Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

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Das BVerfG zu Tierheilpraktikern und Homöopathie: Nur Probleme, keine Lösungen

I’m not amused…

Die homöopathische Welt glaubt einmal wieder, Anlass zur Freude zu haben. Vor wenigen Tagen traf das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung, die dort als „Sieg“ gefeiert wird. Und in der Tat, auf eine gewisse Weise ist sie das auch, wenn ich auch glaube, dass die meisten Feiernden den genauen Inhalt des Urteils nicht wirklich realisiert haben. Man könnte nämlich, recht betrachtet, durchaus sagen, dass die Homöopathie allenfalls als „Beiwerk“ Gegenstand des Urteils ist.

Ich bin weit entfernt von Richterbashing, als jemandem, der mal eine Menge über Jura, Gesetzgebung und Rechtsprechung gelernt hat, ist mir das fern. Aber es ist legitim, aufzuzeigen, wo auch Entscheidungen des obersten Gerichts vielleicht einen zu niedrigen Horizont, einen allzu begrenzten Radius einbeziehen und damit verfehlen, ein in der Gesamtschau „richtiges“ Urteil zu erreichen. So bitte ich meine nachfolgenden Ausführungen zu verstehen.

Worum geht es?

Das Tierarzneimittelgesetz 2022

Im Februar 2022 ist das neue Tierarzneimittelgesetz (TAMG) in Kraft getreten. Im Wesentlichen ist es eine Umsetzung von Regelungen der neuen EU-Biorichtlinie und der EU-Tierarzneimittelrichtlinie. Einer der Kernpunkte der EU-Regelungen ist das Gebot, dass Arzneimittel in der Haltung von Tieren, die der Lebensmittelgewinnung dienen, nur noch auf tierärztliche Verordnung hin verabreicht werden dürfen (sog. Tierarztvorbehalt). Da Homöopathika bekanntlich auch Arzneimittel im Sinne des Gesetzes sind, bedeutet das das Aus für das Herumpfuschen von Tierhaltern und Tierheilpraktikern mit Homöopathie im Viehstall. Dass auch Tierärzten hier rechtlich enge Grenzen gesetzt sind, habe ich auf diesem Blog schon näher erklärt.

Der deutsche Gesetzgeber hat den Regelungen der EU-Richtlinien, die es umzusetzen galt, noch ein Detail hinzugefügt: er hat nämlich Haltern und Tierheilpraktikern (also Laien) auch für den Bereich der Nicht-Nutztiere grundsätzlich untersagt, Homöopathika, die nicht explizit als Veterinärarzneimittel ausgewiesen sind (das sind die allermeisten) ohne tierärztliche Verordnung zu verabreichen. Das ist üblich (was schert dabei die Unmöglichkeit, nach homöopathischen Grundsätzen zu therapieren) und nennt sich „Umwidmung“. Es geht also, kurz gesagt, um die Ausdehnung des Tierarztvorbehalts auf Tiere, die keine Nutztiere mit dem Ziel der Lebensmittelgewinnung sind. Hund, Katz, Pferd und Maus also. Und Koikarpfen nicht zu vergessen, ein bekanntes Tätigkeitsfeld für Tierheilpraktiker.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Nun ist Tierhomöopathie ja eh nichts anderes als das Absurde im Absurden. Aber lassen wir diese Kleinigkeit erst einmal beiseite und fragen uns, was das jetzt mit dem Bundesverfassungsgericht zu tun hat.

Nun, es handelt sich um eine Klage von TierheilpraktikerInnen gegen den eben beschriebenen „speziellen“ Teil des TAMG, den Tierarztvorbehalt auch bei Nicht-Nutztieren, der sie in ihrer Berufsausübungsfreiheit einschränke. Die Formulierung war wohl, die Regelung „käme faktisch einem Berufsverbot gleich“.

Nun kann man sehr wohl darüber streiten, ob dies a) nicht durchaus wünschenswert und b) der Tierheilpraktiker überhaupt ein „Beruf“ sei. Leider hat in der Rechtsprechung die frühere Rechtsfigur des Berufs mit Ausbildung, Fachkunde, in der Regel auch dem Nachweis einer Qualifikation unter einem Prüfungsregularium längst einer Sicht Platz gemacht, die mehr oder weniger als „Beruf“ alles anerkennt, was auf dem gleichsinnigen Zusammenschluss einiger Überzeugter beruht und über mehr als ein paar Wochen oder Monate tatsächlich gegen Entgelt ausgeübt wird. Im ersteren Sinne wäre der „Tierheilpraktiker“ also ein Nicht-Beruf, allenfalls eine Tätigkeit. Das Bundesverfassungsgericht sah aber in seinem hier besprochenen Urteil kein Problem darin, Tierheilpraktikern den Schutz der Berufsausübungsfreiheit nach dem Grundgesetz zuzuerkennen und sie damit als „Beruf“ de facto rechtlich anzuerkennen. Was eine sehr unangenehme Sache ist, wie wir noch sehen werden.

Unter dieser offensichtlich nicht weiter hinterfragten Prämisse untersuchte das Gericht, ob das „Homöopathie-Verbot“ des TAMG für Nicht-Tierärzte im Nicht-Nutztierbereich (man muss es so präzise ausdrücken) tatsächlich verfassungswidrig sei. Und bejahte diese Frage. Mit der Folge, dass der angegriffene „Spezialteil“ des TAMG als von Anfang an nichtig gilt und nicht anzuwenden ist.

Das Gericht befand, das uneingeschränkte Verbot der Anwendung von Humanhomöopathika an Nicht-Nutztieren durch Halter und Tierheilpraktiker sei vom Gesetzgeber nicht ausreichend gegenüber dem damit verbundenen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit abgewogen worden. Die Einstufung der Tierheilpraktiker als Beruf nehme ich mal als Fakt hin, so sehr es mir widerstrebt – siehe oben. Aber die Sache mit der Abwägung, da hakt es bei mir gewaltig.

Der Gesetzgeber hat vor dem Hintergrund, dass die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes und einer Schädigung der Gesundheit von Tier und Mensch als gering einzuschätzen ist und durch die Einführung einer Pflicht zum Nachweis theoretischer Kenntnisse im Bereich der Tierheilkunde weiter gemindert werden kann, keinen verfassungsrechtlich angemessenen Ausgleich vorgenommen.

Pressemitteilung vom 16.11.2022 zum Beschluss vom 29. September 2022
1 BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21

Gut, das entspricht dem ehernen Grundsatz, dass Eingriffe in Rechte, zumal Grundrechte (wie hier in die Berufsausübungsfreiheit) notwendig, angemessen und so milde wie möglich sein müssen. Nähere Ausführungen dazu in der Gesetzesbegründung hat das Gericht vermisst. Es ist also erst einmal folgerichtig, wenn es diesen Punkt in den Fokus nimmt.

Ich kenne die großen Linien der Verfassungsgerichtsrechtsprechung einigermaßen gut, zurück bis in die Anfänge. Da hat sich mit der Zeit einiges verändert – oder besser gesagt, neu verortet. Das ist eigentlich eine gute Sache und sollte viel öfter Gegentand der Rechtsprechung sein, die ja in gewissen Grenzen ein Spiegelbild der realen gesellschaftlichen Verhältnisse und keine sture Rechtsanwendung sein soll. So fordert das BVerfG selbst von der gesamten Rechtsprechung. „das geltende Recht an veränderte Verhältnisse anzupassen“ (so in der Entscheidung des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 918/10 -).

Zu den weniger gutzuheißenden Entwicklungen in der Verfassungsrechtsprechung gehört aber, dass solche konkreten Aussagen zu Prämissen und Kriterien wie im vorliegenden Fall früher so nicht getroffen worden wären. Hier aber sieht man, wie das Gericht praktisch Prämissen „unverrückbar“ festschreibt und sie dem Gesetzgeber als konkrete Abwägungskriterien regelrecht vorgibt. Früher hätte sich das Gericht wohl auf die Feststellung beschränkt, es fehle an einer schlüssigen Darlegung und Abwägung des Pro und Contra eines solchen Grundrechtseingriffs.

Was das BVerfG hier tut und was nicht von mir allein kritisiert wird, das nennt man „Einschränkung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers“. Damit ist gemeint, dass der Gesetzgeber weitgehend frei darin ist, die Gründe für und gegen eine Gesetzesregelung abzuwägen und dabei auch selbst zu entscheiden, welchen Gründen er dabei den Vorrang einräumt. Verfassungsgerichtlicher Nachprüfung obliegt – das ist doch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung eine Selbstverständlichkeit – nur noch, ob eine solche Abwägung überhaupt stattgefunden hat oder ob sie auf gänzlich sachfremden Erwägungen beruht. Die Einschätzungsprärogative ist von der Rechtsprechung so „großzügig“ wie nur immer vertretbar auszulegen. Danach könnte der Urteilsspruch nur lauten, dass das eine (fehlende Abwägung) oder das andere (elementar fehlerhafte Abwägung) vorliegt und nicht, nach welchen konkreten Prämissen der Gesetzgeber hätte verfahren müssen bzw. bei einer Revision des Gesetzes verfahren solle.

Die sachliche Schieflage

Und genau in dieser kritikwürdigen Ausdehnung des Rahmens der Rechtsprechung liegt die Crux und zeigt auf, warum es elementar ist, gegenüber dem Gesetzgeber nicht „zu konkret“ zu werden. Denn:

Nach meiner bescheidenen, aber m.E. wohlbegründeten Ansicht liegt das Gericht daneben, wenn es von einer „geringen Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes und einer Schädigung der Gesundheit von Mensch und Tier“ ausgeht. Das ist der Widerhall jahrzehntelanger Homöopathie-Propaganda von „sanft, natürlich und nebenwirkungsfrei“, die sich ganz offensichtlich sogar in den Köpfen von Richtern als unhinterfragbar einen Platz erobert hat. Nur ist das erstens falsch, zweitens falsch und außerdem – falsch.

Natürlich hat man seinerzeit, beim Arzneimittelgesetz 1978, den Homöopathen und Anthroposophen nach deren Gezeter auch deshalb ihren Willen gelassen, weil man ihre verdünnten Eso-Pillen und -Tinkturen für jedenfalls „harmlos“ hielt. Das war aus der damaligen Sicht irgendwie ja noch nachvollziehbar (Betonung auf „irgendwie“). Aber heute ist das eine absolut unhaltbare Position und ein zentraler Punkt der wissenschaftsbasierten Homöopathiekritik. Das Projekt „Globukalypse“ des Informationsnetzwerks Homöopathie zielt genau darauf ab, vor allem Entscheidungsträgern in Gesundheitswesen und Politik die vielfältigen Schadenspotenziale von Homöopathie zu verdeutlichen.

Es lässt sich eigentlich auf einen sehr kurzen Extrakt verkürzen: Homöopathie ist spezifisch unwirksam, daher kommt eine „Behandlung“ damit einer Nichtbehandlung gleich. Dass eine Nichtbehandlung a priori schadenbehaftet ist, liegt auf der Hand. (Und dass eine Behandlung mit Homöopathie nicht mit dem Placeboeffekt zu rechtfertigen ist – was die Homöopathen auch gar nicht wollen – das wurde schon oft erklärt.) Von einem geringen bis nicht vorhandenen Schadenpotenzial der Homöopathie auch im vorliegenden „Spezialfall“ auszugehen, ist schlicht verfehlt. Das ist auch von der medizinwissenschaftlichen Seite (u.a. dem Weltärztebund) längst als relevant anerkannt.

Daraus folgt dann aber auch, dass die homöopathische „Behandlung“ von Haustieren tierschutzrelevant ist. Immerhin ist der aktive Tierschutz auch ein Verfassungsgebot. Tiere durch faktische Nichtbehandlung leiden lassen, Krankheiten bei der Chronifizierung zuzusehen oder gar die Tiere sterben zu lassen ist tierschutz- und damit gesetzeswidrig.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber gerade das glatte Gegenteil dessen als Prämissen angenommen und dies für eine Abwägung dem Gesetzgeber mehr als nahegelegt – das ist der Part, dem hier entschieden widersprochen werden muss. Schlimm genug, dass das Gericht den Tierheilpraktiker als „Beruf“ zementiert und dem Gesetzgeber gar vorschlägt, diesen durch einen Regelungsrahmen auch noch zu legitimieren. Schon das Urteil selbst bedeutet eine Festigung des Tierheilpraktiker-Unwesens, kommt es erst zu einer gesetzlichen Regelung gleich welchen Inhalts, wäre das eine Festlegung für die Ewigkeit. Selbst die Humanheilpraktiker würden davon profitieren, wenn eine ihnen analoge Entität im Tierbereich regelrecht installiert werden würde. Das alles unter die Annahme zu stellen, es gehe hier um eine Marginalie ohne nennenswertes Schadenspotenzial, das ist schlicht – verfehlt.

Und den Tierheilpraktikern eine „Pflicht zum Nachweis theoretischer Kenntnisse im Bereich der Tierheilkunde“ aufzuerlegen, hat mit der Realität auch wenig bis nichts zu tun. Erstens, weil man sich die Diagnostik und Therapie beim Tier eher noch komplexer vorstellen muss als in der Humanmedizin, was jeder Absolvent einer tierärztlichen Hochschule bestätigen wird. Und zweitens, weil eine solche Anforderung nicht einmal an die Zulassung als Humanheilpraktiker gestellt wird. Dort geht es lediglich darum, ob der Kandidat einigermaßen seine Grenzen kennt – die berühmte Prüfung „zur Abwehr von Gefahr für die Volksgesundheit“. Die Formulierung des Gerichts für Tierheilpraktiker geht absurderweise klar darüber hinaus. Das würde dann wieder dazu führen, dass die Tierheilpraktiker sich in ihrer Berufsausübungsfreiheit gegenüber den Humanheilpraktikern … und der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung … äh … lassen wir das mal beiseite, denn das könnte man noch viel weiter ausführen.

Fazit: Keine Lösungen, nur zusätzliche Probleme

An der Legitimation der Homöopathie als Arzneimittel, dem Grundproblem, ändert sich ersichtlich – nichts. Das Urteil unterstreicht im Gegenteil sozusagen noch einmal die Rolle der Homöopathie als Arzneimittel im Sinne des Gesetzes. Und zeigt damit – wie schon erwähnt – die enorme Wirkkraft der jahrzehntelang verbreiteten Homöopathie-Propaganda, die der Methode den Ruf einer realen Therapieoption in den Augen der Allgemeinheit verschafft hat.

Das zu ändern, ist das Anliegen der „Globukalypse“.


