Die Wissenschaft ist in der Vertrauenskrise – so könnte man meinen, wenn man sich die Diskussionen um Pandemien, Klimawandel oder alternative Heilmethoden ansieht. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Umfragen und Studien, die das „Vertrauen in die Wissenschaft“ messen. Die jüngste dieser Untersuchungen, erschienen in Nature Human Behaviour1, hat mit großem Aufwand das Vertrauen in Wissenschaft und Wissenschaftler in 68 Ländern erhoben. Deutschland rangiert dabei mit einem Wert von 3,49 unterhalb des gewichteten Medians von 3,62 (bei einer gemessenen Bandbreite von 4,2 bis 3,5 mit einer Standardabweichung zwischen 0.008 and 0.133) – ein Befund, der dem eher pessimistisch eingestellten Skeptiker spontan akzeptabel erscheint – bis man sich ansieht, welche Länder deutlich höhere Werte auch über dem Median erreichen. Deutschland wird dabei von Nationen glatt in den Schatten gestellt, denen man es beim besten Willen und ganz unvoreingenommen nicht zutrauen würde – ganz zu schweigen von den beiden führenden Nationen, die auch noch statistische „Ausreißer“ nach oben sind: Ägypten und Indien. Hier stellen sich Fragen nach der Repräsentativität und vor allem der Aussagekraft der Studie (Link zur Studiengrafik).
Stellen wir uns deshalb doch einmal die Frage: Was genau bedeutet „Vertrauen in die Wissenschaft“ denn eigentlich? Und was lässt sich aus einer solchen Zahl ableiten?
Eine Zahl ohne Kontext bleibt inhaltsleer
Eine auf diesem Blog früher schon einmal erörterte Untersuchung (Leseempfehlung), veröffentlicht im Journal of Experimental Social Psychology2, wirft erhebliche Zweifel an der isolierten Aussagekraft solcher Vertrauensmessungen auf. Die Studie zeigte, dass ein blindes Vertrauen in Wissenschaft ohne zumindest grundlegendes Verständnis der wissenschaftlichen Methodik oder ein Mindestmaß an Reflexionsfähigkeit eher problematisch als hilfreich ist. Menschen, die ein hohes Vertrauen in „die Wissenschaft“ angaben, waren paradoxerweise oft anfälliger für Pseudowissenschaften und Desinformation. Das klingt kontraintuitiv, macht aber Sinn: Wer ohne kritisches Hinterfragen alles glaubt, was im Namen und unter dem Anschein von Wissenschaft daherkommt, kann genauso leicht falschen oder verzerrten wissenschaftlichen Aussagen aufsitzen wie seriöser Forschung folgen.
Der begleitende Kommentar zur Studie auf Journalist’s Resource3 beschreibt dieses Phänomen anschaulich: Vertrauen ohne Wissen sei wie ein Auto ohne Bremsen. Es fehle an einer reflektierenden Instanz, die zwischen solider Wissenschaft und Pseudowissenschaft unterscheidet.
Die neue Vertrauensstudie: Mehr Umfang, aber auch mehr Erkenntnis?
Die Nature-Studie liefert nun eine beeindruckende Datenmenge. Doch stellt sich die Frage: Was genau sagen diese Zahlen aus? Wenn etwa ein Land ein besonders hohes Vertrauen in die Wissenschaft zeigt – bedeutet das, dass dort wissenschaftliche Erkenntnisse besonders gut verstanden und reflektiert werden? Oder ist es schlicht ein Ausdruck von sozioökonomischen Faktoren, Bildungsstrukturen oder gar politischer Propaganda?
Ein hohes Vertrauen in Wissenschaft ist nur dann ein Fortschritt, wenn es mit einem gewissen Maß an Urteilskompetenz einhergeht. Fehlt diese, bleibt es eine leere Größe – oder schlimmer: Es öffnet Tür und Tor für Missbrauch. Wenn Menschen zwar „der Wissenschaft“ vertrauen, aber gleichzeitig nicht zwischen fundierter Forschung und ideologisch motivierter Verzerrung unterscheiden können, dann wird Wissenschaftsvertrauen zur leichten Beute für Populismus und Manipulation.
Anstatt nur zu messen, wie viele Menschen „der Wissenschaft“ vertrauen, sollten künftige Studien untersuchen, wie dieses Vertrauen sich mit Verständnis wissenschaftlicher Methoden, Skepsis gegenüber unhaltbaren Behauptungen und der Fähigkeit zur kritischen Reflexion verbindet. Vertrauen allein kann ebenso gut ein Zeichen von unkritischer Autoritätshörigkeit sein wie von fundiertem Wissen.
Der wahre Schlüssel liegt also nicht in einem abstrakten Vertrauensindex, sondern in der Fähigkeit zur informierten Urteilsbildung. Und die lässt sich nicht einfach per Umfrage messen.
Wieder mal die Sache mit dem kritischen Denken.
1 Cologna, V., Mede, N.G., Berger, S. et al. Trust in scientists and their role in society across 68 countries. Nat Hum Behav (2025). https://doi.org/10.1038/s41562-024-02090-5 https://www.nature.com/articles/s41562-024-02090-5
Nach zweitägiger Anhörung im vorbereitenden Senatsausschuss hat dieser nun eine Empfehlung zur Bestätigung des Impfgegners und Hirnwurmträgers Robert F. Kennedy Jr. als US-Gesundheitsminister abgegeben. 14 zu 13 Stimmen, wenigstens das. Entlang der Parteigrenzen, wie die NYT schreibt. Kein Zweifel, dass der Senat nun die Nominierung durchwinken wird.
Ich will mich hier gar nicht aufregen (ich versuche es jedenfalls). Aber man wird festhalten müssen, dass wir hier etwas erleben, das in höchstem Grade absurd und irreal ist. Ich gestehe, dass ich mich unter keinen Voraussetzungen irgendwie in die Abgeordneten hineinversetzen kann, die RFK jun. tatsächlich für geeignet halten, als Gesundheitsminister der größten Industrienation der Welt zu fungieren. Ich verfolge RFK’s „Karriere“ schon lange, aber dass es einmal dazu kommen könnte, das kam in meinen schlimmsten Albträumen nicht vor.
Dabei sah es zeitweilig während der Anhörung (die ich zu großen Teilen live verfolgt habe) danach aus, als würde Kennedy in echte Bedrängnis geraten. Immer wenn es um das Impfthema ging, verlor er den Boden unter den Füßen – und ähnlich wie sein Kumpel Andrew Wakefield (genannt Fakefield, der als der größte Medizinbetrüger des 20. Jahrhunderts gilt), gab er zu Protokoll, er sei ja gar kein Impfgegner. Es gelang seinen Sidesteps aber immer wieder, die Anhörung auf sozusagen neutrales Terrain zu verlagern – so nahmen Kennedys Ideen zu Ernährungsfragen breiten Raum ein. Auch hier gab er ziemlichen Unsinn von sich, was aber offenbar zu keiner Beunruhigung im Anhörungsausschuss führte. Der Vorsitzende, Mr. Cassidy, selbst Arzt, setzte ihm auch ordentlich zu. Allein – vergebens.
Nun, seine Eskapaden, die ihn als einen der krassesten Impfgegner des Planeten überführen, würden ein Buch füllen. Deshalb hier nur ein Hinweis auf einen Artikel hier auf diesem Blog – und eine Story, deren genaue Einzelheiten offenbar bis vor kurzem unbekannt waren.
Die wüste Geschichte, dass die WHO mit Impfungen in Afrika beabsichtigt habe, im großen Stil Sterilisierungen von Frauen durchzuführen, habe ich hier ausführlich beschrieben. Bob und Andy haben hier zusammengewirkt – manipulativ, voller Lügen und mit der offensichtlichen Absicht, Impfen generell und die WHO gleich mit zu diskreditieren. Und auf was für eine Art und Weise! Zudem billig. Früher haben sie noch ihre eigenen Lügen verbreitet, bei dieser Geschichte haben sie nur eine uralte urban legend aufgewärmt. Alles beschrieben in meinem Blogpost.
Robert F. Kennedy Jr. und der Masernausbruch in Samoa
Im Jahr 2018 erlebte das kleine Samoa einen schweren Masernausbruch, bei dem zahlreiche Menschen, hauptsächlich Kinder, starben. Die Tragödie wurde durch niedrige Impfraten verschärft, die teilweise auf Impfstoff-Skepsis zurückzuführen waren. Katastrophal war zusätzlich, dass zwei Kleinkinder während der Impfaktion verstarben. Es stellte sich zwar heraus, dass dies durch die Unachtsamkeit von zwei Krankenschwestern veursacht war (beide wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt). Die erste Reaktion war jedoch, dass die Skepsis gegenüber dem Impfstoff weiter zunahm. Die Impfungen wurden zunächst ausgesetzt, eine Weile später zwar wieder aufgenommen, aber so gut wie gar nicht nachgefragt.
Robert F. Kennedy Jr. besuchte im Juni 2019 Samoa und traf sich mit lokalen Impfgegnern, darunter Taylor Winterstein und Edwin Tamasese. Er nutzte die tragischen Todesfälle der beiden Säuglinge im Jahr 2018, um noch mehr Zweifel an der Impfsicherheit zu säen. Diese Desinformationskampagne führte zu einem weiteren drastischen Rückgang der Impfraten und bereitete den Boden für den nächsten Masernausbruch 2019 (erwartbar bei einer Durchimpfungsrate bei Kindern um die 30 Prozent), bei dem 83 Menschen, hauptsächlich Kinder, starben. Kennedys Handeln wurde vielfach als besonders verwerflich kommentiert, da er bewusst falsche Informationen verbreitete und die öffentliche Gesundheit gefährdete, was zu vermeidbaren Todesfällen führte. Er bezeichnete die Situation als eine Gelegenheit, die Auswirkungen von Impfungen und Nicht-Impfungen zu beobachten. Also als einen „Feldversuch“ mit menschlichen Probanden – so ziemlich der unterste Sumpf unverantwortlichen und unethischen Handelns. Er versuchte offenbar, die Verantwortlichen auf Samoa von seiner „Idee“ zu überzeugen, einer Idee, die er auch schon in den USA propagierte. Medizinethische Grundsätze trat er dabei mit Füßen, ohne schamrot zu werden.
Braucht es noch mehr, um zu belegen, dass RFK jun. einer der gefährlichsten Impfgegner auf diesem Planeten ist? Details finden sich hier bei den NBC News vom 24. Januar 2025.
Noch ein bisschen Dystopie
Was genau macht eine Ernennung von RFK jun. zum Gesundheitsminister so brisant?
Sein tiefes Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Institutionen und sein Hang zu Verschwörungstheorien könnten in einer solchen Position immensen Schaden anrichten. Sein Bild von Gesundheitsinstitutionen scheint stark von ideologischen Feindbildern geprägt zu sein, anstatt von realistischen Einschätzungen über deren Funktion und Bedeutung.
Das NIH (National Institutes of Health) beispielsweise ist in erster Linie ein Forschungsinstitut und keine bürokratische Behörde. Es ist eines der weltweit führenden Zentren für biomedizinische Forschung und hat entscheidend zur Entwicklung von Impfstoffen, Krebstherapien und anderen medizinischen Durchbrüchen beigetragen. RFK Jr.s mehrfach geäußerte Vorstellung, dass es sich dabei um eine Art Verwaltungsapparat handelt, den man „aufräumen“ könne, zeigt eine erschreckende Unkenntnis und legt nahe, dass er nicht einmal eine realistische Vorstellung davon hat, welche Arbeit dort geleistet wird.
