundert man sich oft darüber, was dann hinterher wirklich dabei herauskommt. Von den Beiträgen, die gleich völlig unkritisch daherkommen, ganz zu schweigen. Wobei Ausnahmen inzwischen die Regel immer öfter bestätigen, jedoch … wie auch jüngste Ereignisse (SWR, 2022) zeigen, jederzeit mit „Ausreißern“ gerechnet werden muss.

Schlimm wird es – und auch das gibt es – wenn beispielsweise Positionen der Impfgegnerszene wie seriös diskutierbare Positionen den offiziellen Impfempfehlungen gegenübergestellt werden. Es ist noch nicht lange her (und auch nicht das erste Mal), dass dies bei einem durchaus renommierten Spartenkanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geschehen ist (Link). Nachtrag: Und vom gleichen Sender ganz aktuell (2022) noch mal eins draufgesetzt wurde (Link).

Einer meiner größten Wünsche als Kritiker von Pseudomedizin ist deshalb, dass die journalistische Szene endlich einmal in Gänze realisiert, dass es niemals um „Ausgewogenheit um jeden Preis“ gehen kann, wenn die Positionen, die es darzustellen gilt, im Sinne eines Wahrheitsgehaltes nicht gleichgewichtig sind. Es ist genau die Aufgabe des Journalismus, die Kriterien, die in solchen Fällen anzuwenden sind, zu recherchieren. Fakten und Fantastereien ausgewogen gegenüberzustellen, ist keine Tugend. Parität und Pluralität kann es sinnvollerweise nur zwischen faktenbasierten Standpunkten geben, ansonsten wären beide schlicht Einfallstore für Unsinn. Dies sollte unstreitig sein. Nur so funktioniert auch eine sinnvolle Information der Medienkonsumenten.


Diese Dinge sind bislang in Deutschland erstaunlich wenig thematisiert worden. Ganz anders im englischsprachigen Raum.

Dort schreibt z.B. das Portal „Understanding Science – How Science really works“, betrieben von der Berkeley University, auf einer Informationsseite zu diesem Thema:

Ausgewogene Berichterstattung gilt allgemein als guter Journalismus, und Ausgewogenheit hat ihre Meriten. Die Öffentlichkeit sollte Informationen über alle Seiten eines Themas erhalten – aber das bedeutet nicht, dass alle Seiten des Themas gleiches Gewicht verdienen. Die Wissenschaft arbeitet, indem sie die Beweise, die für die verschiedenen Hypothesen angeboten werden, sorgfältig prüft und auf denjenigen aufbaut, die sich als die besten und belastbarsten erwiesen haben. Ein Journalismus und eine Politik, die fälschlicherweise allen Standpunkten die gleiche wissenschaftliche Legitimität zuerkennen, machen eines der Hauptziele der Wissenschaft zunichte: Die strenge Beweisführung.

Womit wir -zu Recht- die Politik gleich mit im Boot haben. Denn auch diese lässt sich -höchst fatal bei wissenschaftlich begründbaren Entscheidungen – sehr gern von „Ausgewogenheit“ leiten.

Der britische „Guardian“, ohnehin so etwas wie ein Leuchtturm, was Berichterstattung zu wissenschaftlichen Themen angeht, schreibt dazu in einem Artikel mit dem Titel „Impartial journalism is laudable. But false balance is dangerous“ Folgendes:

Wenn die Belege (für eine Seite) eindeutig sind, ist die Annahme, dass ein guter Journalismus die gegensätzlichen Ansichten als gleichwertig behandeln sollte, einfach nicht stichhaltig. Falsches Gleichgewicht entsteht, wenn Journalisten gegensätzliche Standpunkte als gleichberechtigter darstellen, als es die Belege zulassen.

Und auch die New York Times ist sich des Problems bewusst und schreibt dazu unter dem Artikeltitel „The Truth About False Balance“ :

Falsche Ausgewogenheit, manchmal auch „falsche Äquivalenz“ genannt, ist ein durchaus abschätzig gemeinter Begriff für die (schlechte) Praxis von Journalisten, die in ihrem Eifer, fair zu sein, jede Seite einer Debatte als gleichermaßen glaubwürdig darstellen, selbst wenn die faktischen Beweise auf einer Seite haushoch überwiegen.

Aus diesen Zitaten wird auch deutlich, dass die Beachtung der Kriterien, unter denen eine „ausgewogene Berichterstattung“ angezeigt ist oder eben nicht, einen starken ethischen Aspekt hat. Also bitte, liebe Journalisten. Und es komme mir keiner damit, fundierte Informationen zum Thema Pseudomedizin, von der Homöopathie bis zur Impfgegnerschaft, stünden nicht zur Verfügung! Dem ist nicht so. Die gibt es in ausreichender Zahl und mit ausreichender Beweiskraft, das sollte für Journalisten nun wirklich nicht das Problem darstellen.