Kleiner FunFact zum Schluss: Nach der Veröffentlichung des Urteils und diversen Presseartikeln dazu fanden sich in den Sozialen Medien die „Betroffenen“ zusammen – und waren zu großen Teilen baß erstaunt, dass es die Regelung, die das Gericht nun gekippt hat, überhaupt gegeben hat. Was ein bezeichnendes Licht auf die „Professionalität“ der „Ausübenden der Tierheilkunde ohne Approbation“ wirft. Jahrelange Vorlaufzeiten und Diskussionen über die EU-Regelungen und ihrer Umsetzung in nationales Recht ist offenbar an diesen Profis ebenso vorbeigegangen wie eine Petition der eigenen Verbandschaft und die durchaus in der Presse berichtete Klageeinreichung. Wollte ich nur kurz angemerkt haben.


Meine Empfehlung zum Thema Tierheilpraktiker:

Colin Goldner: Tierheilpraktische Quacksalberei (beim Humanistischen Pressedienst)


Bild von Anja auf Pixabay

Homöopathie – was für einen Diskurs führen wir eigentlich?

Rosarote Brille, das Original

Dumme Frage? Keineswegs.

Die wissenschaftsbasierte Homöopathiekritik hat in den letzten Jahren intensiv die Argumente dargelegt, die die Homöopathie nach dem Urteil der Mehrheit der weltweiten Wissenschaft als eine medizinisch irrelevante Scheintherapie qualifizieren. Dabei wurden zwei Ziele verfolgt: Aufklärung der über Jahrzehnte hinweg des- und fehlinformierten Öffentlichkeit über den wirklichen Stellenwert der Homöopathie und Kritik an den verfestigten Strukturen, die die Homöopathie seit Jahrzehnten derart begünstigen, ja privilegieren, dass sie bislang ihre Position im öffentlichen Gesundheitswesen unangefochten erhalten konnte.

Beides hat nach wie vor seine Berechtigung. Viele, allzu viele Menschen verharren noch in dem des- oder uninformierten Kenntnisstand zur Homöopathie, der die eigentliche Grundlage für das Geschäft mit den Zuckerkugeln bildet. Natürlich hat man als Kritiker gelegentlich das Gefühl, “durchgedrungen” zu sein, zumal sich beispielsweise so langsam auch ein Wandel in der noch vor relativ wenigen Jahren durchweg unkritischen Medienberichterstattung zur Homöopathie feststellen lässt (allerdings durchaus noch nicht als Regelfall). Der Homöopathie-Werbung fällt es wohl auch nicht mehr so leicht, mit ihren beschönigenden Behauptungen (auf die sie sich nun mal beschränken muss) zu punkten. Im Verein mit der restlichen Homöopathie-Lobby sind die Hersteller jedoch nach wie vor aktiv und suchen die wissenschaftliche Homöopathiekritik nach Möglichkeit mit vielerlei Vorspiegelungen auszuhebeln.

Diesen Gesamtdiskurs führt die wissenschaftsbasierte Homöopathiekritik nach wie vor, in dem Wissen, dass es noch viel zu tun gibt. Ein Teil dieses Diskurses allerdings ist mir schon längst ein Dorn im Auge, denn den empfinde ich als ausgesprochen unredlich.

Wer aufmerksam hier im Blog mitliest, den wird es nicht überraschen, dass ich damit den Missbrauch wissenschaftlicher Methodik und das opportunistisch-pragmatische Verhältnis der Homöopathievertreter zur Wissenschaft überhaupt meine. Hier liegt meines Erachtens eine Ursache dafür, weshalb auch die Politik immer wieder davor zurückschreckt, in Sachen Homöopathie im Gesundheitswesen einen klaren Grenzstrich zu ziehen. Mit der scheinwissenschaftlichen Bemäntelung ihrer Methode gelingt es der homöopathischen Lobby sehr eindrucksvoll, die Politik (und nicht nur diese) anhaltend zu verunsichern, den klaren Blick zu verschleiern und den Anschein einer offenen wissenschaftlichen Diskussion aufrechtzuerhalten. Ganz abgesehen davon, dass es die Vertreter der Homöopathie im Bedarfsfalle (und nur dann) für opportun halten, die Wissenschaft als ungeeignet für ihre Methode hinzustellen (was sie durch ihre eigene Bemühung, wissenschaftliche Reputation zu erlangen, laufend konterkarieren) oder wenn sie gar bestrebt sind, den Wissenschaftsbegriff ihren Bedürfnissen und Erfordernissen anzupassen, sei es durch verquere Ausführungen zur Wissenschaftstheorie (“junk epistemology” ) oder durch Ausdehnung des Wissenschaftsbegriffs ins ungehemmt Spekulative (Walach).

Beklagenswerterweise kann mit diesem pseudowissenschaftlichen Tand genug Einfluss bei Multiplikatoren und Entscheidungsträgern ohne tieferes Verständnis für Wissenschaftlichkeit gewonnen werden, um die eigene Position abzusichern. Noch. Denn wie ich finde, muss in aller Deutlichkeit als ein nächster Schritt in der Homöopathiekritik offengelegt werden, was für ein falsches Spiel mit der Wissenschaft hier von den Vertretern einer Methode getrieben wird, der die Wissenschaftlichkeit eigentlich per se abgesprochen werden muss.

Ein weiteres Mal sei das interdisziplinäre Gutachten für das Memorandum Homöopathie der Russischen Akademie der Wissenschaften zitiert, das feststellt:

Die Gesamtschau der Fakten aus verschiedenen Bereichen – über die Ergebnisse der klinischen Studien bis zu den modernen wissenschaftlichen Vorstellungen über die Struktur der Materie, den chemischen Grundlagen der intermolekularen Wechselwirkungen und der menschlichen Physiologie – ermöglicht uns die Schlussfolgerung, dass die theoretischen Grundlagen der Homöopathie keinen wissenschaftlichen Sinn haben und demzufolge homöopathische Diagnose und Behandlungsmethoden wirkungslos sind. […] Der Abgleich des „externen Szientismus“ der Homöopathie auf der einen Seite mit dem gemeinsamen System der heutigen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis auf der anderen Seite ermöglicht es uns aber, die Homöopathie als eine pseudo-wissenschaftliche Disziplin zu qualifizieren.

Es lohnt sich, das Memorandum und das Gutachten noch einmal vollständig zu lesen.

To make a long story short: Es kann nicht angehen, dass die Homöopathiekritik und der gesellschaftliche wie der politische Diskurs sich weiterhin die perfide Schimäre einer andauernden wissenschaftlichen Debatte unter dem Anschein eines relevanten Dissenses aufoktroyieren lassen. Wenig bis nichts in der medizinischen Forschung lässt eine so eindeutige Beurteilung ohne “Grauzone” zu wie die Homöopathie. Nichts aber spricht dem mehr Hohn als die tatsächliche Bedeutung, die die Homöopathie dessen ungeachtet gesellschaftlich und offenbar sehr wirkmächtig in der Politik in Deutschland zukommt. Nicht einmal die fundierten Entscheidungen in europäischen Partnerländern wie England, Frankreich, Spanien, zuletzt gar Ungarn (wo es keine Zulassung von Homöopathika mit Indikationen mehr ohne fundierten wissenschaftlichen Wirkungsnachweis gibt) haben diese letztlich irrationale Haltung bislang beeinflussen können. Und das kann nicht sein.

Hier liegt die für mich die Zielrichtung künftiger Homöopathiekritik. Dem Versuch, durch wissenschaftliche Mimikry eine wissenschaftliche Relevanz der Homöopathie vorzutäuschen, muss dabei natürlich weiter entgegengetreten werden. Aber eben mit dem ceterum censeo, dass es dabei um nicht mehr geht als um die Abwehr von Täuschen, Tricksen und Tarnen.

Weitere Beiträge auf diesen Seiten werden im Detail begründen, weshalb es dabei um Täuschen, Tricksen und Tarnen geht. Dabei wird es vor allem darum gehen, weshalb die Homöopathie überhaupt den Drang verspürte, wissenschaftliches Renommee zu erlangen (nachdem ihr sehr lange ihr “Ruf als Erfahrungsmedizin” vollauf genügte) und wie sehr ihr dabei ausgerechnet die Etablierung der Evidenzbasierten Medizin entgegenkam.


Weitere Beiträge (neben den Links im Text), in denen ich Teilaspekte des hier dargelegten Themas außerhalb dieses Blogs bereits besprochen habe:

Der Scharlatan ist ein Meister aus Deutschland

Warum bloß?

Abschied vom Paralleluniversum


Bild von Mabel Amber auf Pixabay

Was macht die Homöopathie zum großen Problem?

Der Drache des confirmation bias vor der Höhle der Erkenntnis

Vor kurzem postete das Informationsnetzwerk Homöopathie in den Sozialen Medien:

“Homöopathiekritik ist weder Hass noch Hetze.
Es ist einfach eine rationale Kritik an einer irrationalen Methode”.

Besser und kürzer kann man viele Aspekte des Umgangs mit der Homöopathie gleichzeitig wohl kaum auf den Punkt bringen. Und in der Tat braucht man es eigentlich auch gar nicht.

Die Homöopathie selbst wird fortexistieren, ein Aspekt, den jeder ernsthafte Homöopathiekritiker nicht bestreiten, ja, als Selbstverständlichkeit akzeptieren wird. Es wäre von daher seinerseits irrational, etwa ihre “Abschaffung” oder gar ein “Verbot” zu fordern und ein solches unsinniges Ziel gar mit “Hass” und “Hetze” zu verfolgen. Solches wird man deshalb in den Stellungnahmen von ernstzunehmenden, auf wissenschaftlichem Fundament stehenden Kritikern nirgends finden. Diese zielen auf die verzerrte Wahrnehmung und die ungerechtfertigte Rolle der Homöopathie in der Gegenwart ab, insbesondere auf ihre Position innerhalb von Medizin und Gesundheitswesen und den falschen Wissenschaftlichkeitsanspruch.

Zum Objekt von “Hass” und “Hetze” wird die Homöopathie nur in der Wahrnehmung ihrer Verteidiger. Dies mag kognitiv sogar verständlich sein, geht es doch ganz offensichtlich nicht um eine Schicht rationaler, durch Argumente zugänglicher Wahrnehmung. Die Homöopathie sitzt bei der Mehrzahl ihrer Verteidiger “tiefer”, wird zum Teil eines Überzeugungssystems, unter Umständen zu einem Teil der Selbstwahrnehmung und damit für rationale Argumente immer unzugänglicher. Sie wäre längst dahin als Staub der Medizingeschichte, wäre das nicht so. Stattdessen legt sich der “confirmation bias” in all seinen Ausprägungen als Wächterdrachen vor die Wahrnehmung der Realität. Und dessen Stärke zu unterschätzen hieße eine große Macht zu unterschätzen.

Speziell in der Medizin hat uns der confirmation bias schon Fehlschlüsse und Irrtümer nicht marginalen Charakters wie die Vier-Säfte-Lehre und viele ihrer “Therapiemethoden” über 1.000 Jahre und mehr beschert. Es wäre daher wiederum irrational, sein Wirken bestreiten zu wollen. Jedoch: Kenne Deinen Feind! Die moderne Wissenschaft verwendet große Teile ihrer Werkzeuge und Ressourcen darauf, den confirmation bias in der Gewinnung von Erkenntnis zu entlarven und so gut wie möglich zu eliminieren. Das manifestiert sich in ihrem Anspruch auf Intersubjektivität, also der Nachvollziehbarkeit ihrer Ergebnisse unabhängig von Ort, Zeit und Person. Dieser Weg hat uns inzwischen bis zur Evidenzbasierten Medizin geführt.


Worüber also diskutieren wir eigentlich?

Homöopathie hat sich bei ihrer wissenschaftlichen Validierung als Musterbeispiel der Subjektivität entpuppt – und – abgesehen von der Unvereinbarkeit von Grundprämissen mit gesichertem naturwissenschaftlichem Wissen – außerdem einer strengen intersubjektiven Prüfung auf Wirksamkeit als spezifische Methode (ihrer “zweiten Chance”) nicht standgehalten. Dies ist weitestgehender Konsens, bis zu einem validen Beweis des Gegenteils (zu dem wahrlich einiges gehören würde) der belegte Stand der Dinge und auf der Basis der vorhandenen Erkenntnis nicht mehr diskursfähig.


Dass dies vielen Laien nicht klar ist, liegt auf der Hand – beklagenswerterweise wissen sie es nicht besser, können es im Grunde nicht wissen durch den äußeren Schein, die allgemeine Reputation, die die Homöopathie genießt. Hier ist durch Fehlinformation, plakative Beeinflussung (gesetzlicher Schutz, Apothekenpflicht, von Ärzten angewandt) und durch das Bestärken falscher Haltungen bereits viel verloren, einziges Mittel ist jedoch Aufklärung und immer wieder Aufklärung. Ist es der Homöopathie gelungen, die Methode als “sanft, wirksam, nebenwirkungsfrei” in den Köpfen durch beständige Wiederholung zu verankern, ist es auch möglich, den wahren Fakten durch beständige Wiederholung Eingang in das allgemeine Bewusstsein zu verschaffen. Nach einer Sentenz von Dr. Natalie Grams muss und wird es möglich sein, dass Homöopathie und die Berufung auf sie als medizinische Methode gesellschaftlich-sozial in eine Rolle gelangt wie heute das Rauchen. Daran arbeitet die Aufklärung und darf sich darin nicht beirren lassen.


Der homöopathisch tätigen Ärzteschaft sei jedoch entgegengehalten: Es kann kein ärztliches Angebot geben, das gleichzeitig auf wissenschaftlicher Intersubjektivität und auf dem Ignorieren derselben beruht. Der Versuch, beides gleichzeitig zu praktizieren, trägt die Entwertung wissenschaftlich-rationalen Denkens in sich.

Dies bedarf der Richtigstellung durch die ärztliche Profession selbst. Es gibt Fortschritte – wie mühsam das ist, erfahren alle Landesärztekammern, die die Streichung der Homöopathie aus ihren Länderfortbildungsordnungen betreiben. Noch lange sind wir nicht so weit, dass die Ärzteschaft mit einer Stimme spricht. Dass es der studentische Nachwuchs ist, der sich klar und eindeutig positioniert, ist mehr als zu begrüßen. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Evidenzbasierte Medizin dabei ist, bei der aufwachsenden Medizinergeneration die ihr zukommende Rolle tatsächlich einzunehmen.


Aber ist nicht der Hinweis auf Wahrnehmungsfehler und daraus – bedauerlicherweise – resultierenden Inkonsistenzen des Handelns in Sachen Homöopathie allein nicht eine geradezu verharmlosende Betrachtungsweise? Muss nicht deutlich ausgesprochen werden, dass gerade (ausgerechnet) die evidenzbasierte Medizin, die ein notwendiges, vielleicht irgendwann einmal hinreichendes Moment der Rationalität in die Medizin einbringen will, von der Homöopathie (und anderen Pseudomethoden) geradezu missbraucht wird?