Seine mögliche Strategie des „Lahmlegens“ der Gesundheitsinstitutionen könnte massive Folgen haben – von einer Verzögerung in der Medikamentenentwicklung bis hin zu einer möglichen Destabilisierung von Impfprogrammen und der Pandemievorsorge. Das erinnert an Trumps ersten Gesundheitsminister Tom Price, der als erklärter Feind von „Big Government“ das Gesundheitsministerium von innen heraus geschwächt hat – aber RFK Jr. geht ideologisch noch deutlich weiter.
Die Ironie dabei ist, dass Trump selbst vor der COVID-19-Pandemie oft für seine Nähe zu Impfgegnern kritisiert wurde, aber dann mit Warp Speed eine beispiellose Impfkampagne gestartet hat. Ein Gesundheitsminister RFK jun. würde das möglicherweise nicht nur wissenschaftliche Institutionen schwächen, sondern auch ein riesiges politisches Eigentor für ihn selbst bedeuten – denn massive Krankheitsausbrüche und eine verschlechterte Gesundheitsversorgung werden auch seine Wähler nicht kaltlassen.
Die Frage ist nur: Wie viele Kollateralschäden wird es bis dahin geben? Versuchen wir einen Ausblick.
Kurzfristig (innerhalb der ersten Monate)
Institutionelles Chaos: Falls RFK Jr. tatsächlich Minister wird, könnte er innerhalb kurzer Zeit wichtige Führungsposten mit Gleichgesinnten besetzen oder Experten entlassen, die er für Teil der „korrupten Elite“ hält. Das könnte das NIH, die CDC oder die FDA lähmen und zu Verzögerungen bei wichtigen Maßnahmen führen. Symbolische Anti-Establishment-Entscheidungen: Er könnte beispielsweise Forschungsgelder für Impfprogramme oder Pandemievorsorge kürzen, während er gleichzeitig Pseudowissenschaftler fördert.
Mittelfristig (nach 1-2 Jahren)
Einbruch der Impfquoten: Wenn RFK Jr. weiterhin Anti-Impf-Rhetorik betreibt oder Impfprogramme de-priorisiert, könnte das dazu führen, dass weniger Menschen Impfungen in Anspruch nehmen – insbesondere gegen Masern, Grippe oder COVID-19. Erste Krankheitsausbrüche könnten auftreten. Abwanderung von Experten: Falls Gesundheitsinstitutionen durch politischen Druck geschwächt werden, könnten hochkarätige Wissenschaftler in andere Länder oder in den Privatsektor abwandern, was langfristige Schäden für die US-Gesundheitsforschung hätte.
Langfristig (3-4 Jahre oder mehr)
Wiederaufleben von vermeidbaren Epidemien: Falls Anti-Impf-Narrative weiter gefördert werden, könnten Masern, Keuchhusten und andere vermeidbare Krankheiten wieder auf dem Vormarsch sein – mit Todesopfern, die man hätte verhindern können. Regress in der Pandemievorsorge: Sollte es eine neue Pandemie oder eine besonders gefährliche Virusvariante geben, könnte ein durch Fehlinformationen gelähmtes Gesundheitssystem schlechter darauf reagieren, was unnötig viele Menschenleben kosten würde.
Die Ironie ist, dass die härtesten Konsequenzen meist erst dann eintreten, wenn es zu spät ist, um den Schaden einfach rückgängig zu machen. Deshalb ist es so gefährlich, wenn jemand mit wissenschaftsfeindlicher Agenda systematisch Institutionen untergräbt. Eine gestrichene Forschungsförderung kann oft wieder aufgenommen werden – aber verlorenes Vertrauen in Wissenschaft und Medizin ist viel schwerer zurückzugewinnen.
Wird es Auswirkungen all dessen auch international geben?
Die USA sind einer der größten Geldgeber für weltweite Impfinitiativen wie Gavi (die Impf-Allianz), die WHO-Impfkampagnen und Programme gegen Polio, Masern und andere Infektionskrankheiten. Falls RFK Jr. als Gesundheitsminister Mittel für solche Programme streicht oder umleitet, könnte das in Entwicklungsländern direkt dazu führen, dass weniger Kinder geimpft werden. Besonders betroffen wären Afrika und Südasien. Ein negatives Beispiel ist die Trump-Administration, die 2020 die WHO-Finanzierung gekappt und dies gerade wiederholt hat – schon seinerzeit mit spürbaren Folgen.
Stärkung der Anti-Impf-Bewegung in Europa RFK Jr. ist bereits eine Ikone für Impfgegner in Europa. Seine Ernennung wäre ein massiver Legitimationsschub für die Szene. Viele europäische Impfgegner haben die Corona-Pandemie genutzt, um eine allgemeine wissenschaftsfeindliche und staatskritische Haltung zu etablieren. Ein prominenter Impfgegner in einer so hohen Position könnte ihre Radikalisierung weiter fördern. Gerade in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Österreich, wo Impfmüdigkeit ohnehin ein Problem ist, könnten RFK Jr.s Aussagen gegen mRNA-Impfstoffe (und Impfstoffe allgemein) als „amtliche Bestätigung“ missverstanden werden.
Rückhalt für pseudomedizinische Strömungen weltweit RFK Jr. ist nicht nur gegen Impfungen, sondern auch ein Verfechter anderer pseudomedizinischer Ansätze, die er als „natürliche Heilmethoden“ verkauft. In Ländern mit starken Alternativmedizin-Lobbys (z.B. Deutschland mit der Homöopathie-Industrie oder Indien mit Ayurveda) könnte seine Ernennung als Argument für eine Gleichstellung von Pseudomedizin mit evidenzbasierter Medizin dienen. Das könnte sich auf politische Entscheidungen auswirken – z.B. dass Homöopathie weiterhin von Krankenkassen erstattet wird oder dass Alternativmedizin verstärkt in medizinische Curricula einfließt.
Wissenschaftsfeindliche Narrative als US-Export Die USA haben durch Hollywood, Social Media und Nachrichtenmedien eine immense globale Meinungsführerschaft. Ein Gesundheitsminister, der wissenschaftsfeindliche Positionen vertritt, würde diese in den Mainstream heben und ihnen eine staatliche Glaubwürdigkeit verleihen. In vielen Ländern könnten Medien und Politiker auf den Zug aufspringen, um eigene politische Agenden zu pushen.
Fazit
Die Gefahr ist real und global. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein politisches Ereignis in den USA extremistische oder verschwörungsideologische Bewegungen weltweit verstärkt. Dabei geht es um weit mehr als um schlichten Populismus. RFK Jr. würde konkret die Gesundheitspolitik einer Supermacht beeinflussen, mit direkten Auswirkungen auf Impfprogramme, Wissenschaftspolitik und das globale Vertrauen in evidenzbasierte Medizin.
Das Risiko ist also nicht nur theoretisch, sondern könnte in einigen Jahren ganz praktisch Menschenleben kosten – auch außerhalb der USA.
Ich bin ja nur ein kleiner Blogger, der allerdings auch selbst schon wissenschaftlich veröffentlicht und ein Auge auf Tendenzen im Wissenschaftsbetrieb hat. Letzteres ist nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Warum – dazu stelle ich heute einmal einen wichtigen Teilaspekt vor, die wissenschaftliche Publikationspraxis. Da sehe ich allerlei Düsternis.
Ich erspare mir hier, die – immer noch nicht ausgestandene – Geschichte um die Studie Frass et al. (2020) auszubreiten, bei der nicht nur ein unsinniges und unplausibles Forschungsthema behandelt, sondern mit großer Expertise akribisch herausgearbeitet wurde, dass die Ergebniss nicht auf realen Daten beruhen können. Jede Intervention beim veröffentlichenden Journal, dem Oncologist, blieb bislang erfolglos, ja, führte sogar zu einer Verhärtung der Fronten, weil sich das Journal nun auch noch selbst hinter die Studie stellte. Mehr dazu beim Humanistischen Pressedienst hier und zur Kritik an der Studie im Detail beim Informationsnetzwerk Homöopathie hier.
Ein krasser Fall – ein Einzelfall? Nun da lege ich mich nicht endgültig fest, es ist eben ein Fall, der aufgefallen ist. Was unwahrscheinlich genug war.
Was aber sehenden Auges selbst bei renommiertesten Wissenschaftsorganisationen geschieht, darauf bin ich vor einigen Tagen aufmerksam geworden. Und das verschiebt nach meiner Ansicht die ganze Problematik noch einmal um ein gehöriges Stück. Was ist geschehen?
Cochrane auf Irrwegen
Hilda Bastian, Gründungsmitglied von Cochrane, beschreibt in ihrem Blogbeitrag vom 24. Januar 2025 einen Vorfall innerhalb der Cochrane Collaboration bezüglich eines Reviews zu Bewegungstherapien bei Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Dieser Review, dessen letzte vollständige Aktualisierung im Jahr 2015 stattfand, empfahl Bewegungstherapie als Behandlung für ME/CFS. Seitdem hat sich das Verständnis der Erkrankung jedoch erheblich weiterentwickelt, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Post-Exertional Malaise (PEM) als Leitsymptom. Internationale Leitlinien, darunter die des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) im Vereinigten Königreich und der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA, raten inzwischen von standardisierten Bewegungstherapien für ME/CFS-Patienten ab.
Aufgrund anhaltender Kritik von Patientenvertretern und Wissenschaftlern initiierte Cochrane eine vollständige Überarbeitung des Reviews und setzte eine unabhängige Beratungsgruppe (Independent Advisory Group, IAG) ein, der auch Bastian angehörte. Im März 2020 wurde bekannt gegeben, dass das ursprüngliche Autorenteam zurückgetreten war und ein neues Team zusammengestellt werden sollte. Im Dezember 2024 jedoch erhielt die IAG eine kurze Mitteilung, dass die geplante Aktualisierung des Reviews abgesagt wurde. Öffentliche Berichte der IAG wurden ohne Vorankündigung von der Cochrane-Website entfernt. Kurz darauf veröffentlichte Cochrane eine neue „Version“ des Reviews mit einem redaktionellen Hinweis, der die Absage der Aktualisierung bekannt gab und gleichzeitig die veralteten Empfehlungen bestätigte.
Diese Ereignisse haben zu erheblichem Unmut in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und bei Patientenvertretern geführt. Die Entscheidung, die Überarbeitung abzubrechen und den veralteten Review erneut zu veröffentlichen, wird als inakzeptable Fehlentscheidung angesehen, die das Vertrauen in Cochrane untergräbt. Angesichts der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und der potenziellen Schäden, die durch ungeeignete aktivierende Bewegungstherapien bei ME/CFS-Patienten entstehen können, ist diese Entwicklung besorgniserregend. Ein gültiges, gar mit aktuellem Datum versehenes Paper in der Publikation, das eine längst als falsch und schädlich erkannte Therapieoption befürwortet? Mit dem Namen der renommiertesten Autorität in der evidenzbasierten Medizin? Was erlaube Cochrane, um einmal Giovanni Trappatoni zu paraphrasieren!
Für die ME/CFS-Forschungsgemeinschaft in Deutschland um die führende Expertin Prof. Carmen Scheibenbogen (Charité), ist es von großer Bedeutung, diese Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich ist entscheidend, dass klinische Leitlinien und Empfehlungen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft basieren und die Bedürfnisse und Sicherheit der Patienten im Vordergrund stehen. Es ist unerlässlich, dass wissenschaftliche Gesellschaften transparent agieren und Kritik ernst nehmen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Fachwelt zu bewahren.