Für Politiker natürlich auch nicht.


Flut der Pseudowissenschaft – ein Tidenstandsbericht

Der verdienstvolle David Gorski hat heute (22. Mai) auf sciencebasedmedicine.org einen ausführlichen Artikel veröffentlicht, der sich mit der schleichenden Ausbreitung pseudomedizinischen Unsinns in der (bislang) wissenschaftsbasierten Szene befasst. Er verdeutlicht dies im Besonderen an der Öffnung des British Medical Journal, eigentlich stets einer Bastion der Wissenschaftlichkeit, für lang und breit ausgetretene pseudomedizinische “Forschung”.

Dort können gar Versuche gestartet werden, eine völlig neue Nomenklatur einzuführen, die mal wieder eine “zweite Medizin” neben der wissenschaftsbasierten zu installieren versucht. Zweifellos Gedankengänge von Menschen, die vordergründig in “Medical Reseach” tätig sind, aber denen der intellektuelle Hintergrund offenbar fehlt, die Absurdität von den “mehreren Wissenschaften” zu begreifen. Siehe auch die auch auf diesem Blog bereits angesprochenen Fehlentwicklungen in der deutschen akademischen Szene.

Ein Auszug (Übersetzungen von mir):
“Neben der enthusiastischen Umarmung von Pseudokram durch  große, angesehene akademische Institutionen wie der Cleveland Clinic und dem Memorial Sloan-Kettering Cancer Center  hat sich diese “Integration” von Quacksalberei in die Medizin jetzt auch in medizinischen Zeitschriften manifestiert.  Bislang unverrückbar  wissenschaftlich fundierte medizinische Journale haben leider begonnen, Dinge zu veröffentlichen, die man nur als leichtgläubige Bestätigungen von Quacksalbereien bezeichnen kann. Wir haben hinreichend viele Beispiele hierfür schon über die Jahre hinweg  aufgegriffen. Ich sehe mich  aber  jetzt veranlasst, einen richtigen Kracher (im Original: Whopper) zu dokumentieren: Das British Medical Journal hat zwei ‘State of the Art-Reviews’ über  ‘Integrative Medizin’ veröffentlicht, die das falsche Paradigma aufgreifen, Quacksalberei und Medizin müssten ‘ integriert’ werden.
Der erste ‘State of the Art’-Beitrag befasst sich mit dem Behandlungsmanagement von chronischen Schmerzen mittels komplementärer und integrativer Medizin (von Lucy Chen aus dem Massachusetts General Hospital Center für Translational Pain Research und Andreas Michalsen vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie und Immanuel Hospital in Berlin). Die zweite ist eine Arbeit über komplementäre und integrative Medizin in der Kopfschmerzbehandlung (von Denise Millstine, Christina Y Chen und Brent Bauer, alle aus der Mayo Clinic). Leider sind sowohl Harvard als auch die Mayo Clinic zu Bastionen der quackademischen Medizin geworden.”

So können sich Chen/Michelsen allen Ernstes erdreisten, folgendes im BMJ zu veröffentlichen:

”Das Konzept der komplementären und integrativen Medizin (CIM) umfasst sowohl westliche Medizin als auch komplementäre Gesundheitsansätze als neuen kombinierten Ansatz zur Behandlung einer Vielzahl von klinischen Bedingungen. CIM kann eine einzigartige Rolle bei der chronischen Schmerztherapie haben, da die multidimensionale Natur des Schmerzerlebnisses eine multimodale Behandlung erfordert. Jüngste Fortschritte in der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung auf CIM haben das Bewusstsein der Patienten über die potenzielle therapeutische Anwendung von CIM deutlich erhöht.”

Da haben wir die neue Nomenklatur: CIM. Der Versuch, einen neuen scheinwissenschaftlichen Eurphemismus zu etablieren, unter mehr oder weniger subtiler Herabsetzung, ja Relativierung der wissenschaftlichen Medizin – durch wissenschaftlich ausgebildete Mediziner! Gorski meint dazu:

“Man beachte die falsche Dichotomie, in der ‘westliche’ (z.B. europäische) Tradition als wissenschaftlich-reduktionistisch und humanistisch defizitär dargestellt wird – im Gegensatz zu ‘CIM’.
Ich habe einen neuen evolutionären Schritt beim Sprachgebrauch zu CAM (Complementary and Alternative Medicine) längst registriert- und dies ist ein weiterer Teil davon. Zuerst fiel mir beim National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) die von ihm selbst vorgeschlagene Umbenennung in das ‘National Center for Research on Complementary and Integrative Health’ (NCCIH) auf.  Dies ist nur die jüngste Iteration des “Rebranding” der Quacksalberei, die damit versucht, sich über sprachliche Assoziation respektabler darzustellen. Genau dazu tragen die BMJ-Artikel bei.”