Man möge zunächst nochmals realisieren, dass die Evidenzbasis der Homöopathie klar und so weit wie möglich belegt ist: Belastbare Belege für eine spezifische Wirkung der Methode existieren nicht, das ist das durchgängige Ergebnis der Arbeiten des höchsten Evidenzlevels, der Reviews und Metaanalysen. Es kann also erst einmal nicht so getan werden, als gebe es “Spielräume”, die auch die evidenzbasierte Medizin bei unzureichender Datenlage anerkennt und wo sie der “reinen Erfahrungsmedizin” ein gewisses Recht einräumt. Es sei klar festgestellt: In der Homöopathie gilt dies nicht. Hier ist Meinung von Wissen durch valide Evidenzprüfung hinreichend separiert. Worauf nun beruhen all diese ständigen Debatten und das Beharren auf einer invaliden, unter Umständen schädlichen Methode?

Es handelt sich dabei um eine Strategie oder, wenn mal will, um einen Mechanismus, den man im amerikanischen Sprachgebrauch “Denialism” nennt, also “Leugnung”. Er stammt aus der US-amerikanischen Bloggerszene und meint über die allgemeine Bedeutung hinaus etwas Speziellesdas systematische, wiederholte und dauerhafte Leugnen und Bestreiten der bestehenden Evidenz zu einer wissenschaftlichen Thematik. An einer so klar definierten Eingrenzung des Problems scheint es im deutschsprachigen Raum bislang zu fehlen. Ändern wir das.

Diethelm/McKee (2009) haben im Zusammenhang mit der inzwischen weithin bekannten und geächteten Kampagne der Tabakindustrie zur wissenschaftlich verbrämten Leugnung der Schädlichkeit des Rauchens (kein Journal nimmt noch Papers an, die im Zusammenhang mit der Tabakindustrie stehen) Kriterien für ein solches “Denialism”, die systematisch betriebene Leugnung vorhandener Evidenz, definiert. Als da wären:

  • Identification of conspiracies (also die “Aufdeckung” angeblicher Verschwörungstheorien): Der wissenschaftliche Konsens sei nur ein scheinbarer, lediglich Ergebnis einer Verschwörung, bevorzugt der Pharmaindustrie, des selbstreferenzierenden wissenschaftlichen Mainstreams, bezahlter Propagandisten, auch und vor allem der skeptikerbewegungsgesteuerten Wikipedia und gar von sinistrer Einflussnahme auf Regierungen. Die wahren Belege würden einfach nicht zur Kenntnis genommen. Alltag in der Homöopathie, die Beispiele sind nahezu Legion. Wir haben dies – zweifellos in vollem Ernst – von Herrn Hevert (Hevert Arzneimittel) im Zusammenhang mit dem Abmahnungsversuch gegenüber Dr. Grams (2019) vernehmen können. Eine prominente, aber längst nicht die einzige Stimme, die Derartiges verlauten lässt. Solche Thesen erscheinen auf “Homöopathie online”, der Webseite des Zentralvereins Homöopathischer Ärzte, in gewisser Regelmäßigkeit und sind überhaupt ein ständiges Ostinato, geradezu ein Kennzeichen fast aller Verteidigungen der Homöopathie.
  • Fake Experts (also Scheinexperten): Ein breites Spektrum, das von um Selbstbestätigung bemühten Lobbyisten bis hin zu sinnfreien Testimonials reicht, wofür einfache Verwender ebenso herhalten müssen wie “Promis” (Goethe, Feldmarschall Radetzky, Gandhi, Yehudi Menuhin und neuerdings auch Chopin stehen oben auf der Liste). Ganze Werbekampagnen der einschlägig interessierten Industrie beruhen darauf. Man schaue sich nur einmal die “Zitate zur Homöopathie” an, die die Deutsche Homöopathie Union (DHU) in jüngster Zeit zum Gegenstand einer PR-Kampagne auf Twitter gemacht hat. Hierzu gehört auch der Umstand, dass die Apologeten der Homöopathie durchweg deren Lobby zuzurechnen sind, die allgemeine Wissenschaft nimmt hiervon so gut wie keine Notiz, weil sie das Thema nicht mehr für diskursfähig hält.
  • Selectivity (also Selektivität, auch Cherry-Picking genannt): Eine “Königsdisziplin” der Homöopathie, immer wieder aufs Neue demonstriert. Die eigenen negativen Reviews werden bis auf Satzebene selektiv zitiert, vermutlich sogar, ohne dass das dies vom Zitierenden überhaupt in allen Fällen realisiert wird (Stichwort confirmation bias). Die Versuche, gegenüber der feststehenden Gesamtevidenz mit einzelnen Studien und Veröffentlichungen zu punkten, ja, aus einzelnen Reviews gar Detailergebnisse als Beleg pro Homöopathie zu exzerpieren, sind sämtlich Ausprägungen der “Selectivity”. Unter keinen Umständen wird die im Falle der Homöopathie gesicherte negative Gesamtevidenz anerkannt – jeder Winkelzug, jedes Scheinargument muss dafür herhalten.
  • Impossible expectations (das Verlangen des Unmöglichen, ein “Überdehnen” des Wissenschaftsbegriffs): Ein prominentes Beispiel ist das – offene oder implizite – Verlangen, man möge “die Unwirksamkeit der Homöopathie beweisen”. Diese Umkehrung der Beweislast vom Behauptenden zum Zweifelnden ist ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster. In anderer Ausprägung wird dies als Aussage den Kritikern unterstellt und dann mit Widerlegungsversuchen ein Scheinangriff geführt. Auch die Ausdehnung des Wissenschaftsbegriffs ins Spekulative, wie es manche angeblich auf wissenschaftlichem Boden stehende Apologeten der Homöopathie einfordern, gehört hierhin, ebenso die Sentenz, man wisse noch nicht, wie Homöopathie wirke, jedoch man sehe, dass sie wirke.
  • Misrepresentation and logical fallacies (Irreführung und Trugschlüsse): Hier sammelt sich das ganze fast unüberschaubare Spektrum innerer und äußerer Inkonsistenzen der Homöopathie, die – man kann vieles davon auf diesem Blog nachlesen – nachgerade ein konstituierendes Merkmal der Methode sind: von den schon in Hahnemanns Urlehre vorhandenen Widersprüchen bis hin zum Zerfall der Lehre in eine Unzahl von sich z.T. in Kernpunkten widersprechenden “Varianten”. Auch das gesamte “Whataboutism” gegenüber der wissenschaftsbasierten Medizin und die Vorhaltungen gegen die Kritiker, sie würden sich mit deren Unzulänglichkeiten nicht befassen (eine Unwahrheit) gehören hierher. Ebenso die Uminterpretation der Homöopathiekritik zu einer vorgeblich reinen Kritik an den theoretischen Grundlagen, eine Reduzierung auf Plausibilitätskritik, was nicht den Tatsachen entspricht: primär beruht die wissenschaftliche Homöopathiekritik auf dem fehlenden Nutzennachweis nach den Kriterien der Evidenzbasierten Medizin.

Alle Kriterien des “Denialism” nach dieser Definition werden von der Homöopathie mithin erfüllt. Hier liegen die Potenziale dafür, weshalb der Denialismus der Homöopathie geeignet ist, die wissenschaftlichen Prinzipien zur Annäherung an eine möglichst genaue Beschreibung der Wirklichkeit zu untergraben.

Daher ist die Verteidigung der Homöopathie auf allen Ebenen Denialismus reinsten Wassers: die Leugnung der unzweifelhaft fehlenden Evidenz. Dies ist zwangsläufig in unterschiedlichen Graden vorwerfbar. Keine oder nur sehr geringe Vorwürfe sind den Anwendern zu machen, die außerstande sind, die Probleme der “eigenen Erfahrung” zu erkennen und einzuordnen und der Homöopathie-Lobby allzu oft auch noch als willfährige Propagandisten zunutze sind. Zur Einordnung der Vertreter der homöopathischen Szene habe ich mich bereits an anderer Stelle ausführlich geäußert. Spoiler: Auch hier zeigen sich gravierende Auswirkungen des confirmation bias, allein durch Opportunismus, den es geben mag, ist die Existenz des homöopathischen Universums wohl kaum erklärbar.

Außerhalb dieses Universums wird man etwas andere Maßstäbe anlegen müssen. Manche Vertreter von Wissenschaft und medizinischer Praxis erliegen offensichtlich teils selbst Fehlwahrnehmungen, teils einer unbegründeten Toleranz, jedenfalls allzu viele einer noch weit weniger begründeten Gleichgültigkeit gegenüber einer scheinbaren Marginalie wie der Homöopathie. Und noch anders sieht es in der Politik und beim Gesetzgeber aus, die sich aus offensichtlich opportunistischen Gründen dazu bewegen lassen, die Bedeutung intersubjektiver Kriterien für allgemeine Regelungen zu missachten und einer widerlegten Methode den außergewöhnlichen Kredit einer Sonderrolle im Gesundheitswesen zu erhalten.

Homöopathie mag als solche im Gesamtkontext der heutigen Probleme eine Marginalie sein. Der politische, teils der wissenschaftliche und auch der gesellschaftliche Umgang mit ihr erweitert sie aber zu einem nicht marginalen Skandalon und zu einem unübersehbaren Fanal des Umgangs mit Rationalität, Wissenschaftlichkeit und allgemeiner Bildung. Wann wird dies dazu führen, dass die (medizinische) Wissenschaft sich endlich mit klaren und an den Patienten gerichteten Worten gegen die Komplizenschaft in ihren Reihen mit pseudowissenschaftlichen Mitteln und Methoden, allen voran der Irrlehre Homöopathie, wendet? Wann vor allem wird die Politik die Bedeutung dieses Skandalons erkennen und das “Beliebtheitsargument” zugunsten von gesamtgesellschaftlicher, nicht nur gesundheitspolitischer Verantwortung verwerfen? Ich sehe hier eine lange überfällige ethische wie intellektuelle Pflichtaufgabe für alle Entscheidungsträger und Gestalter, deren Erledigung es einzufordern gilt. Das „Memorandum Wissenschaftliche Medizin“ des “Münsteraner Kreises” zur Pseudomedizin in der ärztlichen Profession fokussiert genau diesen Gesichtspunkt und verdient Aufmerksamkeit – der MK wendet sich nach seinem Selbstverständnis ja nicht an Berufsgruppen, sondern tritt davon unabhängig gegen die Verbreitung pseudomedizinischer Methoden ein.

Subjektivismus als Folge von Opportunismus oder von scheinbar wohlfeilem Pragmatismus ist ein dünnes Eis für die Entscheidungen eines demokratischen Gemeinwesens. Kants Kategorischer Imperativ, der unausgesprochen der Leitstern aller republikanisch-demokratischen Systeme ist, postuliert die Notwendigkeit von Rationalität und Intersubjektivität in aller Deutlichkeit.  Das Staatsziel von Kant und der Aufklärer, das „Wohlergehens möglichst vieler“ erfordert einen auf den Primat von Ratio und Intersubjektivität gestützten Abwägungs- und Entscheidungsprozess. Wir sollten uns dem verpflichtet fühlen.

Ich hege die Hoffnung, dass die während der Coronakrise – nach anfänglicher Zurückhaltung – nicht unerwartet gezeigte Hybris der Homöopathie, “zum Problem Corona beitragen zu können”, zu gegebener Zeit als zusätzlicher Augenöffner dienen wird.

Nachtrag, Oktober 2022: Es ist nicht so, dass die Entscheidungsträger selbst etwa Konsequenzen aus der Rolle der Pseudomedizin in der Corona-Krise, insbesondere der „gesetzlich geschützten“ Homöopathie, ziehen würden. Gleichwohl hat sich viel getan und tut sich viel. Besonders die klare Position von 13 Landesärztekammern und der Bundesärztekammer zur Streichung der Homöopathie aus den ärztlichen Weiterbildungsordnungen ist mehr als ein starkes Signal, das sich natürlich auch an den Gesetzgeber richtet. Das Informationsnetzwerk Homöopathie unterstützt die Information der Entscheidungsträger seit September 2022 mit der konkret auf den Handlungsbedarf gerichteten Webseite „globukalypse.org„. Immerhin!


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Akupunktur – mal wieder eine Selbstdemontage

Bei Univadis ist ein Beitrag zu einer (weiteren) Akupunktur-Studie aus China erschienen, in dem darüber gerätselt wird, warum bloß in dieser Arbeit so signifikante Unterschiede zwischen Kontroll- und Behandlungsgruppe zugunsten der Letzteren ausgewiesen werden. Das weckt ein durchaus berechtigtes Misstrauen. Aber die rein medizinstatistisch-numerische Betrachtung des Outcomes führt die Hardcore-Evidenzler und die Medizinstatistiker leicht in den Wald, in dem man die Bäume nicht mehr sieht.

Dabei genügt ein kritischer Blick in das Abstract der Studie, um zu erkennen, dass es sich nicht nur mal wieder um eine “typische” Akupunktur-Studie ohne Beweiswert handelt (Steven Novella hat bei Science Based Medicine schon oft solche “typischen” Designs beschrieben, ebenso Edzard Ernst auf seinem Blog), sondern sogar um eine, die gegen die Akupunktur spricht. Dabei will ich gar nicht den Aspekt einbeziehen, dass bekanntermaßen Studien zu TCM und Co. aus China große Reserviertheit entgegengebracht werden muss – weil solche Studien nahezu ausschließlich positive Ergebnisse produzieren. Das deutet darauf hin, und das ist nicht nur meine Ansicht, dass hier mindestens ein gewaltiger Publication bias am Werke sein muss (nicht genehme Arbeiten bleiben schlicht in der Schublade, statt veröffentlich zu werden – deshalb auch drawer problem genannt).

Und was ist nun die Sicht auf den Wald und nicht die Bäume? Ganz einfach!

Es wurde auf der einen Seite klassischer Akupunktur (mit dem ganzen Meridian- und Punktezauber, der vor kurzem erneut als Schimäre entlarvt wurde) und Sham-Akupunktur (scheinbare Nadelsetzungen an beliebigen Punkten, die diesmal besonders aufwändig und “unauffällig” für den Patienten ausgeführt wurden) mit einer sogenannten “Standardbehandlung” andererseits verglichen. Die bestand zu meinem nicht geringen Erstaunen nicht etwa in bewährten Medikamentengaben wie Triptanen, sondern schlicht und einfach in Lebensführungsratschlägen. Echt. Und was da geratschlagt wurde, das darf ich mir gar nicht ausmalen… Keine Schokolade? Kein Rotwein? Keine Schwalbennester zum Frühstück…? Egal.