Eine besorgniserregende Entwicklung
Dass das Publikationssystem strukturelle Schwächen hat, ist nichts Neues – wirtschaftliche Interessen, Publikationsdruck und Intransparenz sind als Problemursachen bekannt. Aber dieser Vorgang bei Cochrane (und letztlich auch der ersterwähnte bei The Oncologist) geht über diese bekannten Probleme hinaus: eine offenbar zunehmende Gleichgültigkeit oder sogar aktive Verteidigung wissenschaftlich fragwürdiger Inhalte durch etablierte Journale und Organisationen. Und ausgerechnet die Cochrane Collaboration, die weltweit als Gralshüter der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin gilt, handelt dem zuwider?
In der Tat ist der Fall, den Hilda Bastian schildert, besonders alarmierend, weil Cochrane nach eigenem Selbstverständnis den „Goldstandard“ der evidenzbasierten Medizin verkörpert. Dass eine längst überfällige Revision eines problematischen Reviews per ordera mufti nicht nur sabotiert, sondern die überholte Version aktiv erneut veröffentlicht wird, ist eine Form institutionalisierter mangelnder Fehlerkultur: Man hält an einer überholten, deshalb potenziell schädlichen Empfehlung fest, statt wissenschaftliche Korrektheit walten zu lassen. Das ist nicht nur intellektuell unehrlich, sondern kann in diesem Fall auch gesundheitliche Folgen für ME/CFS-Patienten haben.
Obwohl anders gelagert, kommt einem dabei der Fall Peter Gøtzsche vor einigen Jahren in den Sinn. Gøtzsche veröffentliche damals als Gründungsmitglied und leitender Mitarbeiter von Cochrane auf eigene Faust eine harsche Kritik an einem Review von Cochrane, das sich mit dem HPV-Impfstoff Gardasil befasste. Worauf er nicht nur seinen Job bei Cochrane (Leiter des Nordic Cochrane Centre) verlor, sondern gleich auch noch aus der Organisation ausgeschlossen wurde. Diese spezielle Sache wurde aufgearbeitet, mit dem Ergebnis, dass Gøtzsche nur so etwa zu 5 Prozent Recht hatte. Hinzu kam, dass er sich zusätzlich dadurch diskreditierte, dass er einen ausgesprochenen Impfgegner mit ins Boot genommen hatte. Aber die institutionellen Mechanismen, die ihn schon vorher bei Cochrane zum Außenseiter machten, sind nie wirklich beleuchtet wurden. War die Sache mit dem HPV-Review Grund oder nur eine willkommene Gelegenheit, Gøtzsche loszuwerden? Cochrane hatte Zusagen auf Klärung, die auf Drängen der wissenschaftlichen Community gemacht wurden, nie eingehalten.
Zweifellos war Gøtzsche seit jeher ein Opponent, der vor allem die zunehmende Kooperation von Cochrane mit der pharmazeutischen Industrie kritisierte. Der offizielle Grund, ihn vor die Tür zu setzen, war laut Cochrane „bad behaviour“, also schlechtes Benehmen … Na. Ich habe mich seinerzeit mit dieser Geschichte intensiv beschäftigt und auch dazu geschrieben, aber nicht veröffentlicht. Heute finde ich keine deutschsprachige Quelle, die nach meiner Einschätzung die Facetten des Konfliktes einigermaßen neutral wiedergibt, deshalb biete ich hier keinen deutschsprachigen Link an. Wer mehr erfahren will, den verweise ich auf den Blog „Skeptical Raptor“ des geschätzen US-Bloggerkollegen Michael Simpson.
Liegt darin eine generelle Tendenz? Namlich die, dass Institutionen sich gegen Kritik verteidigen oder sie ignorieren, anstatt wissenschaftliche Debatten offen zu führen? Und das ist die eigentliche Gefahr: Wenn sich Journale und Organisationen primär selbst schützen, statt als Korrektiv für Wissenschaftsfehler zu dienen, dann untergraben sie ihre eigene Glaubwürdigkeit.
Die Kombination aus wirtschaftlichen Zwängen, Publikationsdruck und mangelnder Fehlerkultur könnte langfristig die wissenschaftliche Integrität aushebeln. Es wird immer mehr darum gehen, Kritik abzuwehren oder zu ignorieren, anstatt sich ihr konstruktiv zu stellen. Und das ist eine schiefe Ebene, die – wenn nicht gegengesteuert wird – fatale Folgen haben kann.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Welche Mechanismen müssten sich ändern, damit sich wissenschaftliche Journale nicht nur dem Peer-Review-Prozess verpflichtet fühlen, sondern auch einer echten Fehlerkultur?
Wer bin ich, für dieses Riesenproblem eine Lösung anbieten zu wollen. Aber einige DInge liegen schlicht auf der Hand, sind in kritischen Kreisen längst Konsens, sind aber trotzdem weit von einer Verwirklichung entfernt.
Ganz elementar sind zwei Dinge. Das sind zunächst die heutigen Selektionsmechanismen der Journale. An Einreichungen zur Veröffentlichung mangelt es nicht, was auch auch dadurch belegt wird, dass selbst mit dem wissenschaftlichen (oder auch unwissenschaftlichen) Bodensatz noch Geschäfte gemacht werden, indem sich Journale etablieren, die nach außen hin ein seriöses Bild abgeben, aber nichts anderes tun als ein peer review nur vorzutäuschen (oder ganz darauf zu verzichten) und gegen klingende Münze jedem „Wissenschaftler“ die Gelegenheit zu einer Journalveröffentlichung zu geben.
Bei den seriösen Journalen wäre zunächst die offensichtliche Fixierung auf spektakuläre Ergebnisse zu nennen. Diese führt nicht nur zu einer Verzerrung des wissenschaftlichen Diskurses (Publication Bias), sondern untergräbt auch das Selbstkorrektiv der Wissenschaft. Replikationsstudien, die essenziell für die Validierung von Erkenntnissen sind, haben es schwer, veröffentlicht zu werden.
Das Peer Review In der aktuellen Form ist oft intransparent und unzureichend – manche Reviewer leisten hervorragende Arbeit, andere überfliegen das Paper nur. Es wäre essenziell, dass nicht nur die Namen der Reviewer, sondern auch ihr konkreter Prüfbereich klar ist. Wer hat sich mit der Methodik befasst? Wer mit der statistischen Auswertung? Wer mit der Plausibilität der Hypothese? Und ja, faire Bezahlung für Peer Reviews wäre ein wichtiger Schritt.
Darüber könnte man lange schreiben. Ich will aber mal etwas riskieren in diesem Beitrag: Ich werde Sciene Fiction-Autor. Warum nicht?
Visionen
Meine Vision: Ein weltumspannendes Rechenzentrum, in das jeder Forschende seine Ergebnisse ablegen kann – kostenlos, getragen von der wissenschaftlichen Community mit Rückendeckung der staatlichen und halbstaatlichen Forschungsinstitute. Aber nicht ohne Hürden – ein mehrstufiges Beurteilungsverfahren bis hin zu einem genauen Review durch menschliche Mitarbeiter wäre durch eine entsprechend leistungsfähige und spezialisierte KI zu leisten. Die auch die Diskussionen der Community moderieren und im Sinne einer unvoreingenommenen Fehlerkultur handeln könnte …
Das wäre jedenfalls eine Lösung, die das Problem an der Wurzel packt. Denn solange Verlage die Wissenschaft als Geschäftsmodell betreiben, wird sich an den grundlegenden Problemen wenig ändern. Ein von der Wissenschaftscommunity selbst kontrolliertes System, das KI-gestützte Qualitätskontrolle mit menschlicher Expertise kombiniert, könnte Transparenz, Fehlerkultur und Effizienz drastisch verbessern. Und das alles werden wir in Zukunft noch weit mehr brauchen als ohnehin schon.
Natürlich bleibt die Frage, ob und wie sich so etwas realisieren ließe – insbesondere angesichts des Widerstands kommerzieller Verlage und der politischen Trägheit. Aber die Alternative ist ein weiteres Abrutschen in eine wissenschaftliche Publikationslandschaft, die mehr von Prestige und wirtschaftlichen Interessen als von Wahrheitsfindung geleitet wird. Man sieht, ich gehöre nicht zu denen, die bei Visionen die Einschaltung eine Arztes empfehlen. Sondern ein Nachdenken, wie man einer solchen Idee praktisch näher kommen könnte.
Die Journale sind aber natürlich nur ein Teil des Systems – die Wissenschaftler selbst sind oft gezwungen, mitzuspielen. Sei es durch den Publikationsdruck, der sie dazu bringt, möglichst viele „interessante“ Ergebnisse zu produzieren (statt solide, aber unspektakuläre Forschung zu betreiben), oder durch ideologische Scheuklappen, die dazu führen, dass sie eigene Fehler nicht erkennen (oder nicht zugeben wollen). Nicht zu vergessen die Verschwendung von Ressourcen bei problembewussten Wissenschaftlern, die oft viel Zeit aufwenden, die genannten Tendenzen zu bekämpfen. Wobei zusätzliche Aspekte wie Papermills („Wissenschaft auf Bestellung“) noch gar nicht angesprochen sind.
Wenn sich Leichtfertigkeit und Laissez-faire auf allen Ebenen ausbreitet – von Forschern über Peer Reviewer bis zu den Journals –, dann haben wir ein echtes Problem mit der wissenschaftlichen Integrität. Und wenn Institutionen wie Cochrane und bislang sehr renommierte Journale wie The Oncologist, die eigentlich für höchste Standards stehen sollten, sich dem auch noch anpassen, dann ist das ein echtes Warnsignal.
Aber was zum … schreibe ich hier … ich bin doch nur ein kleiner Blogger. Der aber seit gut zehn Jahren die Augen aufhält.
Übersicht über die indikationsübergreifenden Reviews / Metaanalysen zur Homöopathie seit 1991
Kleijnen (1991)
„Derzeit sind die Nachweise aus klinischen Studien positiv, aber sie sind nicht ausreichend, endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen, weil die Methodik in den meisten Studien von geringer Qualität ist und der Einfluss des „Publication bias“ unbekannt ist.“
„Das Ergebnis unserer Meta-Analyse liefert keine Bestätigung für die Hypothese, die klinischen Effekte der Homöopathie bestünden alleine aus einer Placebowirkung. Wir fanden in diesen Studien jedoch nur unzureichende Nachweise dafür, dass die Homöopathie auch nur bei einem einzigen Krankheitsbild wirksam wäre.“
„Die Ergebnisse der vorliegenden randomisierten kontrollierten Studien deuten darauf hin, dass die Homöopathie eine über Placebo hinausgehende Wirkung aufweist. Die Nachweise sind jedoch wegen methodischer Schwächen und Widersprüchlichkeit nicht überzeugend.“
„Es gibt ein paar wenige Nachweise dafür, dass homöopathische Therapien wirksamer sind als Placebos; die Aussagekraft dieser Nachweise ist wegen der nur geringen methodischen Qualität der Studien nur gering. Studien von höherer methodischer Qualität waren eher ungünstiger als solche mit geringer Qualität.“
„… es zeigten sich schwache Nachweise für einen spezifischen Effekt der homöopathischen Arzneien (…) Die Ergebnisse bestätigen den Eindruck, dass es sich bei den klinischen Effekten der Homöopathie um Placeboeffekte handelt.“
Die Shang-Studie, von der Schweizer Bundesregierung zur Evaluation komplementärmedizinischer Methoden in Auftrag gegeben, führte zu dem Lancet-Editorial vom „Ende der Homöopathie“ und in der Folge zu langandauernden Kontroversen um die Arbeit (die noch heute gelegentlich aufflackern). Auch von Homöopathiekritikern wurden einzelne Punkte bemängelt, jedoch ist es nie gelungen, die Endaussage zu Lasten der Homöopathie zu Fall zu bringen. Einen Überblick über die Diskussion zur Shang-Studie gibt es hier und hier.