Das ist kein Zufall, das ist interessengeleitete Unterminierungsarbeit.

Prof. Gorski schließt wie folgt:

“Prof. Ernst ist mit Fug und recht unglücklich. Wie er richtig sagt, war das BMJ bislang eine wissenschaftlich führende Zeitschrift. Was passiert hier? Ich glaube, ich weiß es – leider.  Die Flut der Pseudowissenschaft, die im letzten Vierteljahrhundert zugenommen hat, hat auch das BMJ einfach verschlungen. Zumindest in diesem Fall gab es einigen Gegenwind, aber ich fürchte, dass dies nur von kurzer Dauer sein wird. Jetzt sind wir erst einmal gespannt, was das BMJ als nächste systematische Übersicht über die Behandlung von Patienten mit Methoden der CIM veröffentlicht – vielleicht von Patienten mit einem vagen Unbehagen, einem leichten Nervenflattern oder auch nur mit mehr Geld als Verstand.  Ich bin sicher, dass diese Übersicht ebenso positiv ausfallen wird wie die Bewertungen von Chen, Michalsen, Millstine et al.”

Hier wird die Axt an die Wurzeln der wissenschaftsbasierten Medizin gelegt.  Man kann es leider nicht anders ausdrücken.

Ohne mich.

Der ganze Artikel von Prof. Gorski, oben im Text verlinkt, ist recht lang. Wer interessiert ist, sollte ihn auf jeden Fall lesen – er ist mit halbwegs soliden Englischkenntnissen recht gut verständlich.


PS
Prof. Ernst führt auf seinem Blog zu den genannten Reviews im BMJ aus, sie enthielten soviel Bullshit, dass man damit mehrere Hektar Ackerland fruchtbar machen könnte…


Bildnachweis: eigenes Bild

Da schreibe ich mir die Finger wund …

… und da erscheint ausgerechnet auf einem Portal, auf dem bislang durchaus auch schon -sagen wir mal, zweifelhafte – Beiträge erschienen sind, eine Gesamtdarstellung der Homöopathie, die ich als höchst bemerkenswert bezeichnen würde. Erfreulicherweise ist eine kritische Haltung zur Homöopathie dort nicht zum ersten Mal zu finden – ich erinnere an das Gespräch mit Dr. Natalie Grams und Norbert Aust im September 2016.

Nur, um das nicht unerwähnt zu lassen: Niemand hat etwas gegen Naturheilverfahren, wie sie Thema der verlinkten Seite sind – vorausgesetzt natürlich, sie sind vernünftig und sinnvoll (die Homöopathie ist bekanntlich nichts von dem).

Wie erfreulich. Und wie sinnvoll, denn hier wird möglicherweise eine Leserschaft erreicht, die die direkten Informationsportale zur Pseudomedizin eher links liegen lässt.

Das macht Hoffnung. Großer Lesebefehl!

Nette Zusatzinformation: Der Autor des Beitrages, Dr. Utz Anhalt, hat versucht, den Zentralverein Homöopathischer Ärzte und auch den Verband Homöopathischer Heilpraktiker zum Thesenkatalog des Artikels zu interviewen. Wozu sie zunächst bereit waren, aber die Interviews dann verweigerten, nachdem sie den Fragenkatalog von Dr. Anhalt gesehen hatten…

Soso.


Bildnachweis: Screenshot heilpraxisnet.de

Übrigens … ein paar Hinweise und Neuigkeiten

The Independent

Der Independent spricht es offen aus: Die derzeitigen Masernausbrüche in Italien und Rumänien – am Rande einer regelrechten Epidemie – sind fraglos zu einem erheblichen Teil den “Aktivitäten” der “Impfskeptiker” zu verdanken. Übrigens: Die Durchimpfungsrate in Deutschland ist nicht ausreichend. 

Aber ja, ich vergaß – Wakefield ist ja gar kein Impfgegner, nein, sein unsäglicher Film ja auch keineswegs gegen Impfungen…

Sorry.

Hier geht es zum Online-Artikel.

Und das verdienstvolle Portal “Refutations to Anti-Vaccine Memes” (zum Folgen auf Facebook sehr empfohlen) setzt noch einen drauf zum Independent-Artikel:

“Sick and dead children are your legacy Andrew Wakefield.”