So. Nun kam man erst einmal zu dem Ergebnis, dass klassische und Scheinakupunktur zu den gleichen Ergebnissen führten (korrekter: dass es dort keine signifikanten Unterschiede gab). Zitat: “No significant difference was seen in the proportion of patients perceiving needle penetration between manual acupuncture and sham acupuncture (79% v 75%; P=0.891)“. Dass passiert andauernd in Akupunktur-Studien und ist eigentlich Anlass, an dieser Stelle aufzuhören und zu sinnvoller Forschungstätigkeit zurückzukehren. Warum?

Nun, ganz einfach, das ist der letztlich nichts anderes als ein Beleg dafür, dass Akupunktur nichts Spezifisches als Methode, die über Kontexteffekte hinausgeht, leistet. Dass ihr, wie z.B. auch der Homöopathie, eine “intrinsische” Wirkung nicht zugesprochen werden kann. Speziell auch, dass der ganze Meridian- und Punktezauber Hokuspokus ist, denn das soll ja gerade das “Spezifische” an der Akupunktur sein, damit steht und fällt sie per definitionem. Und dass die These, Akupunktur sei “Theatrical Placebo”, sich ein weiteres Mal bestätigt. Sogar ganz massiv, weil hier ja besondere Mühe auf die patientenseitige Verblindung der Sham-Akupunktur gelegt wurde, was eindrucksvoll die Validität der “gleichwertigen” Ergebnisse bestätigt. Unbestritten sind die Kontexteffekte (darunter Placebo) bei einem so intensiven “Setting” wie bei der Akupunktur besonders ausgeprägt. Wobei noch dazu kommt, dass im asiatischen Kulturkreis die positive Erwartungshaltung gegenüber solcher Behandlung wohl noch weit höher ausgeprägt ist als im westlichen Kulturkreis.

Was tut man nun, wenn die eigene Studie mal wieder bei dieser Trivialität gelandet ist? Wie rettet man seine Arbeit und rechtfertigt eine Veröffentlichung?

Man vergleicht das Ergebnis (interessanterweise das zusammengefasste Ergebnis aus “echter” und Schein-Akupunktur) mit einer “Kontrollgruppe”, die schlicht und einfach – gar nichts zur Behandlung bekommen hat. Was man hier “Standardbehandlung” nennt, ist nämlich: gar nichts. Die Standardbehandlung bei der Migräneprophylaxe ist heute wahrlich nicht eine “Lebensstilberatung” – das ist ein Begleitaspekt, der auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse die belegte Wirkung von Mitteln zur Akutbehandlung (z.B. Triptane) wie (in Grenzen, derzeit intensiv beforscht) zur Prophylaxe ergänzt. *) Mehr nicht.

Und auf dem doch logischerweise klar erwartbaren “Unterschied” im Outcome einmal der Summe der beiden Akupunkturgruppen mit ihren üblichen, aber unspezifischen Effekten und auf der anderen Seite einer “Nichtbehandlung”, darauf beruht das so eindrucksvoll erscheinende “starke” Ergebnis dieser Studie. Was für eine Spiegelfechterei. Mal wieder, ist man geneigt, als Leser sehr vieler Akupunktur-Studien zu seufzen. Denn das ist ein alter Hut.

So bleibt es dabei – der Outcome der Studie ist wertlos als Wirkungsnachweis für Akupunktur, aber wertvoll, weil er einmal mehr die Unspezifität der Nadelstecherei nachweist. Aber den “Vergleich” mit einer als “Standardtherapie” ausgewiesenen Nichtbehandlung als Krücke dafür, einen scheinbar bemerkenswerten Output zu produzieren – das finde ich schon dreist.

Diese Arbeit ist also nichts anderes als – Sham Research. Ach halt – kann man ja so auch nicht sagen. Sie spricht bei richtiger Betrachtung gegen eine spezifische Wirkung der Akupunktur. Aber dazu hätte es dieser Arbeit nicht bedurft. Und liebe Medizinstatistiker und Hardcore-Evidenzler ohne Sicht auf Gesamtevidenz und Plausibilität – ihr seid schon auf der richtigen Fährte mit den allzu großen Effekten, die euch hier zu denken geben. Ihr müsst aber auch richtig abbiegen.


Prof. Edzard Ernst hat noch mehr zu dieser “Studie” zu sagen:
https://edzardernst.com/2020/03/does-acupuncture-prevent-migraine-attacks/

… und Steven Novella bei Science Based Medicine zerlegt sie auch:
https://sciencebasedmedicine.org/acupuncture-for-migraine-unconvincing/


Bleibt vernünftig und gesund und ärgert euch nicht über all den Unsinn!


*) Präzisiert nach Hinweis durch Kommentatorin Andrea. Vielen Dank!


Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Homöopathie wirkt nicht über den Placebo-Effekt hinaus! – sagt wer … ?

Dass es (inzwischen) allerorten Distanzierungen homöopathischer Vereinigungen von einer Behandlung (oder gar Prophylaxe) von Covid-19 mittels Homöopathie gibt, ist hinreichend bekannt. Dass es aber immer noch genug Verblendete gibt, die sich in ihrem Scheinwissen dem überlegen fühlen, wurde z.B. im letzten Blogbeitrag hier dokumentiert.

Belastbar …?

In diesem vorigen Beitrag habe ich schon erklärt, dass ich so etwas wie grundsätzliche Einsicht in den Distanzierungen durchaus nicht erkennen kann, die Wortwahl ist allzu verräterisch. Und dieser Illusion sollte man sich auch wahrlich nicht hingeben. Der Bundesverband Patienten für Homöopathie hat dankenswerterweise auf seiner Homepage entsprechende “relativierende” Statements zusammengetragen.

Wir wollen uns hier einmal eines dieser Statements anschauen, auch vor dem Hintergrund, dass bei Twitter bereits darüber geklagt wurde, dass die Homöopathiekritiker angesichts der aktuellen Krise keine Zeit / Lust / Möglichkeit hätten, “gegen Homöopathie zu hetzen”. Wirklich? Nun, wir wollen ja niemand enttäuschen!

Nehmen wir als, allerdings eindringliches, pars pro toto einmal die Ausführungen auf der Webseite des Landesverbandes Bayern des Zentralvereins homöopathischer Ärzte. Dort äußert man sich wie folgt (nachdem man die nachfolgenden Ausführungen vorab als “keinen Stoff für Diskussionen in der Öffentlichkeit” qualifiziert hat):

“Diese Klarstellung bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir als homöopathische Ärzt*innen diese Pandemie nicht aufmerksamst verfolgen, eventuellen Patienten begleitende, homöopathische Behandlung anbieten, Therapieverläufe protokollieren, sammeln und untereinander austauschen sowie mit zurückliegenden Epidemien und historischen homöopathischen Behandlungsergebnissen vergleichen sollten. Das setzt aber zunächst voraus, dass ein medizinisch und homöopathisch hochkarätiges Expertengremium die fachlichen Grundlagen schafft und analysiert, welche der aktuell bereits auf dem „Markt der Möglichkeiten“ gehandelten Optionen tatsächlich plausibel und stringent nachvollziehbar sind oder wo unter Umständen noch Bedarf besteht für weitere „Hausaufgaben“. In diesem Zusammenhang sollten beispielsweise auch genügend Daten über tatsächliche schwere Corona-Verläufe vorliegen, um ausreichend sicher einen Genius epidemicus im homöopathischen Sinne erkennen zu können. Solche Bemühungen gibt es bereits, es handelt sich aber soweit erkennbar um Einzel-Meinungen. Auch die flächendeckende homöopathische Kompetenz in der Anwendung passender homöopathischer Arzneien wäre vielleicht erst noch zu prüfen.”

Einen genius epidemicus im homöopathischen Sinne! Lassen wir mal die Erheiterung des “Unverständigen” beiseite und fragen uns, was soll das denn sein? Das ist nichts anderes als der Versuch, ohne Arzneimittelprüfungen am Gesunden (komisch, ich bin sicher, dass die Leitsymptome einer SARS-CoV2-Infektion in irgendeinem Repertorium doch zu finden sein müssten…) über das Zusammentragen von Fallberichten herauszufinden, wo der “homöopathische Angriffspunkt”, der “Geist der Epidemie” liegen könnte. Und wann wäre das? Offenbar, wenn die Einzel-“Meinungen” sich zur Mehrheits-“Meinung” verdichten… Was die sozusagen zielgerichtete Anwendung des “post hoc ergo propter hoc”-Fehlschlusses erfordert, also dass aus einer “Heilung” zeitlich nach der Einnahme irgendeines Homöopathikums (unter Umgehung der Arzneimittelprüfung) auf die spezifische Wirksamkeit des Mittels geschlossen und es in Repertorien bzw. Materiae medicae aufgenommen wird.

Ich kann mir an dieser Stelle einfach nicht verkneifen, hierzu ein wenig abzuschweifen. Viele solcher “Ergebnisse” sind nur einmal und häufig unter geradezu grotesken Umständen aufgetreten und trotzdem in den Materiae medicae gelandet. Eines der Beispiele liefert uns Fritz Donner, der Chronist der Überprüfungen der Homöopathie durch das Reichsgesundheitsamt zwischen 1936 und 1939, als vorher überzeugter homöopathischer Arzt ein unverdächtiger Zeuge.
Donner berichtet die Geschichte der “Karriere” des gar nicht so unbekannten Mittels “Lac caninum” (Hundemilch), angeblich ein bewährtes Mittel u.a. gegen Diphterie. Und wie kam man darauf? Nach Donner geht dies zurück auf eine Amerikanerin, die ein paar Globuli Lac caninum CM (also eine Verdünnung von 1:1001.000  !)  eingenommen hatte, danach zwei Jahre an Delirium tremens litt (was wir nun nicht diesen Globuli zuschreiben wollen) und einmal während dieser Zeit leichte Halsschmerzen hatte, die von einem Arzt als Diphtherie diagnostiziert worden waren. Das reichte aus, um Lac caninum als homöopathisches Mittel gegen Diphterie einzustufen. Als weitere Beispiele kann man auch diejenigen Mittel ansehen, die höchst erstaunlicherweise als “allopathische” UND als homöopathische Mittel in gleicher Richtung wirksam sein sollen, das bekannteste dieser Beispiele ist sicher Arnica.

Und auf eine vergleichbare “Erkenntnis” (aka Mehrheitsmeinung) wartet man offenbar beim Zentralverein homöopathischer Ärzte, der – wie das nun mal bei Homöopathen so ist – Kausalität Kausalität sein lässt und dem notfalls nicht einmal eine Korrelation wichtig ist, kommt es nur zu irgendwelchen vordergründigen “Erfolgen”, die dann dem “genius epidemicus” zugeschrieben werden.

Einmal mehr ein Verstoß gegen konstituierende Teile von Hahnemanns Lehre, der die Arzneimittelprüfung als unabdingbar innerhalb seines Systems, als “Evaluierung” des Ähnlichkeitsprinzips für den Fall des einzelnen Mittels, postuliert hat.  Es gibt manche Variante der Homöopathie, die sich wenig bis nicht um das Gebot der Arzneimittelprüfung schert. Ist Derartiges aber nicht zu allerletzt zu erwarten von ärztlichen Homöopathen, die sich der Hahnemannschen Lehre und ihren zentralen Postulaten doch besonders verpflichtet sehen? Aber ich scheine mir da immer noch Illusionen über die Pragmatismusfähigkeit der Homöopathen zu machen.

Aber richtig interessant wird es erst mit dem darauffolgenden Schlussabsatz:

“Diese und ähnliche Überlegungen sind sicher kein Stoff für Diskussionen in der Öffentlichkeit, sondern sollten zunächst einem engeren Kreis kompetenter Kollegen*innen im Sinne der Konsensfindung vorbehalten sein. Sollte sich dann zeigen, dass Homöopathie womöglich auch bei schweren Fällen als „Super-Placebo“ wirkt und Leben retten kann, dann könnte man im nächsten Schritt auch darüber nachdenken, ob Corona tatsächlich einer Placebo-Therapie zugänglich sein könnte oder ob Homöopathie nicht doch „über den Placebo-Effekt hinaus“ Wirkung entfalten kann… .”

Nun, was soll ich da noch kommentieren? Wie anders als das komplette Zugeständnis, dass Homöopathie eben NICHT über den Placebo-Effekt hinaus wirkt, soll man den Satz verstehen “… ob Homöopathie nicht doch „über den Placebo-Effekt hinaus“ Wirkung entfalten kann… .”? (Ganz zu schweigen von dem Hinweis auf ein “Super-Placebo – das mag die Homöopathie durchaus sein – und der Abschweifung, “oder” ob Corona einer Placebo-Therapie zugänglich sein könne.) Und nein, das kann ich nicht als Ironisierung sehen. Drei Punkte nach einem Text dienen dazu, um etwas als Möglichkeit im Raum stehen zu lassen – eben die vorher getätigte Aussage, dass künftig vielleicht herauskommen könnte, dass Homöopathie über Placebo hinaus wirkt. Es hätte schon Anführungszeichen und eines Zwinkersmileys bedurft, mindestens, um dieser Aussage den Anstrich von Ironie oder Sarkasmus zu geben. Deshalb nehme ich sie so, wie sie dort steht, und bedanke mich für die Einsicht.


Bild von Mario Hofer auf Pixabay

Bodensatz der Verblendung – Homöopathie in Corona-Zeiten

In der gegenwärtigen Situation, geprägt vom Diskurs zu SARS-CoV19 / Covid-19, tun sich Abgründe der Pseudomedizin auf, die man angesichts der aktuellen Zurückhaltung führender homöopathischer Vereine und Verbände eigentlich nicht mehr erwartet hätte. Nachdem anfänglich haarsträubende Statements aus vielen Quellen die Runde machten, bei denen homöopathische Mittel zu Prophylaxe und Behandlung von Covid-19 “empfohlen” wurden, gab es eine Reihe von Kurskorrekturen. So wurde die frühere Vorsitzende des Zentralvereins homöopathischer Ärzte, die in einer “Patientenmitteilung” zu Arsenicum album C30 gegen das Virus geraten hatte, von ihrem eigenen Verein komplett desavouiert, indem dieser kurz darauf mitteilte, dass eine homöopathische Behandlung oder Prävention dieser neuen Erkrankung nicht angezeigt sei.