Mathie (2014)
„Arzneien, die als Homöopathika individuell verordnet wurden, haben vielleicht einen kleinen spezifischen Effekt. (…) Die generell niedrige und unklare Qualität der Nachweise gebietet aber, diese Ergebnisse nur vorsichtig zu interpretieren.“
Mathie 2014 ist die wohl am häufigsten als Beleg pro Homöopathie herangezogene zusammenfassende Arbeit. Nahezu regelhaft lässt sich beobachten, dass aus dem vorstehenden Fazit nur der erste Satz zitiert und der zweite, der das ohnehin schwache Ergebnis nochmals stark relativiert, so gut wie nie angeführt wird.
NHMRC (2015)
„Es gibt keine zuverlässigen Nachweise dafür, dass die Homöopathie bei der Behandlung von Gesundheitsproblemen wirkungsvoll wäre.“
„Die Qualität der Nachweise als Ganzes ist gering. Eine Meta-Analyse aller ermittelbaren Daten führt zu einer Ablehnung unserer Nullhypothese [dass das Ergebnis einer Behandlung mit nicht-individuell verordneten Homöopathika nicht von Placebo unterscheidbar ist], aber eine Analyse der kleinen Gruppe der zuverlässigen Nachweise stützt diese Ablehnung nicht. Meta-Analysen für einzelne Krankheitsbilder ergeben keine zuverlässigen Nachweise, was klare Schlussfolgerungen verhindert.“
„Aufgrund der geringen Qualität, der geringen Anzahl und der Heterogenität der Studien lassen die aktuellen Daten einen entscheidenden Rückschluss auf die Wirksamkeit von IHT (individualisierten homöopathischen Therapien) nicht zu. Die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse wird durch die insgesamt identifizierte variable externe Validität eingeschränkt […]. Künftige OTP-kontrollierte Studien (Anm:other than placebo, also gegen Standardtherapien oder ganz ohne Behandlung getestet) in der Homöopathie sollten so weit wie möglich darauf abzielen, sowohl die interne Validität als auch die externe Validität zu fördern.“
„Wenn die Wirksamkeit der Homöopathie mit einem Placebo vergleichbar ist und eine Behandlung mit Placebo bei manchen Beschwerden wirksam sein kann, dann kann man die Homöopathie insgesamt als Placebotherapie ansehen. Die Interpretation der Homöopathie als Placebotherapie definiert Grenzen und Möglichkeiten dieser Lehre.“
Die Arbeit vergleicht Homöopathie mit sogenanntem „offenen Placebo“, also Behandlungen, bei denen den Patienten mitgeteilt wird, dass sie ein Placebo erhalten. Das Ergebnis stellt fest, dass die Wirksamkeit der Homöopathika der offenen Placebobehandlung entspricht.
Es scheint Intention dieser Arbeit zu sein, die Homöopathie als Placebotherapie zu „legitimieren“, was ein Kurswechsel in dem Bemühen wäre, eine Wirksamkeit der Homöopathie mit den Methoden der Evidenzbasierten Medizin nachzuweisen. Es muss allerdings der Tendenz entgegen getreten werden, auf diese Weise Homöopathie als Teil von Medizin zu rechtfertigen, was inzwischen sogar von der klinischen Placeboforschung ausdrücklich hervorgehoben wird (so Benedetti F, The Dangerous Side of Placebo Research: Is Hard Science Boosting Pseudoscience?, Clinical Pharmacology & Therapeutics Vol 106 No 6 Dec 2017).
„Die aktuellen Daten lassen eine entscheidende Aussage über die vergleichbare Wirksamkeit von NIHT (Nichtindividualisierte homöopathische Therapie, Behandlung mit Standardmitteln) nicht zu. Die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse wird durch die insgesamt festgestellte begrenzte externe Validität (Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse) eingeschränkt. Die höchste intrinsische Qualität wurde in den Äquivalenz- und Nichtunterlegenheitsstudien von NIHT beobachtet.“
Auch diesmal kommt Mathie, was die Qualität der von ihm betrachteten Studien angeht, zu einem vernichtenden Ergebnis: Von 17 eingeschlossenen Arbeiten war keine einzige mit einem „low risk of bias“, also einer ausreichenden Qualität und Aussagekraft, zu bewerten. 13 davon waren gar mit einem „high risk of bias“ einzustufen. Was dies bedeutet, ist nachstehend in der Gesamtbewertung der Studienlage erläutert.
Bewertung der Gesamtevidenz aus den indikationsübergreifenden Reviews im Zeitraum von 1991 bis 2019
Reviews / Metaanalysen stellen die zuverlässigste Quelle für die Beurteilung von Evidenz dar und repräsentieren so in der Hierarchie von Evidenz die höchste Stufe. Sie fassen Einzelstudien bzw. vorherige Analysen unter Berücksichtigung der Qualität und Validität ihrer Ergebnisse zusammen und ermöglichen so eine Gesamtschau auf die Evidenzlage zu medizinischen Methoden / Mitteln.
Die Ergebnisse der großen indikationsübergreifenden Reviews zur Homöopathie ergeben durchweg ein einheitliches Fazit: Man erhält auf den ersten Blick den Eindruck, dass es einen gewissen Nutzen geben könnte. Aber bei der – elementar wichtigen – Einbeziehung der Qualität der Aussagen in die Betrachtung oder bei dem Versuch, konkret festzustellen, für wen sich unter welchen Bedingungen sich ein Nutzen ergibt, verschwindet der positive Eindruck und zeigt sich als Trugschluss.
Zusammengefasst: Die Gesamtevidenz zur Homöopathie stellt sich so dar, dass es keinen belastbaren Nachweis dafür gibt, dass Homöopathie stärker wirkt als Placebo / Kontexteffekte. Alle zitierten Arbeiten kommen zu dem gleichen Schluss, sowohl die von homöopathischer Seite heftig kritisierten Arbeiten von Shang und des NHMRC als auch die Arbeiten Mathies, der seine vier Reviews der Gesamtstudienlage für das Homeopathy Research Institute durchgeführt hat, das zu den ständigen Kritikern der nicht von Homöopathen erstellten Reviews gehört. Die vielfach euphemistisch-ausweichend formulierten „Conclusions“ der von homöopathischer Seite durchgeführten Reviews dürfen über die nirgends belegte Evidenz für die Homöopathie nicht hinwegtäuschen, nicht zuletzt, weil sie Vertretern der Homöopathie in Diskussionen die Möglichkeit bieten, scheinbar positive Aussagen (selektiv) zu zitieren.
Die stets konstatierte mangelnde Qualität der untersuchten Studien darf nicht fälschlich als Relativierung des für die Homöopathie negativen Ergebnisses verstanden werden. Fehler und methodische Unzulänglichkeiten in Studien und Studiendesign wirken sich nahezu zwangsläufig in Richtung des sogenannten Alpha-Fehlers, also eines falsch-positiven Ergebnisses, aus und nicht umgekehrt.
Dies wird auch dadurch bestätigt, dass unter Einbeziehung der qualitativ besten Arbeiten die positiv erscheinenden Effekte sich nicht verstärken, sondern tendenziell verschwinden. Dies zeigen auch viele der hier angeführten Reviews immer wieder.
In einzelnen Reviews ist sogar zu bemängeln, dass methodisch gute Studien mit einem negativen Ergebnis für die Homöopathie gänzlich unberücksichtigt geblieben sind (z.B. bei Mathie 2014, wo bei Einbeziehung dieser Arbeiten das schwache Ergebnis zugunsten der Homöopathie vollends obsolet gewesen wäre).
II
Stellungnahmen von wissenschaftlichen Organisationen und staatlichen Stellen zur Homöopathie
„Dieses Memorandum stellt fest, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft Homöopathie heute als Pseudowissenschaft betrachtet. Ihre Verwendung in der Medizin steht im Gegensatz zu den grundlegenden Zielen der nationalen Gesundheitspolitik […].
Somit basiert die Homöopathie auf theoretischen Positionen, die in großen Teilen direkt grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien und Gesetzen der Physik, Chemie, Biologie und Medizin widersprechen. Keinerlei empirische Daten aus unabhängigen, hochqualitativen klinischen Studien bestätigen die klinische Wirksamkeit von homöopathischen Mitteln.“
„Die Homöopathie sollte nicht zur Behandlung chronischer, ernster oder schwerwiegender Gesundheitszustände eingesetzt werden. Menschen, die sich für die Homöopathie entscheiden, können ihre Gesundheit gefährden, wenn sie Behandlungen ablehnen oder verzögern, für die es gute Beweise für Sicherheit und Wirksamkeit gibt.“
Die Aufnahme anthroposophischer und homöopathischer Produkte in die schwedische Arzneimittelrichtlinie würde mehreren Grundprinzipien für Arzneimittel und evidenzbasierte Medizin zuwiderlaufen. Es ist grob irreführend, Homöopathika als Medikamente zu bezeichnen.
Wir empfehlen Eltern und Betreuungspersonen, Kindern keine homöopathischen Kinderzahntabletten und -gele zu geben und sich von ihrem Arzt beraten zu lassen, um sichere Alternativen zu finden.
Verwenden Sie die Homöopathie nicht als Ersatz für eine bewährte konventionelle Behandlung oder um den Besuch bei einem Arzt wegen eines medizinischen Problems zu verschieben.
„Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass das Produkt wirkt Die Erklärungen zum Produkt basieren ausschließlich auf den Theorien der Homöopathie aus dem 18. Jahrhundert, die von der Mehrzahl der heutigen medizinischen Fachleute nicht akzeptiert werden.“
Homöopathische Mittel sind nicht besser als Placebos, und die Prinzipien, auf denen die Homöopathie beruht, sind wissenschaftlich nicht plausibel. Schlussfolgerung: Homöopathie sollte nicht vom National Health Service unterstützt werden und die MHRA (Arzneimittel-Zulassungsbehörde) sollte die Lizensierung homöopathischer Produkte beenden.
Es gibt keine qualitativ hochwertigen Belege dafür, dass die Homöopathie als Behandlung für irgendeine medizinische Indikation wirksam ist. Homöopathie ist im besten Falle Placebo.
„Die Royal Pharmaceutical Society (RPS) unterstützt die Homöopathie als Behandlungsform nicht, da es weder eine wissenschaftliche Grundlage für die Homöopathie noch Belege für eine klinische Wirksamkeit homöopathischer Produkte über den Placebo-Effekt hinaus gibt.
Die RPS unterstützt keine Verschreibung homöopathischer Produkte im Rahmen des NHS (inzwischen erledigt mit der Übernahme der NHS-Empfehlungen zur Homöopathie durch sämtliche englischen Regionalorganisationen).
Apotheker sollten sicherstellen, dass Patienten die Einnahme ihrer verschriebenen konventionellen Medikamente nicht einstellen, wenn sie ein homöopathisches Produkt einnehmen oder dies in Erwägung ziehen.