So ist es.

Und in unserem schönen Land hier?

Öffentliche Meinung und Presse schlafen. Tief und fest. In Großbritannien erledigt allein der common sense im Verein mit der Presse die ganze Wakefield-Geschichte! Und hier müssen sich die Einzelnen, die gegen Wakefields miese Tour (haha, Wortspiel) angehen, als gewaltbereite Faschisten und Antidemokraten beschimpfen lassen.

Vielen Dank auch. Wir wissen es zu schätzen. Denn wir wissen, von wem es kommt.


Aus den Kommentaren:

H.K. (Facharzt Allgemeinmedizin) sagt:
@S.Thormann:
Da verbreitet mal wieder jemand alternative Fakten! Und zwar “zweifellos”!
Und was soll denn bitteschön eine “wahre Herdenimmunität” sein?
Selbstverständlich erreicht man eine ausreichende Herdenimmunität auch durch Impfungen. Wie erklärt sich denn sonst der rasche und komplette Rückgang der Maserninzidenz in Ländern mit flächendeckenden Masernimpfprogrammen in den letzten zwei Jahrzehnten (z.B. Südamerika/Lateinamerika)? Nachdenken hilft dabei.
Bemerkung: Wahrscheinlich ist der Langzeitschutz nach einer Masernimpfung etwas(!) weniger langanhaltend. Es ist jedoch nicht klar, ob dies an einer fehlenden Boosterung durch im Umlauf befindliche Masernviren liegt. (Die fehlende Boosterung durch Masernviren ist jedoch kein Gegenargument, sondern ein zu erwartender Effekt bei einer beabsichtigten Ausrottung).
Es ist aber irrelevant, ob ich nach einer Maserninfektion vielleicht lebenslang immun bleibe oder nach einer zweimaligen Impfung “nur” geschätzte 30+ Jahre immun bleibe, wenn es gelingen kann, in weniger als 10 Jahren den Masernvirus weltweit auszurotten.
“Es macht daher gar keinen Sinn, sich dermassen auf die Masernimpfung zu versteifen, weil die Menschen so oder so krank werden.”
Da bleibt mir die Spucke weg. Dieser Kommentar ist an Zynismus angesichts Hunderttausender Maserntoten nicht zu überbieten. Ich würde mich schämen, so etwas nur zu denken.


Stefanie Thormann sagt:

Sehr geehrter Herr Endruscheit, Es ist zweifellos wissenschaftlich und empirisch belegt, dass wahre Herdenimmunität im Fall von Masern nur von natürlicher “Durchseuchung” kommt und niemals durch Impfung erreicht werden kann aufgrund mangelhafter und nachlassender Impfimmunität. Dies wird zwangläufig zu einer weiteren, versteckten Anfälligkeit der Menschheit für Masernepidemien führen, wobei bei Säuglingen und Erwachsenen mit den grössten Komplikationen zu rechnen ist. The Re-Emergence of Measles in Developed Countries: Time to Develop the Next-Generation Measles Vaccines?
 http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3905323/

Dann hier noch eine schöne Studie, die aufzeigt, dass die Masernimpfung zwar die Masern-induzierte Encephalitis bei Kindern gesenkt hat, jedoch dafür andere Pathogene bei Enzephaliden identifiziert wurden und dass die absolute Anzahl der aufgetretenen Fälle von Enzephalitis bei Kindern leider nicht gesenkt werden konnte. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/?term=9243237

Es macht daher gar keinen Sinn, sich dermassen auf die Masernimpfung zu versteifen, weil die Menschen so oder so krank werden. Wir sind nunmal keine Roboter, und das ist auch gut so!

Freundliche Grüsse
Stefanie Thormann

Udo Endruscheit sagt:

Danke für den Kommentar, der aus meiner Sicht eine etwas ausführlichere Antwort verdient.
Zunächst einmal fokussiere ich meine Kritik an den Impfgegnern vielleicht vordergründig auf die Masern – wegen des Bezugs zu Wakefields MMR-Geschichte und den aktuellen Hype um seinen Film. Aber die Kritik ist grundsätzlicher.
Auch deshalb kann ich mich weder mit der in Ihrem Beitrag zum Ausdruck kommenden Relativierung des Problems noch mit der durchscheinenden Geringschätzung des Gesamtproblems “Impfen” zufriedengeben.
Zuallererst einmal sehe ich die Impfungen gegen ansteckende Infektionskrankheiten als “soziale Veranstaltung”, als im Grunde eine Pflicht eines sich als Solidargemeinschaft verstehenden Gemeinwesens, seine schwächeren Mitglieder mit allen zumutbaren und vernünftigen Mitteln zu schützen. Herdenschutz – das ist so leicht hingesagt.
In erster Linie nützt der Herdenschutz aber denjenigen, die wegen ihrer individuellen Disposition -Krankheit, Alter, Immunschwäche wodurch auch immer- einer ganz unmittelbaren, direkten Bedrohung ausgesetzt sind, wenn sie nicht vom “Herdenschutz” umgeben sind. Für diese Personengruppen geht es auch beileibe nicht um ein statistisches Risiko von Komplikationen oder Spätfolgen, sondern möglicherweise sehr unmittelbar um Leben und Tod.
Der aktuelle Masern-Todesfall in der Schweiz ist ein himmelschreiend trauriger Beleg genau dafür. Es handelte sich hier nämlich um einen geimpften (!) Leukämie-Patienten, dem die Impfung aber wegen seiner Haupterkrankung nichts nützte und der von einem Ungeimpften angesteckt worden war.
Zudem kann ich die Betrachtung der möglicherweise in der Gesamtzahl gleich gebliebenen Enzephalitiserkrankungen doch nicht als relativierendes Argument nehmen, um die Impfung als mehr oder weniger irrelevant hinzustellen! Zumal dieser winzige Ausschnitt aus dem Gesamtfeld noch von vielen anderen Dingen überlagert wird. Beispielsweise von der Schwächung der Immunabwehr durch eine Masernerkrankung, die möglicherweise eine Folgeinfektion massiv überschießen lässt. Letztlich auch von der Vermeidung unnötigen Krankheitsleids im Kindesalter. Ich habe selbst noch eine sehr heftige Masernerkrankung kurz vor meiner Einschulung mitgemacht, ich erinnere mich sehr gut daran, dass das alles andere als ein Spaß war. Ich lag nach meinem Empfinden unendlich lange in einem abgedunkelten Zimmer, außerstande, mir auch nur ein Bilderbuch anzuschauen. Ich wünsche das niemandem.
Außerhalb der Masern beliebig fortführbar. Beispielsweise durch das Langzeitrisiko einer hohen Prävalenz für Gürtelrose (Herpes zoster) im Alter bei Windpockeninfektionen in der Kindheit. Beispielsweise durch die vermeidbaren Qualen, die ein Kind ohne jeden Zweifel bei einer massiven Keuchhusteninfektion durchmachen muss.
Ja, und wenn es neue Enzephaliden gibt? Und dadurch die Masernimpfungen nicht zu einem absoluten Rückgang der Infektionen geführt haben? Dann wären doch logischerweise die Gesamtzahlen OHNE die Masernimmunisierungen noch weitaus höher! Was soll das denn für ein Argument sein?
Was Ihre Anmerkung betrifft, eine Herdenimmunität bei den Masern sei nur durch “natürliche Durchseuchung” zu erreichen – das ist nun aber eine sehr exzessive Auslegung der angeführten Studie. Das ergibt sich schon aus deren Titel: “The Re-Emergence of Measles in Developed Countries: Time to Develop the Next-Generation Measles Vaccines?” Thema ist dort doch die oft unzureichende Immunantwort auf die klassische zweistufige Impfung, was kein unbekanntes Phänomen ist. Die gibt es immer. Aber auch und gerade diese Studie weist darauf hin, dass eine Durchimpfung von 95 Prozent der Bevölkerung bei Masern Voraussetzung für eine Eliminierung dieses Erregers ist. Dass dazu möglicherweise auch noch Varianten des Impfstoffes entwickelt werden müssen, ist Anliegen der Studie. Anliegen der Studie ist sicherlich nicht, eine laissez-faire-Haltung zur Masernimpfung zu propagieren. Ich bin sicher, dass die Autoren entsetzt über eine solche Ausdeutung wären.
Ehrlich gesagt, ich bin es auch.

Interessant dazu: – in den Sozialen Medien fand sich diese Anmerkung zu meinem offenbar hasserfüllten Dialog mit Frau Thormann, jeder mag sich das Seine dazu denken:


Name (notwendig)sagt:
Die Autoren benennen ja auch sehr klar, wer Schuld ist: “Socio-cultural limitations are also extremely important, and often either overlooked by the architects of elimination and eradication efforts, or unexpectedly arise due to temporal trends. Primary among these are that surprising numbers of otherwise well-educated people reject the vaccine due to safety fears—effectively diminishing its worth as a public health tool.” Wobei das “well-educated” mit Vorsicht zu genießen ist. 😉

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