Ähnliche Kehrtwenden kann man bei den Verlautbarungen des Verbandes klassischer Homöopathen Deutschlands – VKHD – (in dem vorwiegend homöopathisch tätige Heilpraktiker organisiert sind) beobachten. Ein aktuelles Statement spricht nunmehr davon, dass “auch die Homöopathie auf keine validen Daten verweisen [kann], die auf eine zuverlässig zu erzielende Heilung dieser Krankheit mit potenzierten Arzneimitteln hinweisen. Dass es in der Vergangenheit glaubwürdige Berichte über die erfolgreiche homöopathische Bekämpfung von epidemisch verlaufenden Krankheiten gab, ändert an der aktuellen Situation nichts.” Und o Wunder – die Deutsche Homöopathie Union (DHU) twittert dieses Statement sogar…

Ich liebe solche Formulierungen in ihrer stringenten Selbstentlarvung. Denn

  • erstens hat die Homöopathie zu rein gar nichts valide Daten vorzuweisen,
  • zweitens ist das “auch” in dem ersten Satz natürlich als Seitenhieb auf die “hilflose Schulmedizin” zu verstehen,
  • drittens wird gleich wieder eingeschränkt insofern, als es “glaubwürdige Fallberichte” über die homöopathische Bekämpfung von epidemisch verlaufenden Krankheiten gebe; damit sind z.B. Hahnemanns Erfolge bei der Leipziger Choleraepidemie 1813 gemeint, wo ohne Zweifel mehr homöopathisch “behandelte” Patienten überlebten, weil Hahnemann auf Hygiene achtete und den Patienten ausreichend zu trinken gab, während die damalige Mainstream-Medizin mit der Verweigerung von Trinken, der Gabe von Brech- und Abführmitteln und erbärmlichen hygienischen Verhältnissen ihren Patienten den Rest gab – nur hatte das mit einer spezifischen Wirkung der Homöopathie nichts zu tun (mehr zu Homöopathie und Epidemien hier),
  • was “durch die Blume” nichts anderes heißen soll, als dass man das Potenzial von Homöopathie in Bezug auf Covid-19 eben “noch nicht” entdeckt habe – das gleiche hilflose Narrativ, das auch immer für die Homöopathie im Großen vorgebracht wird.

Der Versuch, schlüssig zu erklären, dass eine Methode ohne Wirksamkeitsnachweis für eine bestimmte Anwendung über keinen Wirkungsnachweis verfügt, ist schon ein wenig halsbrecherisch. Man muss dann nur richtig lesen. Immerhin scheuen die genannten Vereinigungen sichtlich davor zurück, sich Ärger einzuhandeln und / oder sich ordentlich zu blamieren. Immerhin. Eine gewisse Anerkennung dafür sei ihnen nicht versagt.

Das heißt aber noch lange nicht, dass nicht genug Selbstberufene bar jeglicher Einsicht weiterhin das Informationsuniversum bevölkern, um das, was sie als “Naturheilmethoden” zu bezeichnen pflegen (einschließlich Homöopathie natürlich) propagieren. Nun, wir sind ein freies Land und niemand kann sie daran hindern. Auch wenn es wehtut zu sehen, wie Menschen auf diese Art und Weise einmal mehr mit dem Narrativ des Sanften und Natürlichen in eine antiwissenschaftliche Haltung gelockt und dazu noch mit dem schönen Schein der autonomen Patientenentscheidung verführt werden. Zumal in Zeiten ohnehin großer Verunsicherung.


Soweit ich das sehe, ist Spitzenreiter in dieser Liga wohl der derzeit (vom 19. bis zum 23.03.2020) laufende “Corona Virus Congress – Der homöopathisch gesunde Umgang mit Krankheiten der heutigen Zeit“ (Webseite inzwischen erloschen / überschrieben), eine Online-Veranstaltung, zu dem man sich zu dem Zweck anmelden kann, täglich mit sogenanntem Infomaterial aus “Expertenhand”, nämlich mit online abrufbaren Interviews der versammelten Expertenschaft, versorgt zu werden (dauerhafter Zugriff ist gegen einen gewissen Obulus möglich). Dabei darf man sich darauf freuen, “eine Medizinwende zu unterstützen, in der die Allopathie und die Komplementärmedizin ihren Platz nebeneinander finden dürfen – zum Wohle der Menschheit und unseres Planeten”. (Kleiner gings wohl nicht. Und zum x-ten Male: Allopathie existiert nicht mehr, das war die Bezeichnung für die “konventionelle” Medizin zu Hahnemanns Zeiten, die völlig anders charakterisiert war als die heutige wissenschaftliche Medizin. Und was bitte ist Komplementärmedizin – eine ewige Frage?)

Dort versammelt sich eine illustre Gesellschaft von Vertretern der homöopathischen Glaubensrichtung. Bekannte wie auch Unbekanntere. So mancher Bewohner des Psiram-Universums findet sich dort (Wolfgang Scheel, das Ehepaar Michaela Dane und Miguel Corty Friedrich, bekannt durch ihre “Heptopathie” , Rosina SonnenschmidtJeremy SherrRavi Roy und Carola Lage-Roy und der omnipräsente Rolf Kron). Manch künftiger Anwärter auf einen Psiram-Eintrag dürfte unter den restlichen Experten sein. Eine gewisse Krönung erfährt der “Online Kongress” zudem durch Prof. Dr. E.S. Rajendran, zu dem uns die Kongress-Webseite mitteilt:

“Sensation, endlich lassen sich die Inhaltsstoffe in sämtlichen Homöopathieschen Mitteln nachweisen. Prof. Rajendran, der bekannte Lehrer, Praktiker und Wissbegieriger Forscher, hat sich über die wahre Natur der homöopathischen Potenzen erkundigt und der Welt die Wahrheit der Homöopathie offenbart.” (Orthografie wie im Original)

Hm. Ich beschäftige mich wirklich reichlich mit der Homöopathie, mir ist aber dergleichen bislang nicht untergekommen. Besonders würde mich interessieren, wo der Herr Professor Doktor sich denn über die wahre Natur der homöopathischen Potenzen erkundigt hat? Also ehrlich, das bewegt mich jetzt schon sehr! Ob er einen Blick in die Akasha-Chronik erhascht hat … ?

Aber Sarkasmus beiseite – natürlich weiß ich, was mit dieser verschwurbelten Mitteilung über die Verdienste von Prof. Rajendran gemeint ist: Er gehört zu den “High Dilution-Forschern”, unter diesen zu der besonderen Spezies, die glauben, die Wirksamkeit von homöopathischen Hochpotenzen durch den Nachweis von Nanopartikeln in diesen Dilutionen erbracht zu haben. Mehr zum Nanopartikel-Irrweg gibt es hier und hier.

Homöopathie ist das beherrschende Thema des “Kongresses”, sie bildet allerdings in der Gesamtschau mit allerlei anderen Methoden aus dem pseudomedizinischen Universum ein eklektizistisches Kaleidoskop, das Hahnemann vermutlich die Zornesröte ins Antlitz getrieben hätte. Von Alchemie über Spagyrik, fernöstlichen Einschlägen und Ernährungsmythen bis eben zur High Dilution-Forschung findet man alles Mögliche und Unmögliche. Woher und wohin der Wind weht, zeigt sich zudem am Themenspektrum:

  • Epidemien aus epigenetischer Sicht (Naja, fängt eben beides mit “epi” an…)
  • Wie die indische Gesundheitspolitik mit dem Coronavirus umgeht? (Spoiler zum Link: Das unsägliche AYUSH-Ministerium ist nicht “die indische Gesundheitspolitik)
  • Was wir tun können, um uns nicht von der Hysterie (!) und von anderen Menschen anzustecken?
  • Die wichtigsten homöopathischen Arzneien, die bei einer Corona-Ansteckung helfen können (siehe Einleitung – der Verblendungs-Indikator schlechthin)
  • Die homöopathische Grippeprophylaxe (es gibt keine homöopathische Prophylaxe – auch nicht für “Grippe” – vermutlich mal wieder keine Differenzierung zwischen Influenza und grippalem Infekt)
  • Die 10 wichtigsten homöopathischen Grippe(?)mittel (samt und sonders ohne jeden belegbaren Wirkungsnachweis)
  • Ansteckungskrankheiten aus “ganzheitlicher” Sicht (Buzzword, das nicht fehlen darf)
  • Der Sinn von Epidemien (Oha – hier dürfte die Anthroposophie und / oder andere Esoterik hereinspielen)
  • Der (sic!) Coronavirus als Entwicklungschance? (wie vor, kein Zweifel)
  • Naturheilkundliche Ergänzungsmöglichkeiten (sehr pauschal, aber geben wir dem mal Kredit)
  • Orthomolekulare Medizin als Stärkung des Immunsystems (OM – “a parody of nutritional science”)
  • Was schwächt unser Immunsystem? (zum Beispiel das Durchmachen von unbehandelten (= homöopathisch behandelten) und nicht durch Impfung verhinderten Infektionskrankheiten)
  • Stärkende Lebensmittel und Pflanzen für ein kraftvolles Immunsystem (Schön wärs) 
  • Banerji Methoden zur viralen Behandlung (auch das noch…)
  • Paracelsus Methoden für die Prävention von Atemwegserkrankungen (Paracelsus war der große Medizinreformer der Renaissance, der mit der seit der Antike angewendeten Vier-Säfte-Lehre (Galen) ins Gericht ging – was seine eigenen vorwissenschaftlichen Methoden und Mittel nicht richtiger macht).

Die Fragen genügen, auf die Antworten der Kongressexperten können wir wohl verzichten.

Wir sehen hier eine illustre Versammlung von Homöopathen jeglicher Couleur, die nicht einmal von den offiziellen Stellungnahmen des Zentralvereins homöopathischer Ärzte und des Verbandes klassischer Homöopathen zu SARS-CoV19 beeindruckt ist und aus dem aktuellen Anlass gleich die Bandbreite auf die gesamte Virologie und Epidemiologie ausweitet. Das gibt schon wieder einmal zu denken.


Viele der hier Versammelten sind Heilpraktiker. Die Behandlung von Infektionskrankheiten ist ihnen verboten (worauf der VKHD in seinem oben verlinkten Statement nachdrücklich hinweist). Es sei die Frage erlaubt, ob ihnen damit Ratschläge zu Prävention und Behandlung von Infektionskrankheiten nicht auch untersagt sein müssten? Nicht nur in diesem Fall stößt man immer wieder auf Webseiten und vor allem Vortragsveranstaltungen von Heilpraktikern, die sich mit Infektionskrankheiten befassen. Kürzlich habe ich versucht, in einem solchen Fall zu intervenieren (es handelte sich um einen auf der Webseite einer Gemeinde angekündigten Heilpraktiker-Vortrag für Familien zum Thema Borreliose, offenbar ein Lieblingsthema der Zunft – irgendeine Antwort habe ich nicht bekommen.)

Es schmerzt, auf der einen Seite (bedingungslos) für die Meinungsfreiheit einzutreten und auf der anderen Seite zu realisieren, dass man gegen einen solchen Irrsinn wie beispielsweise diesen “Online Corona Kongress” nicht wirklich etwas unternehmen kann. Es bleibt die Aufklärung – die hat aber offensichtlich nach wie vor im pseudomedizinischen Paralleluniversum einen schweren Stand… Ja, die Meinungsfreiheit. Sie wird zum Problem, geht es in die Richtung, dass durch ihre Inanspruchnahme Schäden bei anderen Menschen provoziert werden.

Manchmal bin ich schon einigermaßen verzweifelt, nach Jahren der Pseudomedizinkritik mit dem Schwerpunkt Homöopathie. Deshalb ist – man möge mir verzeihen – dieser Beitrag wieder mal zu einem Rant geronnen. Ein Ausweg? Ich würde mir endlich, endlich wünschen, dass die medizinische Gemeinschaft nicht mehr nur müde und desinteressiert abwinkt, wenn von Homöopathie und Co. die Rede ist, sie womöglich auf wirtschaftlichen Druck hin in der Praxis oder der Klinik sogar noch einführt. Natürlich ist die Homöopathie wissenschaftlich erledigt, das muss aber mit der Autorität der medizinischen Szene auch einmal deutlich verlautbart werden! Ich würde mir wünschen, dass – ähnlich wie dies in Frankreich vor wenig mehr als zwei Jahren geschehen ist – sich die praktische wie die forschende Medizin endlich einmal zu Wort meldet und der Öffentlichkeit unmissverständlich klarmacht, wo die Grenze zur Pseudomedizin liegt. Bitte, liebe Mediziner, liebe Fachgesellschaften, liebe AWMF, liebe Ärztekammern, macht das zuerst für die Homöopathie. Denn sie ist nicht nur das “Zugpferd” der Pseudomedizin, das oft in noch schlimmere Untiefen führt, sondern die Sachlage ist selten klar: es gibt bei der Homöopathie keine Grauzone – sie ist jeden Beweis für eine spezifische Wirksamkeit schuldig geblieben. Beherzigt endlich einmal das Statement des EuroScience Open Forum (ESOF) aus dem Jahre 2018, das mit wünschenswerter Deutlichkeit verlautbarte:

“Homöopathie ist die absurdeste von allen alternativen Methoden der Medizin”.


PS – Darf man verblüfft sein, unter den “Partnern” des Online-Kongresses ausgerechnet den oben vorsichtig lobend erwähnten Verband klassischer Homöopathen Deutschlands zu finden? Wie das, angesichts des eingangs angeführten Statements zu SARS-CoV19? Kognitive Dissonanz scheint eine Voraussetzung für die Ausübung der Homöopathie zu sein…  

UPDATE: Der VKHD twitterte am 20.03.2020 um 11.06 Uhr: “Unser Logo wurde in diesem Fall ohne unser Einverständnis und offenbar aufgrund einer Nachlässigkeit verwendet und nach unserer Intervention mittlerweile (genauer: heute vormittag) entfernt.” 

Weniger verblüfft bin ich, unter den Partnern auch den nicht unbekannten Bundesverband Patienten für Homöopathie vorzufinden, der sich mit Kritik an den Homöopathiekritikern (ich sage es mal nett) seit einiger Zeit ebenso hervortut wie mit intensiver politischer Lobbytätigkeit. (Soweit mir bekannt ist, hat der BPH sich bislang nicht zu dieser “Partnerschaft” geäußert. Ggf. folgt natürlich auch hier ein Update.)

UPDATE: Ach so, und die Homöopathen ohne (jede) (Scham)Grenzen, die präsentieren sich natürlich auch als “Partner” der Veranstaltung. Ganz vergessen…
Und damit es nicht so leer aussieht, setzt der Veranstalter auch noch Unterdomains seiner eigenen Website als “Partner” ein, die nur einen 404-Error erzeugen. Versucht mal, unter https://unitedtoheal.com/www.gluecksknirpse.de oder über den “Glücksknirpse”-Link auf der Veranstalterseite ganz unten (Links erloschen bzw. überschrieben).

Hier übrigens erfahren wir mehr zum Veranstalter der ganzen Sache. Ich bin nicht geneigt, ihm seine auf der Seite zum Ausdruck kommende empathische Einstellung abzusprechen. Vielmehr bedauere ich, dass jemand mit solchem Potenzial und solcher Zielstrebigkeit ausgerechnet auf den Pfad sinnbefreiter Pseudomedizin geraten ist.


Bild von ΓΙΑΝΝΗΣ ΚΟΡΕΝΤΖΕΛΟΣ auf Pixabay

Immer langsam, Securvita!