Apotheker müssen sich darüber im Klaren sein, dass Patienten, die nach homöopathischen Produkten fragen, schwere, nicht diagnostizierte Krankheiten haben können, die die Inanspruchnahme eines Arztes erfordern.
Apotheker müssen Patienten, die ein homöopathisches Produkt in Betracht ziehen, über dessen mangelnde Wirksamkeit über Placeboeffekte hinaus beraten.“
“(…) Homöopathie hat nichts mit Medizin zu tun (außer dem Phänomen des Placebos), und ihre therapeutischen Prinzipien basieren auf der pseudowissenschaftlichen Prämisse, dass “Ähnliches mit Ähnlichem behandelt werden kann.“
„Aus rein klinischer Sicht bleibt festzuhalten, dass es keinen gültigen empirischen Nachweis für die Wirksamkeit der Homöopathie (evidenzbasierte Medizin) über den Placeboeffekt hinaus gibt.“
„Wir erkennen an, dass ein Placebo-Effekt bei einzelnen Patienten auftreten kann, aber wir stimmen mit früheren umfangreichen Evaluierungen überein, die zu dem Schluss kommen, dass es keine bekannten Krankheiten gibt, für die robuste, reproduzierbare Beweise existieren, dass Homöopathie über den Placebo-Effekt hinaus wirksam ist.“
„Homöopathie ist eine Methode, die vor zwei Jahrhunderten auf der Grundlage von a-priori-Konzepten ohne wissenschaftliche Grundlagen entwickelt wurde.“
Ohne die Freiheit kritischer oder divergierender Meinungen jedes Einzelnen im öffentlichen Raum in Frage zu stellen, fordert der Nationalrat der Ärztekammer:
dass der Begriff „Medizin“ als Voraussetzung für jedes therapeutische Vorgehen als erstes einen medizinischen Prozess der klinischen Diagnose beinhaltet, der gegebenenfalls durch zusätzliche Untersuchungen unter Hinzuziehung kompetenter Dritter ergänzt wird;
dass jeder Arzt Medizin nach wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen und Daten sowohl bei der Erstellung der Diagnose als auch beim Therapievorschlag praktizieren muss.
Insgesamt zeigten keine belastbaren Studien die Überlegenheit homöopathischer Arzneimittel gegenüber konventionellen Behandlungen oder dem Placebo in Bezug auf die Wirksamkeit.
„Über homöopathische Produkte: [Die Ärztekammer …] sieht es insofern als unethisch an, dass Methoden, aber auch Verschreibungen von Arzneimitteln als wirksame Therapien dargestellt und vorgeschlagen werden, bei denen wissenschaftliche Grundlagen fehlen, denen illusionäre Vorstellungen zugrunde liegen oder die sich praktisch unzureichend bewährt haben.
Aus diesen Gründen wird die Verantwortung des Arztes öffentlich eingefordert und an seine Pflichten gegenüber dem Patienten und dem Berufsstand gegenüber erinnert.
Was den europäischen Bereich betrifft, so ist – abgesehen natürlich von den Ländern, bei denen Homöopathie in den Gesundheitssystemen ohnehin keine Rolle spielte – Deutschland das einzige Land, das nach der Veröffentlichung des als Empfehlung an die Regierungen und die EU-Kommission gedachten Statements zur Homöopathie keinerlei Veränderungen im Arzneimittel- und Sozialrecht vorgenommen hat. Damit kann mit Fug und Recht festgehalten werden, dass Deutschland in dieser Hinsicht die europäische „Rote Laterne“ innehat – hinten am letzten Waggon mit der Bremsanlage.
III
Gesundheitspolitische / staatliche Maßnahmen zur Homöopathie im Gesundheitswesen
USA – Federal Trade Commission (US-Verbraucherschutzbehörde) – 2016
„Diese Irreführung der Kunden (Verkauf als Arzneimittel ohne wissenschaftlichen Wirkungsnachweis) könne dadurch beseitigt werden, dass die Hersteller in ihren Begleitmaterialien („marketing materials“) angeben, dass es
keine wissenschaftlichen Belege dafür gäbe, dass das Produkt wirkt und dass sich
die Angaben lediglich auf die Theorien der Homöopathie, die aus dem 18. Jahrhundert datieren, abstützen, die von den meisten modernen medizinischen Fachleuten nicht akzeptiert werden.“
Russische Föderation, Russische Akademie der Wissenschaften / Gesundheitsministerium – 2017
Die „Kommission zur Bekämpfung von Pseudowissenschaften“ am Präsidium der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS) hat 2017 ein Memorandum „Über die Pseudowissenschaft Homöopathie“ herausgegeben. Die RAS hat auf der Grundlage eines interdisziplinären Fachgutachtens die Homöopathie als Pseudomedizin eingestuft und erklärt, dass künftige Erkenntnisse, die dies revidieren könnten, nicht zu erwarten sei (deutsche Übersetzung hier). Die Homöopathie soll aus allen Ebenen des öffentlichen Gesundheitswesens entfernt werden. Als Maßnahmen wurden dem Gesundheitsministerium zur Umsetzung u.a. vorgeschlagen:
[…] Die postgraduale Ausbildung zukünftiger Ärztinnen und Ärzte hat darauf abzuzielen, diese mit den Grundannahmen pseudowissenschaftlicher Methoden – einschließlich Homöopathie – und der Kritik daran, die zur Einstufung als Pseudowissenschaft führt, vertraut zu machen.
Versicherungen haben sich an die gängige Praxis zu halten, die keine Leistungserbringung für Homöopathie vorsieht.
Kein gleichberechtigter Apothekenverkauf von Arzneimitteln und homöopathischen Präparaten. Homöopathische Medikamente sollten in einer separaten Vitrine vorgehalten werden.
Keine Beratung von Patienten mehr zu homöopathischen Mitteln. Pflichtberatung in Apotheken bei Patienten, die homöopathische Mittel verlangen, dahingehend, dass die Homöopathie nach wissenschaftlichen Kriterien keinen Wirkungsnachweis erbringen konnte.
Verpflichtung der Ärzte zur Information von Patienten über die Wirkungslosigkeit der Homöopathie und ihre Einstufung als Pseudomedizin. Keine Zusammenarbeit mit Organisationen, die weiterhin Homöopathie fördern und verbreiten. Eine Verschreibung homöopathischer Mittel ist als unethisch anzusehen, und zwar auch dann, wenn nur der Placebo-Effekt erreicht werden soll. […]
Australien, Gesundheitsministerium und Verband der Versicherungsanbieter / Pharmaceutical Society of Australia) – 2017
Homöopathie wurde bislang nur innerhalb von privaten Zusatzmodulen zur gesetzlichen Krankenversicherung angeboten. Das australische Gesundheitsministerium und die Versicherungsträger haben sich 2017 darauf geeinigt, Homöopathie-Erstattungen (neben anderen Methoden ohne Wirkungsnachweis) auch im Bereich der privaten Zusatzversicherung nicht mehr zuzulassen. Damit wurde einer Empfehlung des Royal Australian College of General Practitioners(der Allgemeinärzteorganisation Australiens) als Konsequenz aus dem NHMRC-Review von 2015 gefolgt. Die Entscheidung wurde 2019/20 nochmals evaluiert und blieb unverändert.
Gesundheitsministerium und Apothekerverband haben als Fazit einer gemeinsamen Begutachtung erklärt, dass „diese Produkte (Homöopathika) keine Evidenzbasis hätten und ausreichende Beweise für ihre Nichtwirksamkeit bestünden, um aus ethischen Gründen ihren Verkauf in öffentlichen Apotheken auszuschließen. Die Pharmaceutical Society of Australia und andere Berufsvereinigungen haben ergänzend erklärt, dass sie den Verkauf und das Vorhalten von Homöopathika in öffentlichen Apotheken nicht unterstützen.
Nachtrag: Inzwischen hat sich dies im offiziellen PSA Code of Ethics for Pharmaceutics niedergeschlagen. Aufgrund dessen hat die PSA nun Werbetreibenden und Einkaufsgemeinschaften des pharmazeutischen Bereichs dringend empfohlen, in keiner Form für Homöopathika zu werben.
Vereinigtes Königreich, National Health Service – 2017
Der National Health Service (NHS), der Träger des Gesundheitssystems in Großbritannien, hat die Verschreibungsfähigkeit von Homöopathika (und 17 weiteren Mitteln, durchweg pflanzliche Remedia) beendet. Die Regionalorganisationen des NHS erhielten entsprechende „Blacklists“. Der Schritt erfolgte wegen „geringer klinischer Wirksamkeit“ und/oder „geringer Kosteneffizienz“. Speziell die Homöopathie sei „im besten Fall Placebo”.
Der NHS folgt damit einer bereits aus dem Jahre 2009 stammenden Empfehlung des Science and Technology Committee des House of Commons: „Homeopathy should not be funded on the NHS and the MHRA should stop licensing homeopathic products… We conclude that the Government’s policies on the provision of homeopathy through the NHS and licensing of homeopathic products are not evidence-based“).
Spanisches Gesundheitsministerium – 2017
Die spanische Gesundheitsministerin hat den Regionen per Erlass die Erstattung von Homöopathie im Krankenversicherungssystem ausdrücklich untersagt und wiederholte Verstöße der Regionen gegen die entsprechende bisherige Weisung gerügt. Noch bestehende Genehmigungen für Homöopathika-Erstattungen in der Region Valencia (nach dem sog. Königl. Dekret 1/2015) wurden zurückgezogen.
Food and Drug Administration, USA – 2017
Die Food and Drug Administration (FDA), die US-amerikanische Arzneimittelbehörde, hat in einer Pressemitteilung vom 18.12.2017 erstmals Regulationsvorschriften für den Vertrieb und Verkauf von Arzneimitteln ohne Wirkungsnachweis, insbesondere der Homöopathie, angekündigt. Sie erkennt damit ausdrücklich die Risiken an, die damit verbunden sind, dass Patienten Mitteln ohne Wirkungsnachweis auch bei schwereren Erkrankungen vertrauen könnten. Aus der Pressemitteilung:
„Bis vor relativ kurzer Zeit war die Homöopathie ein kleiner Markt für Spezialprodukte. Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist der Markt für homöopathische Arzneimittel exponentiell gewachsen. Dies hat eine Industrie mit einem Volumen von fast 3 Milliarden US-Dollar hervorgebracht, was entsprechend mehr Patienten den potenziellen Risiken aussetzt, die mit der Verbreitung von unbelegten, nicht getesteten Produkten und unbegründeten gesundheitsbezogenen Angaben verbunden sind. […]
Der Leitlinienentwurf ist ein wichtiger Schritt in der Arbeit der Agentur zum Schutz der Patienten vor unbewiesenen und potenziell gefährlichen Produkten. […]“
Schweiz – Einführung der Erstattungsfähigkeit von Homöopathie als „politischer Kompromiss“ ohne Wirksamkeitsnachweis – 2017
Die Situation in der Schweiz stellt einen Sonderfall dar. Derzeit ist die allgemeine Krankenversicherung ermächtigt, Kostenerstattungen für fünf „komplementärmedizinische Methoden“ (darunter die Homöopathie) zu leisten. Dies geschieht jedoch nicht aufgrund von Evidenznachweisen.