Irgendwas stimmt hier doch nicht …

Die Securvita, eine „alternativen“ Methoden eher zugeneigte GKV-Kasse, echauffiert sich in einer Veröffentlichung [1] namens „Karriere einer Falschmeldung: Wie eine fehlerhaft interpretierte Studie der Charitè von Gegnern der Homöopathie in Politik und Medien missbraucht wird“ über – ja über was eigentlich? Darüber, dass „Homöopathie-Gegner hier – aus Absicht oder Unkenntnis – offensichtlich ein Problem mit der wissenschaftlich sauberen Faktenlage [haben].“ Was Wunder, dass dies von einschlägigen homöopathischen Verbänden, voran die Stiftung Natur und Medizin, u.a. in den Sozialen Medien aufgegriffen wird.

Naja. Was sind hier „Homöopathie-Gegner“? Etwas pauschal, finde ich. Rekurriert wird auf Papiere aus dem politischen Raum. Jedenfalls kann doch wohl nicht mit den „Homöopathie-Gegnern“ die wissenschaftlich orientierte Homöopathiekritik gemeint sein kann, wie sie vom Informationsnetzwerk Homöopathie vertreten wird. Denn diese hat niemals den von der Securvita einigermaßen vehement beanstandeten (durchaus nicht zutreffenden) Schluss aus der „Studie der Charité“ gezogen, Homöopathie sei „teurer“ oder „zu teuer“ und sie müsse deshalb aus dem Leistungskatalog der GKV eliminiert werden. Natürlich handelt es sich bei der „Studie der Charité“ um die vielzitierten Arbeiten von Ostermann J, Witt C et al. aus den Jahren 2015 und 2017, die aufgrund von Daten der Techniker Krankenkasse die Kostenverläufe homöopathieaffiner und nicht homöopathieaffiner Patientengruppen verglichen. [2] [3]

Dass die von der Securvita beanstandete Schlussfolgerung aus diesen Arbeiten nicht zum Argumentationsrepertoire des INH gehört, lässt sich leicht belegen.

Beispielsweise mit einem Schreiben des INH an die Techniker Krankenkasse, in dem es heißt:

„… sondern suchen vielmehr, Ihre Ertragsposition durch das Einwerben „günstiger Risiken“ zu verbessern. Was sich, wenn man einer entsprechenden Untersuchung unter Ihren Mitgliedern glaubt, als Trugschluss erwiesen hat“.

Worauf wird abgehoben? Auf „Homöopathie ist zu teuer?“ Ersichtlich nicht, sondern auf eine Einschätzung der unternehmerischen Gesamtprognose des „Einwerbens“ gut zahlender und gleichzeitig „gesundheitsbewusster“ Mitglieder, auf die “Ertragsposition”.

Ein Informationsbeitrag des INH zu den Ostermann-Witt-Studien [4] führt – unter dem im Grunde schon abschließend klarstellenden Titel „Nichts ist immer zu teuer“ – in gleichem Tenor aus:

„Die homöopathieaffine Gruppe, die Hälfte der Gesamtstudienteilnehmer, verursachte also über 18 Monate rund 1.350 Euro pro Kopf Mehrkosten gegenüber den Patienten der Gruppe ohne Inanspruchnahme von Homöopathie.“
„Natürlich sind mögliche Ursachen hierfür über eine gewisse Bandbreite hinweg denkbar. Es ist aber zu berücksichtigen, dass durchweg die Krankenkassen mit ihren Satzungsleistungen eine jüngere, gesündere Klientel ansprechen wollen und sich natürlich von dieser Gruppe auch durchweg niedrigere Aufwendungen versprechen. Dies scheint offensichtlich nicht zu funktionieren.“

Wo steht hier oder ist herauszulesen, dass Homöopathie „teurer“ oder „zu teuer“ sei und deshalb zu streichen sei?

Weiter geht es in aller Deutlichkeit mit einem Schreiben des INH an die Siemens BKK vom 8. Januar 2018 [5], als Antwort darauf, dass deren Vorstandsvorsitzender seinerseits die Erstattungsdiskussion mit dem „Peanuts“-Argument beenden wollte:

„Es sollte genügen, darauf zu verweisen, dass die Herausnahme der Homöopathie aus dem britischen öffentlichen Gesundheitssystem mit dem ausdrücklichen Statement des NHS (National Health Service) verbunden war, es gehe -nicht einmal nachrangig- um eine Kostenersparnis, sondern vielmehr um „fehlende klinische Wirksamkeit“ und die daraus folgende „geringe Kosteneffektivität“, also um das nicht vorhandene Aufwand-Nutzen-Verhältnis. Denn: Nichts ist immer zu teuer. Aus den Stellungnahmen der übrigen staatlichen Stellen, die im Jahre 2017 die Homöopathie aus ihren Gesundheitssystemen entfernt haben (Australien und Russland) ist uns auch nicht bekannt, dass die Kosten eine Rolle, geschweige denn eine entscheidende, gespielt haben, ebensowenig wie beim oben zitierten Statement des Wissenschaftlichen Beirats der Europäischen Wissenschaftsakademien (EASAC).  […]
Jeder Euro an Beitragsgeldern verlangt unter dem Aspekt der Redlichkeit gegenüber den Mitgliedern Sorgfalt bei der Verwendung. … Aber dies betrifft nicht unser Kernanliegen.

Auch der Offene Brief des INH an Minister Spahn zu seinem Homöopathie-Statement vom September 2019 [6] behandelt den Kostenaspekt nur als einen von vielen Punkten – mit der – die bisherige Position nur nochmals bestätigenden – Aussage:

„Nach den Untersuchungen von Witt/Ostermann verursachen homöopathieaffine Patienten bei der Krankenversicherung durchweg höhere Kosten.“

Homöopathie „zu teuer“? Kein Wort.

Unmissverständlicher kann die Position der Homöopathiekritik kaum dargestellt werden. Nichts davon scheint die Securvita zur Kenntnis genommen zu haben, wenn sie sich darin gefällt, pauschal „den Homöopathiegegnern“ zu unterstellen, diese argumentierten mit einem „zu teuer“ und fehlinterpretierten damit Ostermann/Witt et al. .


Der Kostenaspekt, wie auch immer betrachtet, spielt für die Homöopathiekritik bei der Frage, ob man einer ohnehin schon fehlinformierten Patientenschaft eine Methode wie die Homöopathie auch noch als erstattungsfähig seitens der gesetzlichen Krankenkassen präsentieren soll, ersichtlich kaum eine Rolle. Die Befassung der Homöopathiekritik mit diesem Aspekt wurde durch die damals beteiligten GKV-Kassen selbst ausgelöst, die ihrerseits – wie Minister Spahn heute – mit dem Scheinargument der marginalen Kosten auftraten, um die Debatte zu beenden. Zu keinem Zeitpunkt wurde aufgrund der Ostermann-Witt-Studien von der wissenschaftlichen Homöopathiekritik die Schlussfolgerung gezogen, Homöopathie habe deshalb keinen Platz in der GKV, weil sie „zu teuer“ sei.

Und – die Securvita mag es wahrscheinlich kaum glauben – die Kritiker wissen sehr wohl, dass die Mehrkosten laut Studie nicht durch Kosten “für Homöopathie” ausgelöst wurden – das kann man nämlich in den Arbeiten nachlesen. Sie sind vielmehr auf überdurchschnittliche Kosten infolge von Krankschreibungen zurückzuführen. Was die Grundannahme der „Werbung“ mit Homöopathie bei den Kassen, man werbe junge, gesunde und gutverdienende Mitglieder ein, zumindest in einem Aspekt mit einem Fragezeichen versieht.

Die Kassen gehen davon aus, dass selbst bei Inanspruchnahme von Homöopathie und damit entstehenden Mehrkosten die gesundheitsbewusste und eben homöopathieaffine Klientel, die zudem mit “gutsituiert” assoziiert wird, Beiträge zahlt, die sich an der Obergrenze der Beitragsbemessungsgrenze orientieren. Hiervon erwartet man offenbar insgesamt einen Positivsaldo auf der Einnahmeseite (“Verbesserung der Ertragssituation”). Zum einen ist dies eine auf längere Zeiträume gerichtete Spekulation, die weder belegt noch widerlegt ist – auch nicht durch das Ostermann-Witt-Papier und erst recht nicht durch die Ausführungen der Securvita. Die Spekulation richtet sich offenbar darauf, dass das Gesundheitsbewusstsein dieser Gruppe sich auch darin niederschlagen wird, dass sie insgesamt (evtl. trotz zusätzlicher Homöopathie) jedenfalls nicht wesentlich mehr GKV-Leistungen als der Durchschnitt der Versicherten in Anspruch nehmen werde. Wenn Ostermann-Witt einen Schluss nahelegen, dann den, dass eine solche Spekulation sehr gewagt ist und es Variablen in der Gleichung gibt, die man am Anfang nicht bedacht hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Als letzter Beleg dafür, dass das Statement der Securvita an der Position der Homöopathiekritik vorbeigeht, soll der Beitrag von Dr. Natalie Grams und Dr. Christian Lübbers „Warum Homöopathie keine Leistung der solidarisch finanzierten Krankenkassen sein sollte“ [7] angeführt werden. Diese Arbeit begründet umfangreich aus medizinwissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Sicht, dass und warum die Erstattung von Homöopathie durch gesetzliche Krankenkassen eine unvertretbare Fehlleistung ist, die die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung schwächt, das Vertrauen in die wissenschaftsbasierte Medizin untergräbt und mit der Aufgabe der Krankenkassen unvereinbar ist, eben diese Gesundheitskompetenz der Patientenschaft zu stärken. Der Kostenaspekt findet sich lediglich am Rande in den Schlussbemerkungen, und zwar mit einem Tenor, der wiederum das glatte Gegenteil dessen darstellt, was die  Securvita bei den „Homöopathiegegnern“ konstatieren will.

Die Krankenkassen gehen davon aus, ihnen werde ein ökonomischer Vorteil zuwachsen, wenn es ihnen gelingt, mit dem Angebot von Homöopathieerstattungen eine junge, möglichst gesunde und zudem gesundheitsbewusste Klientel zu binden. Das mag immerhin noch ein rationaler Ansatz sein, der allerdings eher zu einem Handelsunternehmen als zu einer Krankenkasse eines Solidarsystems passen dürfte. Jedoch ist längst mit hinreichender Sicherheit klar, dass diese Rechnung letztlich nicht aufgeht. Nach fundierten Untersuchungen in Zusammenarbeit mit der Techniker Krankenkasse verursachen Homöopathie-Patient*innen bei der GKV durchweg höhere Kosten als eine nicht auf Homöopathie setzende Vergleichsgruppe.

Auch hier wird nicht auf „Homöopathie ist teurer / zu teuer“, sondern genau auf die Einschätzung abgehoben, „unter dem Strich“ würde eine so agierende Kasse einen „Wettbewerbsvorteil“ erlangen – und zudem auf das Deplatzierte einer solchen Überlegung bei einer Kasse des solidarischen GKV-Systems hingewiesen. Das Fazit der Arbeit verdeutlicht dies in aller Klarheit:

Das deutsche öffentliche Gesundheitssystem ist kein Markt. Es wurde als Solidarsystem konzipiert, das alle nach ihrer Leistungsfähigkeit be- und nach ihrer Bedürftigkeit entlastet. Es ist eine falsche und abwegige Vorstellung, Homöopathie als eine Methode ohne jeglichen validen Wirkungsnachweis aus diesem System heraus zu finanzieren, etwa weil ein Teil der Versicherten es so wünscht und Krankenkassen sich davon Wettbewerbsvorteile erhoffen. Der im Gesamtrahmen geringe Betrag für Homöopathie spielt angesichts der anderen beherrschenden Aspekte keine entscheidungsrelevante Rolle.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht für das Prinzip eines Wettbewerbs zwischen den Leistungsträgern gedacht. Der Fokus auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des öffentlichen Gesundheitswesens verstellt allzu oft den Blick darauf, dass Patientenwohl und Patientenschutz die primären Ziele sind. Diese Aspekte zugunsten einer reinem Wettbewerbsdenken geschuldeten Maßnahme hintenan zu stellen, die zudem nicht einmal ökonomisch sinnvoll scheint, (
Anm. UE: das heißt nicht „zu teuer“) kann nicht Gegenstand nachhaltiger Gesundheitspolitik sein. Solche Schräglagen, bedingt durch Denken in Kategorien wie Kommerz, Privatisierung, Gewinnmaximierung oder auch Wettbewerb (Maibach-Nagel 2019) gefährden das System im Kern, beeinträchtigen die Gesundheit und kosten im schlimmsten Fall Menschenleben.”


Offenbar gerät tatsächlich in manchen Chefetagen von GKV-Kassen in Vergessenheit, dass man – bei aller Eigenständigkeit – Teil eines gemeinsamen Solidarsystems ist. Einst verlautbarte im Rahmen der Homöopathiedebatte die Chefin einer nicht ganz kleinen Kasse, wenn die Versicherten es wünschten, würde sie auch eine Schokolade pro Tag bezahlen Leider kein Scherz – sondern eine Selbstvergessenheit sondergleichen..

Anderen Kassen durch gezieltes Anwerben gutverdienender Klientel mittels Leistungen, die aus einer Reihe von Sachgründen nicht in ein Solidarsystem gehören, das Wasser abzugraben, kann ohnehin eigentlich nur als eine Form der Kannibalisierung des Systems betrachtet werden. Lässt der Gesetzgeber so etwas zu, betritt er schwankendes Terrain und sollte sich deshalb vor der Falle massiver Fehlanreize hüten – ich überlasse es dem Leser, zu beurteilen, ob dies beim Satzungsleistungskatalog 2012 (3. GKV-Versorgungsstrukturgesetz) wohl der Fall war. Hinzu kommt, dass bei der Vielzahl der Kassen, die Homöopathie als ein solches „Werbemittel“ einsetzen, sich jeder Effekt eines „Wettbewerbsvorteils“ längst totgelaufen haben dürfte. Und – nicht zu vergessen – der Beitragspool der Kassen über den Risikostrukturausgleich ohnehin wieder teilweise nivelliert wird.

Man kann mit guten Gründen Verständnis dafür haben, dass die Politik den Weg zu einer Einheitskasse nicht in Erwägung zieht, wenn auch angesichts des grundsätzlich gleichen Leistungsspektrums Unterschiede (der “Wettbewerb”) nur über künstliche Eingriffe (wie das Spektrum der Satzungsleistungen) erreicht werden können. Andere Modelle sind denkbar, z.B: wie in England (NHS) oder in Österreich (Allgemeine Versicherung), wo das System zentral gesteuert wird, aber Regionalorganisationen innerhalb eines fixen Rahmens durchaus flexibel agieren können. Als Wettbewerbsmittel aber unwirksame, der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung abträgliche Mittel und Methoden zuzulassen, geht zu weit. Prof. Dr. Tina Salomon, Gesundheitsökonomin aus Bremen, schreibt beim INH dazu:

„Das Leistungsniveau in Deutschland ist sehr hoch, trotzdem gibt es aber zwischen den Regelleistungen auf der einen Seite und den nachgewiesen unwirksamen Maßnahmen auf der anderen eine Zone, in der mit Satzungsleistungen und Wahltarifen noch Gesundheits- und Lebensqualitätszugewinne zu realisieren sind und die deshalb für die Differenzierung der Krankenkassen sehr viel besser geeignet sind als die Homöopathie. In diese Zone fallen viele verhaltenspräventive Maßnahmen und damit auch der immer stärker werdende Bereich Digital Health.“ [8]


Es gibt demnach keinen Grund, sich als Vertreter der wissenschaftlich orientierten Homöopathiekritiker von der Securvita angesprochen zu fühlen. Gleichwohl – hony soit qui mal y pense, will sagen: Was bezweckt die Securvita mit diesem Rundumschlag, der sehr auffällig ein Detail der Debatte zum Inhalt massiver Bezichtigungen “der Homöopathiegegner” hochspielt? Worum handelt es sich eigentlich bei der Eloge der Securvita, der ja inhaltlich die Berechtigung nicht gänzlich abgesprochen werden kann, insofern, als ja wirklich Ostermann-Witt et al. keine “teurere Homöopathie” belegen und das offensichtlich auch nicht Ziel der beiden Arbeiten war? Ist es ein Versuch, von den wissenschaftlichen, gesundheitspolitischen und medizinethischen Kernpunkten der fundierten Homöopathiekritik abzulenken? Oder ein Versuch, „die Homöopathiegegner“ pauschal in ein schlechtes Licht zu rücken?

Ich weiß es nicht. Eine wirkliche Befassung mit den Positionen und Argumenten der wissenschaftlich fundierten Homöopathiekritik wäre der Securvita anzuraten. Dann würde man möglicherweise nicht – aus Absicht oder Unkenntnis – zu einem pauschalen Rundumschlag gegen „die Homöopathiegegner“ ausholen, wenn man glaubt, zur Debatte beitragen zu müssen. Bei der Gelegenheit könnte man sich auch gleich einmal mit der “wissenschaftlich sauberen Faktenlage” zur Wirksamkeit der Homöopathie befassen. Dann wären auch Hinweise auf das anthroposophische “Gutachten” für die Beratung bei Bündnis 90/Die Grünen obsolet, von dem die Securvita meint, es in einem Infokasten auch noch besonders herausstellen zu müssen. [9]


[1] https://www.securvita.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/auszuege_SECURVITAL/securvital_0120_WEB_24-25.pdf?fbclid=IwAR3srR9-wR_M-w20Ra4W0WPTto3No5jUxjGSG4HuLlSk0McRqh6wzIFKogk

[2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26230412

[3] http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0182897

[4] https://netzwerk-homoeopathie.info/zur-neuen-homoeopathie-kostenstudie-nichts-ist-immer-zu-teuer/

[5] https://netzwerk-homoeopathie.info/offener-brief-an-die-siemens-bkk-zu-deren-veroeffentlichung-hintergrundinformation-homoeopathie/

[6] https://netzwerk-homoeopathie.info/offener-brief-an-gesundheitsminister-spahn-zur-fortgeltung-der-erstattung-von-homoeopathie-in-der-gkv/

[7] WISO direkt ; 2019,19), Electronic ed.: Bonn: FES, 2019, ISBN 978-3-96250-422-9 – http://library.fes.de/pdf-files/wiso/15715.pdf

[8] https://netzwerk-homoeopathie.info/von-wegen-so-okay-herr-spahn-ein-gastbeitrag-von-pharmaoekonomin-prof-dr-tina-salomon/

[9] https://netzwerk-homoeopathie.info/stellungnahme-des-inh-zum-wissenschaftlichen-gutachten-betr-homoeopathie-antrag-bei-buendnis90-die-gruenen/


Bild von Steve Buissinne auf Pixabay

Tödlich!

Roter Fingerhut. Das Bienchen weiß Bescheid.

Vor kurzem veröffentlichte Werner Bartens, unermüdlicher Kritiker von Schwachstellen im Gesundheitssystem (nicht nur der Pseudomedizin), einen kritischen Beitrag zum “20 Mio. Euro-Statement” von Minister Spahn in der Süddeutschen Zeitung.

Dies nun hat jetzt eine Beschwerde beim Presserat zur Folge, von seiten der homöopathischen Fraktion, einer auch in diesem Blog schon erwähnten Vereinigung, die mit dem Anspruch einer “Patientenvertretung” auftritt. Was dazu zu sagen ist, hat Joseph Kuhn beim Gesundheits-Check bereits gesagt. (Nachtrag: Natürlich hat der Presserat die Beschwerde als unbegründet verworfen.)

Geschenkt also. Jedoch werfen auch wir noch einen Blick auf die Causa. Es ist einfach zu schön …

Bartens’ Aussage, Homöopathie habe keine Wirkung (selbstverständlich ist eine spezifische medizinische Wirkung gemeint) wird mit dem Argument angegriffen, Homöopathie habe sehr wohl eine Wirkung – sie sei nämlich durchaus geeignet, im Falle der “richtigen” Ursubstanzen und bei ordentlicher Überdosierung / längerer Einnahme toxische Wirkungen hervorzurufen. Als Replik, gar Widerlegung von Bartens’ Statement zur Wirksamkeit hat das etwa die Aussagekraft des Satzes, dass es nachts kälter sei als draußen und dass dies der Grund dafür sei, warum Häuser draußen stehen. Und natürlich schon etwas – Lächerliches.

Da sind wir doch wirklich mal wieder sprachlos. Würde es sich nicht um den Inhalt einer Pressebeschwerde handeln, wäre das wohl nur als Realsatire korrekt einzustufen.

Wir ziehen einmal den logischen Schluss aus dieser Gedankenakrobatik: Alles, was geeignet ist, in ausreichender Dosis Schaden anzurichten, ist also Medizin, weil es eine “Wirkung” hat. Und damit soll eine “Wirkung” der Homöopathie im medizinischen Sinne herbeigedeutet werden. (Oder doch nicht? Dann brechen wir hier nicht nur ab, sondern in befreiendes Gelächter aus.) Abgesehen davon, dass dies angesichts des unbezweifelbaren Umstandes, dass Bartens eine spezifische arzneiliche Wirkung gemeint hat (nur gemeint haben kann im Kontext) billigste, ja lächerliche Rabulistik ist. Oder aber das Eingeständnis sein soll, dass Homöopathie einfach irgendwelches Zeugs ist, mit dem man sich bei großer Mühe eventuell möglicherweise vielleicht vergiften kann. Aber nicht mal das ist richtig, denn:

Dass Medizin in ausreichender Dosis Schaden anzurichten geeignet ist, das ist klar, das gilt für jede Substanz, was Paracelsus schon ganz genau wusste. Aber daraus im Umkehrschluss und gleichzeitig mit dem Rückschluss auf den speziellen Fall den Schluss zu ziehen, alles, womit man sich vergiften könne sei Medizin … naja, gut, das mag eine Konsequenz daraus sein, dass die Homöopathie potenziell jeden Stoff für eine homöopathische Grundsubstanz hält. Allerdings wäre diese Gedankenakrobatik selbst Hahnemann zu weit gegangen. Vom alten Aristoteles ganz abgesehen, der käme wohl angesichts dieser „Logik“ einigermaßen aus der Fassung.

Aber versuchen wir einmal, dieses Statement der Homöopathie-Patientenvereinigung durch die Brille der Realität zu betrachten.

Erstens unterliegen Homöopathika aus bestimmten Ursubstanzen, die in der Anlage 1 zur Arzneimittelverschreibungsverordnung festgelegt sind, bis einschließlich zur Potenz D3 (unter 1:10.000) der Verschreibungspflicht. Ordentlich Belladonna D1 einwerfen, bis die Augen nur noch Pupille sind, oder die Schwiegermutter durch Arsenicum album D1 im Tee ins Nirwana schicken ist also schon deshalb nicht so leicht.

Zweitens ist diese Marge vom Verordnungsgeber extrem hoch angesetzt. Die Homöopedia des INH führt nämlich auch für homöopathisch zubereitete toxische Rohstoffe den Nachweis, dass eine Vergiftung mit Homöopathika in den Bereich des hoch, ja höchst Unwahrscheinlichen gehört. Vermutlich würde man selbst bei Tiefpotenzen eher an Zuckervergiftung (167 Globuli-Fläschchen à 10 g in D1 – ! -wären für das Erreichen einer letalen Arsendosis nötig) sterben als an der Wirkung der Ursubstanz. Schaut euch diesen Link an, ich wiederhole hier nicht alles im Detail.

Drittens hat meines Wissens der größte Homöopathiehersteller in Deutschland, die DHU, kein einziges verschreibungspflichtiges Homöopathikum gelistet.

Bei mehr Überlegung findet sich bestimmt noch einiges an Widersprüchen zur homöopathischen Leere in den Darlegungen der Pressebeschwerde. Aber tun wir ihr nicht zu viel Ehre an.

Es bleibt mal wieder die Frage, wer denkt sich solche “Begründungen” für Presseratsbeschwerden gegen Artikel aus, die so klar auf belegbaren Fakten beruhen?

Dann mal weiterhin gute Gedankenfindung.


Anmerkung:

Die Pressebeschwerde beruft sich auf empirische Nachweise zur Toxizität von Tiefpotenzen bei hoher und längerer Anwendungsdauer. Als getreuer Chronist versucht man natürlich, so etwas zu verifizieren, wenn es der Behauptende schon nicht belegt. Dazu fand sich lediglich im Internet Archive ein Artikel von Ammann, M: Arsen und Antimon in der Naturheilkunde (aus “Naturheilpraxis”). Darin findet sich ein Statement – ohne Beleg oder Quelle – des Inhalts, “gibt man Acidum arsenicosum (Arsenicum album) in der Dilution D4 3 mal täglich 5 Tropfen, erscheinen nach vier Wochen die ersten Vergiftungssymptome”. Frage: Wer hat das denn ausprobiert? Das dürfte angesichts der Modellrechnung der Homöopedia (Link siehe oben) widerlegt sein. Zumal bekannt ist, dass geringe, gar sukzessiv steigende (im Vergleich zu der genannten homöopathischen Dosis weit höhere) Gaben von Arsen über einen längeren Zeitraum zur Gewöhnung an das Gift führen und nicht zu “Vergiftungssymptomen”.


Nachtrag, 06.10.2019, 19:30 Uhr

Recht bedacht, wiederholen hier die Beschwerdeführer einen der krassesten Fehler von Samuel Hahnemann höchstpersönlich, mit dem er in der Tat sozusagen jedem Stoff eine “Wirkung” zuschrieb. Ich zitiere mich – man möge es mir nachsehen – der Einfachheit einmal selbst, um diesen Gedanken zu illustrieren:

“Von den 65 homöopathischen Mitteln, die in Hahnemanns erster Materia medica verzeichnet waren, gab es nur ein einziges Mittel, das als solches zur Heilung einer Krankheit tatsächlich geeignet war: die Chinarinde. Seine „Erfahrung“ damit setzte Hahnemann nun gleich mit zwar physiologisch wirkenden (symptomauslösenden) Mitteln wie Atropin und Belladonna, die aber nicht zur Heilung einer Krankheit geeignet sind. So geriet Hahnemann über den Trugschluss des „Naturgesetzes“ des Ähnlichkeitsprinzips zu den Symptomen statt zu den Krankheiten. Er begann, den bekannten physiologischen Effekten von z.B. Opium, Belladonna oder Atropin durch die scheinlogische Anwendung seines Simileprinzips eine kurative Wirkung auf alle Symptomatiken zuzuschreiben, die denen bei der Einnahme dieser Mittel ähnelten. Die Abkehr von einem kategorisierbaren Krankheitsbegriff (den er für den Rest seines Lebens ableugnete) war damit vollzogen. Homöopathie wurde zur Symptomentherapie, die sich um Ursprünge von Krankheiten nicht schert (was seltsamerweise umgekehrt ein häufiger Vorwurf von Homöopathen gegenüber der wissenschaftlichen Medizin ist). Eine Ironie, dass er zum Fehlschluss des Ähnlichkeitsprinzips ausgerechnet über einen Versuch mit einem der ganz wenigen Mittel kam, die zu seiner Zeit tatsächlich eine kurative Wirkung hatten!”

Aus: Hahnemanns Chinarindenversuch – Grundirrtum statt Grundlegung, veröffentlicht am 16.04.2019 auf wissenbloggt.de .

Bild von Peter H auf Pixabay

Impfen? Na Mahlzeit …

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Der nicht unbekannte „Ernährungsguru“ Udo Pollmer fühlt sich berufen, auf seinem Portal „EULE“, außerdem auch auf seinem Youtube-Kanal “Brotzeit.TV” wo sonst gelegentlich durchaus interessante, auf jeden Fall unterhaltsame Beiträge zum Ernährungsthema zu finden sind, Position in der Impfdebatte zu beziehen.

Pollmers Markenzeichen ist ein leicht sarkastisch eingefärbter Hang zur Kritik – will sagen, er steht – oft durchaus zu Recht – den stets neu durchs Dorf getriebenen Ergebnissen der „Ernährungsforschung“ recht generell kritisch gegenüber und hält damit nicht hinterm Berg. Was Wunder – die Ernährungsforschung schleppt gleich einen ganzen Sack von empirisch-methodologisch-statistischen Problemen mit sich herum, was Pollmer immer wieder auch ganz gut erklärt – von individuell geprägten Abschweifungen mal abgesehen.

Leider hält er diese Sicht- und Vorgehensweise nun auch für angemessen, um über das Impfthema zu referieren. Jedoch ist er damit auf dem Holzweg. Was Pollmer hier zum Impfthema präsentiert, ist – ich sage es mal gleich deutlich – meines Erachtens nicht nur unverantwortliches Cherrypicking, sondern zeigt insgesamt eine bestürzende Schieflage.

Hauptvorwurf, ja, ist ein haarsträubendes Cherrypicking. Pollmer führt eine Reihe von durchaus realen Anekdoten, aber auch unsinnigen Alarmmeldungen an, deren wesentliche Gemeinsamkeit darin liegt, dass sie mit dem Kontext der Impfwirklichkeit, mit den Empfehlungen der STIKO hier in Deutschland, nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun haben – ebensowenig mit der Gesamtevidenz für das Impfen. Diesen Teppich von Anekdoten und Interpretationen auszulegen und dabei mit dem Anspruch aufzutreten, das Publikum zum Impfthema informieren zu wollen, ist entweder Überzeugungstat oder ein Ausdruck von Unwissenheit oder Naivität hohen Ausmaßes.