Parallel zu einer ersten „probeweisen“ Einführung der Kostenerstattung für fünf „komplementäre“ Methoden (darunter Homöopathie) wurde 1999 in der Schweiz ein Programm zur Evaluation gestartet, von dem die zukünftige Handhabung abhängen sollte (PEK – Programm Evaluierung Komplementärmedizin). Bezüglich der Homöopathie führte dieses Programm zu der unter I.5 gelisteten Studie Shang et al. Diese erbrachte (ebenfalls) keinen belastbaren Wirkungsnachweis für die Homöopathie (sie verursachte jahrelang massive Kontroversen in der Fachwelt, ist bis heute noch Gegenstand von Diskussionen, die Richtigkeit der Gesamtaussage konnte jedoch niemals erschüttert werden). Daraufhin wurde die Erstattungsfähigkeit der fünf Verfahren – einschließlich der Homöopathie – in der Schweiz wieder beendet.
Per Volksentscheid „Für den Erhalt von Komplementärmedizin“ wurde dessen ungeachtet erreicht, die Komplementärmedizin als Teil der Gesundheitsfürsorge in der schweizerischen Verfassung zu verankern. Die Umsetzung dieser Entscheidung nahm erhebliche Zeit in Anspruch und endete in einem politischen „Kompromiss“: In einem „Vertrauensbonus“ für die Komplementärmedizin. Ungeachtet der nach wie vor nicht belegten Evidenz der Wirksamkeit werden seit dem 01.07.2017 pauschal die in Rede stehenden fünf Therapien in den Leistungskatalog aufgenommen und erst dann, wenn Ärzte- oder Patientenorganisationen einen Antrag auf Überprüfung stellen, sollen diese im Einzelfall „auf ihren therapeutischen Nutzen“ untersucht werden.
Die derzeit bestehende Kostenerstattungsfähigkeit für Homöopathie im Schweizer Gesundheitssystem ist also keineswegs ein Beleg für eine anerkannte Evidenz der Methode, wie oft und gern behauptet wird. Die derzeitige Situation in der Schweiz ist mit den Ergebnissen der eigenen Evaluation (Arbeit Shang et al.) unvereinbar.
Die ganze Geschichte dieses langjährigen Prozesses beschreibt das Informationsnetzwerk Homöopathie hier.
Die spanische Gesundheitsministerin hat sich im Interview mit La Vanguardia , klar zur Homöopathie als Pseudowissenschaft positioniert:
„Die Homöopathie ist eine „alternative Therapie“, die wissenschaftlich nicht belegt ist. … Gesundheitseinrichtungen haben die Pflicht, Produkte mit nachgewiesener Wirkung zu verwenden, d.h. Medikamente, die strengen klinischen Studien und Kriterien unterzogen wurden. Wenn homöopathische Arzneimittel wissenschaftliche Nachweise erbringen, werden sie als solche angesehen. Das ist nicht mehr der Fall. … Wir arbeiten mit dem Wissenschaftsministerium an einer Strategie zur Bekämpfung der Pseudowissenschaften. Sobald diese Strategie vorliegt, werden wir Maßnahmen zu einzelnen Methoden / Mitteln vorlegen, aber es ist klar, dass es vordringlich ist, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und aufzuzeigen, welche Produkte für die Gesundheit nützlich sind und welche nicht, und den Schaden zu erklären, den die Entscheidung für eine alternative Therapie anrichten kann.“
„Ab dem 1. Juli (2020) darf ein homöopathisches Arzneimittel nur dann mit einer therapeutischen Indikation vermarktet werden, wenn die Wirksamkeit der Behandlung durch klinische Studien bestätigt wurde. Solche Mittel existieren derzeit jedoch nicht.
Ab dem Stichtag können homöopathische Arzneimittel nur in Ungarn ohne “therapeutische Indikation” vermarktet werden, da ihre Indikation für die auf dem Markt befindlichen Produkte durch eine klinische Studie nicht bestätigt wurde.
Die Werbung für marktfähige homöopathische Arzneimittel wird daher ab dem 1. Juli 2020 möglicherweise nur noch den Etikettentext des Produkts und keine zusätzlichen Informationen enthalten.“
Durch die Änderung des Gesetzes zur Änderung der Rechtsvorschriften über Humanarzneimittel und anderer Rechtsvorschriften zur Regulierung des Pharmamarkts (in Kraft getreten zum 01.01.2020) hat Ungarn das Zulassungsregime für homöopathische Mittel, die mit einer Indikation auf den Markt kommen wollen, verschärft. Solche Mittel müssen nun ausnahmslos mit klinischen Studien auf wissenschaftlicher Basis ihre Wirksamkeit nachweisen. Die zum Stichtag auf dem Markt befindlichen Mittel mit Indikation genießen keinen Bestandsschutz. Im Ergebnis ist nach dem 01. Juli 2020 in Ungarn kein homöopathisches Mittel mehr auf dem Markt, das mit einer Indikationsangabe versehen ist oder werben darf.
In Deutschland würde dies einer Abschaffung des Kerns des Binnenkonsens entsprechen, indem der Kommission D beim BfArM die Möglichkeit genommen würde, indikationsbezogene Zulassungen auf der Grundlage „homöopathischen Erkenntnismaterials“ nach selbstgesetzten Kriterien auszusprechen.
Die Zusammenstellungen unter II und III erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Gelegentlich, doch viel zu selten habe ich darauf hingewiesen, dass die unsägliche TCM mit ihrem Aushängeschild Akupunktur von der chinesischen Regierung schon lange als Exportartikel promoted wird, um sich in den westlichen Gesundheitssystemen zu etablieren. Der größte Erfolg in dieser Hinsicht dürfte sein, dass TCM-Diagnosekriterien Aufnahme in einem eigenen Hauptabschnitt in der bald in Kraft tretenden Neufassung des ICD (International Classification of Diseases) der WHO gefunden haben. Das ICD-Manual ist weltweit in Gebrauch und in manchen Ländern maßgeblich dafür, was das Gesundheitssystem anerkennt. Mahlzeit.
Schon 2014 hatte sich die WHO zu „traditioneller Medizin“ einschließlich TCM und Homöopathie in einem Strategiepaper für die Jahre 2014 – 2023 sehr wohlwollend geäußert. Dazu ist es interessant zu erfahren, dass das National Institute of Complementary Medicine in Australien dieses WHO-Paper in den Himmel gehoben und massiv promoted hatte. Seine eigenen Aktivitäten bewarb es allen Ernstes als „direkt von der WHO in Auftrag gegeben“. In Beijing dürfte darauf das eine oder andere Gläschen Moutai geleert worden sein …
Was steckte dahinter? Es stellte sich heraus, dass ein Mitarbeiter des NICM, der kanadische Naturheilkundler Michael Smith, einer der Verantwortlichen für die Ausarbeitung dieses WHO-Berichts war. Man muss sich das also mal vorstellen. Die WHO ist also so unkritisch in Sachen „traditionelle Medizin“ gewesen, dass sie es zuließ, einem Heilpraktiker (ich verwende diesen Begriff hier einmal) Mitverantwortung bei der Veröffentlichung eines äußerst wichtigen WHO-Strategiedokuments zu übertragen. Was die Präsenz von TCM in Australien etwas bremsen, aber nicht aufhalten konnte. Von dem Rückenwind durch das ICD-11 ganz zu schweigen. Wer übrigens so etwas wie Evidenzbelege in diesem 76-Seiten-Paper unter der Flagge der WHO sucht, der sucht vergebens.
Schlimm genug (nach meiner Einschätzung eine Folge der chinafreundlichen Haltung der langjährigen WHO-Präsidentin Margaret Chan, eine Geschichte für sich).
Nun treten die Inder auf den Plan und beglücken afrikanische Staaten mit ihrem AYUSH-Unsinn. Ich setze mal voraus, dass bekannt ist, was AYUSH darstellt? Ein seit 2014 existierendes Parallel-Gesundheitsministerium für die „traditionellen Medizinen“ Indiens, wozu bemerkenswerterweise auch die Homöopathie gerechnet wird (das „H“ am Ende). Dieser Laden und das „echte“ Gesundheitsministerium stehen sich einigermaßen unversöhnlich gegenüber, kein Wunder. Nur: der Hintergrund der Installation von AYUSH war die ausgesprochen nationalistisch angelegte indische Politik seit dem Regierungswechsel 2014, die den Laden nach wie vor trägt – und in jeder Hinsicht bevorzugt. Zu Lasten der Chance, wenigstens eine minimale Gesundheitsinfrastruktur auf wissenschaftlicher Basis aufzubauen.
Unvergessen, wie AYUSH seine Mittel – auch und gerade die Homöopathie – in der Pandemie breit promotete und auch die Falschmeldung verbreitete, Prinz Charles habe seine COVID-Infektion mittels Ayurveda, Homöopathie und der Verhaltensempfehlungen von AYUSH überwunden …
Aktuell ist zu vernehmen, dass AYUSH in Afrika Kampagnen gestartet hat, um Ayurveda dort auf breiter Front zu promoten. Was mich persönlich an die unsäglichen „Homöopathen ohne Grenzen“ erinnert, die seinerzeit dort aufliefen, um Ebola mit Globuli zu behandeln … und vom offenbar aufgeklärten Westafrika gleich wieder nach Hause verfrachtet wurden. Bemerkenswert ist zudem, dass in Indien selbst AYUSH zwar durchaus eine starke Stellung (Rückenwind von ganz oben) hat, aber vom „echten“ Gesundheitsministerium und der Indian Medical Association mit allen Mitteln immer wieder in die Schranken gewiesen wird – soweit möglich.
Leider ist Westafrika offenbar kein aktuelles Modell im Umgang mit international tätigen Promotern von Pseudomedizin. Wie „Medical Dialogues“ berichtet, macht ausgerechnet AYUSH in Afrika „Fortschritte“.
Sarbananda Sonowal, der AYUSH-Minister der indischen Union, macht gewaltige Ankündigungen. Glaubt man ihm, werden seine Heilslehren bald „global eine große Rolle in den Gesundheitssystemen spielen“ und das gleich „zum Wohle der ganzen Menschheit“. Dies alles mit massivem Rückenwind von Regierungschef Narendra Modi. Man kooperiere bereits mit „über 50 Staaten“. Und der Hinweis auf die angeblichen Erfolge von AYUSH in der Pandemie darf natürlich auch nicht fehlen. Ich vermute mal, die bestanden in einer beklagenswerten Zahl unnötig Verstorbener und Erkrankter.
Und die allfällige Anekdote gibts natürlich auch. Die Tochter des früheren Premierministers von Kenia habe ihr Augenlicht nach einer Behandlung in einer ayurvedischen Klinik in Kerala wiedererlangt. Natürlich beeilte sich der Vater mit Danksagungen in Richtung Indien und wird vermutlich bei denen sein, die die Bemühungen von AYUSH unterstützen, die Gesundheitsversorgung in Afrika noch schlechter zu machen als sie eh schon ist.
Nein danke. Wir sehen, was der Antrieb für unwissenschaftlichen Unsinn sein kann: in diesem Falle nationale Verblendung kombiniert mit wirtschaftlichen Interessen. Nicht so fernliegend, wir wissen auch hierzulande sehr gut, wie völkisches Gedankengut und „alternative Medizin“ sich ergänzen können. Und wohlgemerkt: ich beklage hier nicht mit überheblichem Ton irgendwelche „Rückständigkeit in fernen Ländern“. Ich beklage, dass von Indien und China, machtvollen und einflussreichen Ländern, mit tatkräftiger Mithilfe der WHO weltweit sinnlose Pseudomedizin angedient wird.
OB sich die Chinesen den TCM-Markt in Afrika wohl streitig machen lassen werden? AYUSH kann immerhin keine Adelung durch das ICD-11 vorweisen … Und die Chinesen sind ja durch ihr massives landgrabbing in Afrika dort längst präsent, längst ist die Rede von einer „neuen Kolonialmacht“.