Man fühlt sich peinlich erinnert an die vielkritisierte Fehlleistung des unsäglichen „Eingeimpft“-Film aus dem Jahre 2018, die falsche Botschaft kommt sogar durch die gedrängte Vortragsform bei Pollmer noch weit alarmistischer (oder sagen wir: weniger subtil) herüber als die Botschaft des Films.

Eine „Impfdebatte“ dürfte es, wie schon vielfach dargelegt wurde, eigentlich (so) gar nicht geben. Erst recht dürfte es einen Vortrag wie den von Herrn Pollmer nicht geben, der ohne vernünftigen Sachbezug zum Gesamtkomplex Impfen Anekdoten erzählt mit der offensichtlichen Zielsetzung, Zweifel zu säen. Wenn er dies als verdienstvoll ansieht, könnte man ihn in der Tat nur mit Unwissenheit entschuldigen.

Aber kann man das wirklich? Pollmer versteht sich als wissenschaftlich denkender Mensch und tritt auch mit diesem Anspruch auf (wobei, wie erwähnt, die Ernährungsforschung ein sehr spezielles Thema ist, das durchaus eine spezielle Sichtweise rechtfertigt). Seine Attitüde in seinem Fachgebiet ist ein genereller, aber nur bedingt konstruktiver Zweifel, mit einem deutlich destruktiven Einschlag. Zugegeben – seine Ernährungsbeiträge verfehlen gerade dadurch nicht ihre Wirkung.

Aber das hat Karl Popper nicht gemeint mit dem Prinzip des ständigen Hinterfragens. Und genau diese eher destruktive statt im wissenschaftlichen Sinne zweifelnd-objektive Grundhaltung wendet Pollmer nun auf das Impfthema an, einen Bereich, der – das ist das Einzige, was man ihm zugutehalten kann – offenbar außerhalb seiner Kompetenz liegt. Hauptindiz dafür ist sein unreflektiertes Zusammentragen aller möglichen Geschichten, die – wir erwähnten es – mit der Impfwirklichkeit in Deutschland und der überwältigenden Gesamtevidenz pro Impfen nichts zu tun haben. Pollmer macht den “Fehler” aller Impf“skeptiker“: Er stellt anekdotische Details, die es in jedem Forschungsgebiet gibt – auch in Medizin und Impfforschung, selbstverständlich –, so dar, als seien sie ein Schwergewicht, ja gleichwertig gegenüber der überwältigenden Evidenz des Impfens, der weltweit unbezweifelbar erfolgreichsten medizinischen Maßnahme, die buchstäblich Millionen von Menschenleben gerettet hat und zu der auch mehr empirische Daten vorliegen als zu irgendetwas sonst in der Medizin. Das ist, um es ganz nüchtern auszudrücken, unwissenschaftlich. Der Gedanke des wissenschaftlichen Fortschritts wird einem wilden Tontaubenschießen auf Details geopfert. Bei denen er zudem teils gewaltig danebenliegt mit seinen “Informationen” und Deutungen.

Man mag über all das, über all die wilden Geschichten Pollmers sogar noch einen Diskurs führen können – ungern, da unnötig, aber es wäre möglich wie zu allen Sachfragen. Aber was mich veranlasst, nicht näher auf seine Anekdoten einzugehen, das ist der Schluss des Videos. Ganz unmissverständlich, in einem raunenden Verschwörungston, stellt Pollmer abschließend die cui-bono-Frage in den Raum, wem denn all die Impferei denn wohl nützen solle – der Gesundheit des Publikums ja wohl nicht. Das ist nichts weniger als der erklärte Übergang zur Verschwörungstheorie. Und eine Missdeutung, ja eine Missachtung des aufklärerischen Anspruchs, der sich auf die drei Säulen von Vernunft, Wissenschaft und Humanität stützt. Schade.


PS

Ich nehme zur Kenntnis, dass die Kommentarfunktion bei Youtube zu diesem Video deaktiviert ist. Und den Beitrag auch noch mit “Viel Feind, viel Ehr’ ” zu betiteln, das ist schon nicht mehr satisfaktionsfähig.


Nachtrag, Juni 2020:

Es ist ja nicht so, dass ich die Sache wirklich einfach mit dem obenstehenden Rant auf sich beruhen lassen möchte. Gemeinsam mit den Autoren des Blogs „Informationsnetzwerk Impfen“ habe ich mich darangemacht, die Behauptungen und Schlussfolgerungen von Herrn Pollmer im Detail zu analysieren. Sie waren zur Veröffentlichung im „INIBlog“ gedacht.

Das war recht aufwändig, zumal das Videoformat schwieriger zu analysieren ist als ein geschriebener Text. Nun ja. Natürlich wollten wir nicht zur Veröffentlichung schreiten, ohne Herrn Pollmer Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben.  Leider hat er sich – auf seinen Wunsch hin ausführlich um Quellenangaben ergänzten – Paper dann gar nicht mehr geäußert…

Schade. Der INIBlog zog daraus den Schluss, sich nicht weiter mit der Sache zu befassen. Als derjenige, der mit dem vorstehenden Blogbeitrag die Sache ins Rollen gebracht hatte, sehe ich mich aber sowohl berechtigt wie verpflichtet, die Gegenargumentationen zu Herrn Pollmers (letztlich zwei) Videos im Interesse einer redlichen Vorgehensweise zu veröffentlichen. Ihr könnt sie hier ansehen oder als PDF downloaden.

Der Gesetzgeber und die Anklagebank in Krefeld

I.

Das Urteil im Krefelder Landgerichtsprozess gegen den Heilpraktiker Klaus R. aus Brüggen-Bracht ist gesprochen. Das Gericht befand ihn der fahrlässigen Tötung schuldig und verhängte eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dies ist nach der Beweiswürdigung und unter den Regeln der Strafzumessung korrekt und entspricht bei Ersttätern einer solchen Straftat (wie beispielsweise auch für Verursacher schuldhafter Autounfälle mit Todesfolgen) gefestigter Rechtsprechung. Insofern habe ich keine Kritik am Schuldspruch und an der Strafzumessung zu üben.

Der Prozessführung durch das Gericht ist, soweit man sie der Berichterstattung entnehmen kann, Anerkennung auszusprechen (ich stütze mich hier auf Claudia Rubys exzellente Berichte auf MedWatch). Das Gericht war sich offensichtlich der Implikationen des Falles, die über die reine individuelle Tatfeststellung und Strafzumessung hinausgehen, durchaus bewusst.

Und diese Implikationen sollen hier auch noch Gegenstand einer kurzen Betrachtung sein, die an die inzwischen recht zahlreichen Artikel zum Heilpraktikerthema auf diesem Blog anknüpfen. Dabei gehe ich – anders als noch vor einiger Zeit – davon aus, dass seitens der Politik eine wirkliche Reform der Heilpraktikerproblematik wieder auf Eis gelegt wurde.

Das Gericht konnte einen konkreten Tatvorwurf nur an den Umstand knüpfen, dass R. die Bemessung / Dosierung des experimentellen Mittelns 3-Bromopyrovat (3-BP) mittels einer ungeeigneten Waage und ohne angemessenes Problembewusstsein für die Gefährlichkeit einer falschen Dosierung vorgenommen hatte. Der Tod der drei Patienten wurde auch – was in solchen Verfahren keineswegs selbstverständlich ist – von den Gutachtern als unmittelbare Folge der falschen Applizierung des Mittels eingestuft. Nicht Gegenstand des Urteils war, dass R. hier zu einem Mittel griff, das weder als Arzneimittel zugelassen ist noch zu dem wissenschaftlich fundierte Anwendungsrichtlinien bestehen. Er hantierte hier also mit einem Mittel, dessen Anwendung einem niedergelassenen Arzt verwehrt, einem klinischen Arzt nur unter strengsten Auflagen nach Freigabe durch die zuständige Ethikkommission unter sorgfältigster Protokollierung von Vorbereitung und Durchführung der Anwendung erlaubt wäre.

Ob damit ein Verstoß gegen Rechtsnormen für die Heilpraktikertätigkeit vorlag, war während des gesamten Prozesses auch in der Fachwelt strittig. Und tatsächlich hat das Gericht aus der reinen Anwendung des Mittels keine strafrechtliche Relevanz abgeleitet. Auch der Umstand, dass R. die Herstellung der Fertigarznei aus dem 3BP entgegen den Bestimmungen der Aufsichtsbehörde nicht angezeigt hat, dürfte marginal, vermutlich nicht einmal per Strafgesetzbuch zu ahnden gewesen sein.

Irgendeine grundsätzliche Kompetenzüberschreitung konnte das Gericht hier also nicht feststellen. Weil der Rechtsrahmen für Heilpraktiker eine solche nicht hergibt. Schon früh zeichnete sich demgemäß im Prozess ab, dass der strafrechtlich relevante Kernvorwurf sich auf die Sache mit der Waage kaprizieren würde, was sich bestätigt hat. Jedoch:

Empfindet irgendjemand diese Groteske mit der Waage als den entscheidenden Punkt in dieser Sache? Doch wohl nicht!
Aber mehr war vor Gericht nicht „drin“. Und das heißt im Umkehrschluss: Das, was jeder redlich Denkende hier als den Kern der Sache empfindet, nämlich dass jemand völlig außerhalb seiner Kompetenz und offenbar auch seiner Fähigkeit zur Selbstkritik in Gesundheitsfragen agiert und Menschen zu Tode bringt, ist rechtlich nicht angreifbar!

Eben daraus ergibt sich, dass es der Gesetzgeber offenbar willentlich und wissentlich zulässt, dass Menschen weit außerhalb ihrer Kompetenz und ihres Einsichtsvermögens im Bereich der Gesundheit anderer tätig werden. Denn DAS ist der Punkt, um den es im Grunde bei dem Krefelder Verfahren ging. Aber der ist als solcher nicht justiziabel – q.e.d.

Nebenbei sei angemerkt, dass die Konsequenz, die der Gesetzgeber aus dem Vorfall zog, sich darauf beschränkt, dass nunmehr für die eigene Herstellung verschreibungspflichtiger Mittel durch Heilpraktiker die bisherige Anzeige- durch eine Genehmigungspflicht ersetzt wurde.

II.

Ich will mir hier aus zweiter Hand kein abschließendes Urteil erlauben. Aber es sei die Anmerkung gestattet, dass der Angeklagte doch wohl objektiv weit außerhalb seiner Kompetenz und seiner Urteilsfähigkeit agiert hat. Zweifellos ist sein Bedauern, das er den Angehörigen der Verstorbenen ausgedrückt hat, redlich und ehrlich gemeint. Aber hat er Einsicht in die Einordnung seines Handelns über den reinen strafrechtlichen Vorwurf hinaus?

Hier ist die Frage berechtigt: Ist nicht in gewisser Weise auch Klaus R. dem Irrsinn zum Opfer gefallen, dass der Staat mit seinem Prädikat des Heilpraktikers nicht nur dem Patienten, sondern auch dem Therapeuten Kompetenz suggeriert, wo es keine gibt? Vieles aus dem Prozessverlauf deutet darauf hin, dass Klaus R. in die Blase einer Scheinkompetenz hineingewachsen ist, an deren Anfang die amtliche Zulassung als Heilpraktiker stand. Und da ist er mit Sicherheit nicht der einzige – das Problem ist systemisch.

Ceterum censeo: Der Staat trägt hier ganz unmittelbare Mitschuld. Und keine geringe.

III.

Einer der Gründe, weshalb 1939 das Heilpraktikergesetz als “Auslaufgesetz” mit dem Ziel herauskam, den Ärztevorbehalt zu verwirklichen, war die ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts. Das hatte nämlich den Rechtsgrundsatz entwickelt, je weniger ein “Heiler” wisse und je weniger er “einsichtsfähig” sei, desto weniger sei ihm strafrechtlich ein Vorwurf zu machen. Man kann heute noch in den Reichsgerichts-Entscheidungssammlungen nachlesen, in welchem Maße damals Prozesse gegen Laienheiler geführt wurden und in welchem Maße es nach diesem Grundsatz zu Freisprüchen kam. Man wollte dem ein Ende machen.

Der Leitsatz aus der Entscheidung RSt. Bd. 67, 20 (sog. „Diphteriefall“) lautete:
“Doch kann von einem nichtärztlichen Heilbehandler nicht dasselbe Maß von allgemeiner Ausbildung und Fortbildung erwartet werden, wie vom approbierten Arzt, es bedarf auch hier der Prüfung, ob und wie weit der Heilkundige nach seinen persönlichen Verhältnissen und Erkenntnis zur Erfüllung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt und zur Erkenntnis der ursächlichen Bedeutung seines Verhaltens imstande war.”

Heute bekommen wir demonstriert, dass wir wieder in exakt der gleichen Situation sind.

IV.

Nochmals sei in aller Deutlichkeit betont, dass das Bild vom eigenverantwortlichen mündigen Patienten ein Trugbild ist, das zur Selbstberuhigung einer untätigen Politik dient. Exemplarisch zeigen dies auch die Prozessberichte bei MedWatch. Insofern ist es geradezu zynisch, die Unantastbarkeit des Heilpraktikerwesens mit dem Argument einer Wahrung der Patientenautonomie zu begründen. Niemand bestreitet einem Patienten das Recht, selbst über die Art und Weise seiner Behandlung oder auch eine Nichtbehandlung zu bestimmen. Diese Patientenautonomie ist wohl das höchste Gut, das in der Entwicklung der Medizin der letzten 30 Jahre erreicht worden ist. Das hindert den Staat aber eben gerade nicht, Schutzpflichten wahrzunehmen, wie er es in gegenüber Gesundheitsfragen vergleichsweise marginalen Dingen doch ständig tut.

Im Gegenteil. Der Staat selbst wirkt derzeit ganz wesentlich daran mit, dass das Selbstbestimmungsrecht der Patienten zum Opfer von mangelnder Kompetenz und leider auch Unlauterkeit und die Patientenautonomie zur Sackgasse wird.

Was heißt das in Bezug auf unser Ausgangsthema, den Krefelder Prozess?

Wir haben gesehen, dass es nicht generell justiziabel ist, dass Klaus R. Dinge angefasst hat, die objektiv außerhalb seiner Kompetenz und seines Verständnisses liegen, gleichwohl offenbar innerhalb seines Selbstbildes keinen Zweifeln unterlagen.

Ich halte das gleichwohl für vorwerfbar. Aber auf einer grundsätzlicheren Ebene als der einer falsch benutzten Waage. Und diese Ebene ist die des Gesetzgebers, der dies nicht nur zulässt, sondern noch mit einer Art staatlichem Gütesiegel befördert. Deshalb saß eben dieser Gesetzgeber in Krefeld mit auf der Anklagebank.


Bild von Hermann Traub auf Pixabay

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