Neokolonialismus in unerwarteter Form. Mich wundert auf dieser Welt gar nichts mehr. Es sei aber auch nicht verschwiegen, dass so etwas nur möglich ist, weil der Westen viel, viel zu wenig getan hat, um in den bedürftigen afrikanischen Staaten grundlegende Strukturen von Gesundheitssystemen zu fördern. Ein Symptom dafür ist auch die Covid-Durchimpfungsrate auf dem afrikanischen Kontinent von ganzen 18 Prozent (davon 5 Prozent unvollständig geimpft, Stand 22. Februar 2022) … Dazu muss man wissen, dass das ohnehin schleppende COVAX-Projekt der WHO, mit der die Impfung in die Entwicklungsländer gebracht werden soll, ohnehin nur das bescheidene Ziel einer Impfung von 20 Prozent der jeweiligen Bevölkerung hat.
Eine Welt, geprägt von Aufklärung und Humanismus? So sicher nicht …
Da kommt auch auf uns hier noch einiges zu an unsinnigem und gefährlichem Pseudokram mit viel Rückenwind. China und vielleicht auch Indien werden sich den lukrativen Pseudomedizin-Markt hierzulande nicht entgehen lassen – die TCM ist ja längst irgendwie präsent und die Akupunktur sozusagen dabei, die „zweite Homöopathie“ zu werden – allgemein positiv konnotiert, aber evidenzfrei. Dass gerade die deutschsprachigen Länder für solche Sachen höchst empfänglich sind, wissen wir zur Genüge.
Danke fürs Lesen bis zum Schluss. Es sei aber auch auf die im Text enthaltenen Links hingewiesen. Es sind ziemlich viele, teils lang, manchmal auf Englisch, aber sehr erhellend. Das Thema ist insgesamt noch viel größer, als ich es hier anreißen kann.
Dieser Artikel erschien auch leicht abgewandelt unter dem Titel „Die Flut der Pseudomedizin“ beim Humanistischen Pressedienst.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“ und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.
Peter Teuschel erinnerte vor einiger Zeit daran, wozu sich die AutorInnen des „Erdblogs“ damals (2017)zusammengefunden hatten: um dem erwartbaren Gegenwind für Ratio und Wissenschaft, den ein „unexpected POTUS“ namens Trump jenseits des Atlantiks mit einiger Sicherheit mit sich bringen würde, halb präventiv, halb kurativ etwas entgegenzusetzen. Auf unseren vergleichsweise begrenzten, aber für die Menschen sehr relevanten Gebieten der Medizin und der Psychologie.
Der genannte POTUS ist nun schon eine ganze Weile überstanden. Ist es deshalb an der Zeit, durchzuatmen, den Staub von den Kleidern zu klopfen und mit einem „wir sind noch einmal davongekommen“ zur Tagesordnung überzugehen? (Das wurde geschrieben, als man sich eine Wiederkehr von Trump auf den Thron kaum bis nicht vorstellen konnte.)
Ersichtlich nicht. Eher sind viele Tendenzen, von denen das Zerrbild eines Präsidenten namens Trump nur ein Teil war, zu einer neuen Qualität von Irrationalität und Faktenleugnung, zu einer post-postfaktischen Situation emergiert. Neue Qualitäten der Irrationalität, der Negation von Fakten, der Vergötzung der eigenen Meinung als sehr bewusst zur Schau getragener „Gegenpol“ zum Reich der Fakten sind entstanden und fast alle haben eine gesellschaftlich-politische Dimension bekommen.
Die Pandemie—Situation hat deutlich werden lassen, wie recht Popper mit seiner Diagnose hatte, der Mensch sei noch längst nicht aus der geschlossenen, der kollektivistischen Gesellschaft in die offene, individuelle übergetreten, die ihn sowohl mit Freiheit wie mit Verantwortung konfrontiert, ja, ihm diese abverlangt. Verschwörungstheorien werden zu Ersatzreligionen, haben eine Sinnlücke zu füllen, mit der viele Individuen überfordert sind. Fakten und Ratio mit ihren oft unausweichlichen Implikationen bleiben bei einem vermeintlichen Kampf gegen angebliche übermächtige globale Kräfte auf der Strecke und werden nur als aufoktroyierte Zwänge gesehen. Die Aufklärung gerät unter die Räder. Antiaufklärerische Tendenzen beginnen, sich in der Politik zu etablieren, flankiert von einer gewissen Hilflosigkeit, die auch in Kommunikationsproblemen ihren Ausdruck fand.
Wie ein Brennglas hat die Pandemie gezeigt, welche grotesken Zerrbilder fanatische Irrationalität erzeugen kann. Proponenten der Impfgegnerschaft sind auf der Bildfläche erschienen, die sich nicht einmal mehr die Mühe scheinwissenschaftlicher Tarnung ihrer Argumentationen machen, bei denen man sich ernstlich nach den Mechanismen fragt, die solche Karikaturen der Fakten hervorbringen, wie sie dann von einem buchstäblich gläubigen Publikum tatsächlich breit rezipiert und weitergetragen werden. Andere traten mit der Autorität von akademischen Titeln auf den Plan und forderten – gleich, ob damit nun Expertise verbunden war oder nicht, damit Glaubwürdigkeit ein. Viele Menschen meinten, Pseudo-Gurus ihrer unverbrüchlichen Gefolgschaft versichern zu müssen, was teils groteske Formen annahm. Vertrauen, in einer wissensbasierten Gesellschaft unverzichtbar, wird nicht mehr den wirklichen Experten, sondern den Opponenten derselben entgegengebracht. Aufklärung geriet an Grenzen, wiewohl sie dadurch nicht in Frage gestellt wird. Nicht einmal die normative Kraft des Faktischen konnte eine Vielzahl Irregeleiteter überzeugen. Keine tausenden von Toten auf den Straßen, keine genmanipulierten Zombies in den U-Bahnen der Republik, keine offensichtliche Gedankenkontrollen durch verimpfte Chips von Gates, Soros und Co. – und gleichwohl …
Die post-postfaktischen Gruppen werden kleiner, aber auch lauter und radikaler, sie wenden sich längst beliebigen Themen zu und scheren sich gar nicht mehr um die verbrannte Erde, die sie woanders hinterlassen haben. Und zu diesem weiten Feld der verbrannten Erde gehören auch die Themenbereiche, deren wir uns in der Hoffnung auf künftig bessere Zeiten vor gut fünf Jahren angenommen hatten: die der Medizin und der Psychologie.
Scheinbar dagegen stehen Untersuchungen, die von einem unter der Pandemie gewachsenen Vertrauen in die Wissenschaft berichten – und der Ansicht vieler, dass die Politik sich stärker nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten auszurichten habe. Ich gestehe, dass meine (völlig unmaßgebliche) „persönliche Erfahrung“ konträr zu diesen Ergebnissen steht, aber ich bin nicht verblendet genug, um nicht zu wissen, dass dies auch der Innensicht meiner kritisch-skeptischen „Blase“ geschuldet sein mag.
Aber nehmen wir einmal diese vergleichsweise große Zustimmung zur „Wissenschaft“. Im September 2019, also vor Ausbruch der Pandemie, gaben 46 Prozent der Befragten an, sie hätten Vertrauen in die Wissenschaft. Kurz nach Beginn der Pandemie, im April 2020, zeigte das Barometer einen Wert von 73 Prozent. Der sank zwar bis November 2020 auf 61 Prozent ab, was aber immer noch mehr war als die Zustimmungsrate vor der Pandemie.
Gut und schön. Reine Zahlen allerdings, die vielleicht einer vorsichtigen Hinterfragung bedürfen. Denn was heißt schon „Zustimmung zur Wissenschaft“? Ist das wirklich durchweg mehr als ein Lippenbekenntnis? Sind die Menschen, die sich so äußern, überhaupt bereit und in der Lage, dies auch auf konkrete Fragen des eigenen Lebens, auf die Alltagserfahrung, in unserem Interessenbereich auf die Gesundheitskompetenz konkret anzuwenden? Was verstehen die Menschen überhaupt unter „der Wissenschaft“? Ich habe da schon so meine Zweifel aus etlichen Jahren mit vielen Diskussionen rund um dieses Thema.
Es gibt eine interessante Studie, die sich in erster Linie mit dem „Vertrauen“ befasst und die man bei der Bewertung dieser doch deutlich positiven Zustimmungswerte „pro Wissenschaft“ mit betrachten sollte. Die eben erwähnte Fragestellung, was die Menschen überhaupt unter „Wissenschaft“ verstehen, spielt hier stark hinein. Die Autoren kommen nämlich zu dem Ergebnis, dass „blindes“ Vertrauen in „die Wissenschaft“, ein unsicherer Boden sein kann. Sie zeigen auf, dass Vertrauen ohne eine gewisse Urteilsfähigkeit bzw. Kompetenz in der Sache wenig wert ist.
„Wer nichts weiß, muss alles glauben“, wussten schon die Science Busters. Und ja, „nur“ Vertrauen, das kann dazu führen, dass auch „offensichtlicher Quatsch“ als „Wissenschaft“ geglaubt und dieser Glaube sich selbst gegenüber mit „Vertrauen“ gerechtfertigt wird. Die Pandemie hat uns das vor Augen geführt – wie viele Leute setzen die Äußerungen von Leuten wie Wodarg, Bhakdi, Schiffmann mit „Wissenschaft“ gleich? Viele, sage ich mal. Dass Leute mit dem Ruf des Wissenschaftlers sich derart in den Wald der unbewiesenen Behauptungen verirren können, ist kein grundsätzlich neues Phänomen, aber eines, das in der Pandemie das Narrativ des „Vertrauens in die Wissenschaft“ schon einigermaßen verbiegt.
Die genannte Studie näherte sich dem Problem, indem die Forscher in vier getrennten Tests die Rezeption pseudowissenschaftlicher Botschaften (ein neues Virus sei als Biowaffe geschaffen worden, Verschwörungserzählungen zu Covid-19 und die angeblich nachgewiesene krebserregende Wirkung von genetisch veränderten Organismen) bei Personengruppen evaluierten, die grundsätzlich positiv, aber unterschiedlich differenziert zu Wissenschaft eingestellt waren.
Teilnehmer, bei denen ein eher allgemeines Vertrauen (!) in die Wissenschaft festgestellt wurde, akzeptierten falsche Behauptungen umso eher, wenn diese wissenschaftliche Referenzen enthielten und sich einer wissenschaftlichen Terminologie bedienten (die sogenannte Wissenschaftsmimikry). Wir sehen das Glatteis, auf das man sich mit dem Abfragen einer reinen „Zustimmung zur Wissenschaft“ begibt.
Zweitens macht es einen Unterschied, ob die kritische Haltung der Probanden sich recht konkret im Wissen um die Bedeutung einer kritischen Bewertung von Aussagen manifestierte – dies verringerte den „Glauben“ an falsche Behauptungen – oder eher in einem allgemeinen Vertrauen (!) in die Wissenschaft – dies führte interessanterweise keineswegs zu einer verminderten Akzeptanz von pseudowissenschaftlichen Behauptungen. Was eine Bestätigung des ersten, eher allgemeinen Ergebnisses darstellt.
In Summa konstatierten die Autoren, dass „Vertrauen in die Wissenschaft“ allein die Menschen geradezu anfällig für pseudowissenschaftliche Behauptungen machen kann. Es scheint bereits eine wissenschaftliche Terminologie oder eine lange Referenzliste auszureichen, um Menschen, die sich selbst für Anhänger der Wissenschaft halten, unkritisch werden zu lassen.
„Die Lösung für die Leugnung des Klimawandels, für irrationale Ängste vor Genfood oder für das Zögern beim Impfen ist nicht, Vertrauen in die Wissenschaft zu predigen. (Was auf einen reinen Appell im Sinne von „Trust me, I’m a scientist“ hinauslaufen würde.) Das Vertrauen in die Wissenschaft spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die wissenschaftliche Bildung zu verbessern und vertrauenswürdige von nicht vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Vertrauen in die Wissenschaft behebt jedoch nicht alle Übel und kann zu Anfälligkeit für Pseudowissenschaft führen, wenn Vertrauen bedeutet, nicht kritisch zu sein.“
Und hier kommen nehmen mir die Autoren sozusagen die Worte aus dem Mund: sie sehen eine nachhaltigere Lösung zur Eindämmung von Fehlinformationen darin, so früh wie möglich wissenschaftliche Grundkompetenz („methodologische Kompetenz“) zu vermitteln. Also bereits in der Schule, und m.E. nicht erst in der gymnasialen Oberstufe: Was ist Wissenschaft? Was ist Wissenschaft nicht? Was für einen Anspruch stellt sie selbst an sich – und welchen nicht? Und später: was ist die wissenschaftliche Methodik und auf welchen Prämissen beruht sie? Was ist ihre Bedeutung für unser Leben? Was sind die Kriterien, an denen man aussagefähige wissenschaftliche Erkenntnisse identifiziert?
Bildung ist die Währung und das Menschheitskapital der Zukunft und vor allem das Lebenselixier demokratischer Strukturen auf humanistischem Boden. Es ist jämmerlich, welchen Stellenwert dieser einzigartige und herausragende Gesichtspunkt in der angeblichen „Bildungsrepublik Deutschland“ (Angela Merkel) einnimmt, ideell wie materiell. Musste auch mal gesagt werden.
Wir halten fest: Die Sache mit dem Vertrauen (der „Zustimmung“) ist ein wahrlich schlüpfriger Boden, solange sie nicht von kritisch-skeptischen Grundkompetenzen flankiert wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich mein – wie gesagt, unmaßgebliches – Bauchgefühl vielleicht noch einigermaßen mit dem Befund, immerhin die Mehrheit äußere „Zustimmung zur Wissenschaft“, in einen gewissen Einklang bringen.
Aufmerksame Leser dieses Blogs werden sich noch an den Namen Oleg Epstein erinnern können. Richtig, das ist der “Pharmaunternehmer” aus Russland, der mit verschwurbelten Bezeichnungen irgendwelche ominösen “Hochpotenzen” bevorzugt in den USA zum Patent einreicht, daraus Fantasiemittelchen produziert und die passenden Studien mit ein paar Kumpels aus der wissenschaftlichen Szene gleich auch noch selbst verfasst. Den ursprünglichen Artikel dazu hatte ich mit “Fake – Homöopathie – Fake” betitelt.
Es gibt den nächsten einigermaßen spektakulär-lächerlichen Fall, bei dem eine “Studie” von Epstein und Kollegen retracted, also vom veröffentlichenden Journal zurückgezogen wurde. Darin ging es um so unfassbar elementare Dinge wie “Auswirkungen einer chronischen Behandlung mit dem eNOS-Stimulator Impaza auf die Penislänge und das Sexualverhalten bei Ratten mit einem hohen Ausgangswert an sexueller Aktivität” (Effects of chronic treatment with the eNOS stimulator Impaza on penis length and sexual behaviors in rats with a high baseline of sexual activity). Der inkriminierte “Bestandteil ohne Moleküle” nennt sich hier “Affinity-purified antibodies to the C-terminal fragment of eNOS at ultra-low doses” – ein wenig Blauäugigkeit muss man den Reviewern angesichts dessen schon bescheinigen. Nun gut, man ist aufgewacht.
Ich sag da mal nichts weiter zu – aber klar ist, dass diese Studie der Promotion von “Impaza” (Handelsname) dient, das längst von Epsteins Firmengruppe in Russland als Potenzmittel vertrieben wird. Es ist ganz offensichtlich als “Alternative” zu Sildenafil (Viagra) gedacht, auch die Studie vergleicht die beiden Präparate miteinander. Wobei wir die positiven Aspekte nicht unterschlagen wollen: Das Zeug ist nebenwirkungsfrei und selbst bei Überdosierung unschädlich, heißt es in der Produktinfo. Das bezweifle ich nicht! Und das ist wahrhaftig ein Unterschied zu Sildenafil.
Lassen wir mal alles Absurd-Skurrile beiseite und konzentrieren wir uns auf den wesentlichen Punkt. Nämlich auf den Kern der Begründung des Retracting durch das Journal International Journal of Impotence Research (eine Tochterpublikation von – immerhin! – Springer Nature). Die Veröffentlichung datiert schon von März 2013, es sieht ganz so aus, als sei man Herrn Epsteins Beiträgen zur medizinischen Forschung inzwischen gezielt auf den Fersen. Wer sich einen Überblick über die bisherigen “Retractions” im Zusammenhang mit Herrn Epsteins Forschungsaktivitäten verschaffen will, kann das über die Datenbank von Retraction Watch tun.
“Der Herausgeber hat diesen Artikel zurückgezogen, weil es Bedenken hinsichtlich der wissenschaftlichen Validität der Studie gibt. Insbesondere wird das Reagens über den Punkt hinaus verdünnt, bis zu dem noch das Vorhandensein aktiver Moleküle zu erwarten ist, und es gibt keine molekulare Analyse, die das Vorhandensein von Molekülen in diesen Verdünnungen belegt. Diese Bedenken haben dazu geführt, dass der Herausgeber kein Vertrauen mehr in die Zuverlässigkeit der Ergebnisse hat.”
Wir konstatieren: Ein weiteres Journal weigert sich, Publikationen, die von über die Avogadro-Grenze hinaus verdünnten Mitteln handeln, als wissenschaftlich valide anzusehen und zu veröffentlichen. Ganz grundsätzlich. Wahrhaftig ein großer Schritt nach vorn, um der Pseudomedizin die Schlupflöcher zu stopfen, die ihnen die evidenzbasierte Medizin mit ihrem rein auf den “Outcome” fokussierten Pragmatismus geöffnet hat. Wissenschaftliche Basics und Plausibilitäten scheinen wieder etwas zu zählen bei seriösen Publikationen! Eine gute Nachricht.
PS Alle Verfasser der Studie haben dem Retract heftig widersprochen. Der korrespondierende Autor, Anders Ågmo von der University of Tromsø (The Arctic University of Norway) wurde von Retraction Watch mit dem ganzen Zeugs, was bisher zu diesen Geschichten rund um Epstein bekannt geworden ist, konfrontiert. Seine Stellungnahme:
“Es ist sicherlich möglich, dass das Medikament keinen klinischen Nutzen hat. Ich habe keine Daten gesehen, die einen solchen Nutzen untermauern. Ich sehe jedoch a priori keinen Grund, den russischen Kollegen oder der russischen Arzneimittelzulassung zu misstrauen.” (Er nimmt dabei Bezug auf den Umstand, dass Impaza in Russland in der Tat ein “registriertes Arzneimittel” ist – siehe PPS.)
Nach dem Motto: Mir doch egal, wer was mit meinen halbseidenen Studien anfängt! Und: a priori vielleicht nicht. Das würde sich auf 2013 beziehen. Aber wie wäre es mit a posteriori, Herr Ågmo?
PPS
Trotz der eindeutigen Aufforderung der Russischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2017, flächendeckend Homöopathie aus dem Gesundheitssystem zu verbannen, scheint es immer wieder “Löcher” zu geben. Tatsächlich hat das russische Gesundheitsministerium ein homöopathisches Produkt zur Behandlung von zeckeninduzierter Enzephalitis (!) empfohlen, und eine ähnliche Substanz gehörte mit einem Umsatz von 3,8 Milliarden Rubel im Jahr 2017 (62 Mio. USD) zu den 20 umsatzstärksten Medikamenten des Landes.
In diesem Zusammenhang ist eine Meldung bemerkenswert, die nahelegt, es gebe eine neuerliche Regulationsinitiative zur Homöopathie seitens der Russischen Akademien der Wissenschaften (RAS). Edzard Ernst berichtet auf seinem Blog. Inhaltlich, teils bis in die Wortwahl hinein liest sich das allerdings genauso wie die Statements von 2017. Die einzige Quelle weltweit (das ist auch die von Prof. Ernst) ist die indonesische Nachrichtenquelle “Manila Bulletin”, die hierzu am 13.07.2020 berichtete. Ich zweifle deshalb im Moment daran, ob es sich hier überhaupt um eine aktuelle Nachricht handelt. Auf den Webseiten der RAS findet sich nichts dazu. Russland bleibt bei mir im Fokus.
In Russland gibt es eine Firma namens OOO NPF Materia Medica Holding, unter Führung eines gewissen Oleg Epstein, die homöopathische Produkte herstellt. Wie nun offenbar wurde, stellte Epstein gleich auch die für diese Produkte passenden Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Journalen mit her. Und nicht nur das.
2018 hat PLOS ONE (Public Library of Science, ein Open-Access-Online-Journal) eine Arbeit von Epstein et al. mit dem Titel “Novel approach to activity evaluation for release-active forms of anti-interferon-gamma antibodies based on enzyme-linked immunoassay” zurückgezogen. Für den Nichtfachmann ein Buch mit sieben Siegeln, dieser Titel. Jedoch, die Erklärung zum Retract von PLOS ONE hatte es in sich:
“Nach der Veröffentlichung dieses Artikels wurden Bedenken hinsichtlich der wissenschaftlichen Validität der Studie sowie eines potenziellen Interessenkonfliktes geäußert, […] … ziehen wir diesen Artikel zurück, da wir Bedenken hinsichtlich der wissenschaftlichen Gültigkeit der Forschungsfrage, des Studiendesigns und der Schlussfolgerungen haben. Insbesondere sind wir besorgt über das Gesamtdesign der Studie, das darauf abzielt, die Auswirkungen eines Reagens zu erkennen, das so weit verdünnt ist, dass nicht zu erwarten ist, dass die Lösung biochemisch relevante Mengen an Antikörpern enthält.”
Kleiner Zwischenhalt. Wir merken uns an dieser Stelle, dass hier ein Journal – meines Wissens zum ersten Mal – an dem Postulat Anstoß nimmt, ultrahoch verdünnte Lösungen könnten eine biochemische Wirkung haben. Damit wird nicht nur auf die statistischen Methoden und Daten der Studie (die Ergebnisse im Sinne der evidenzbasierten Medizin) rekurriert, sondern auf die wissenschaftliche Grundplausibilität, die in diesem Fall dagegenspricht, dass allfällige Ergebnisse aus dem Datenmaterial überhaupt irgendeine Relevanz haben können. Ausgedrückt in dem Term von der “wissenschaftlichen Gültigkeit der Forschungsfrage”.
Weiter heißt es zum Retract:
“Die konsultierten Experten äußerten auch Bedenken hinsichtlich der Gültigkeit und Strenge des in der Studie verwendeten Immunoassay-Systems. Der verwendete enzymgebundene Immunosorbent-Assay (ELISA) wurde so eingestellt, dass er kaum nachweisbare Signale liefert, was den Assay besonders anfällig für Störungen macht. In Anbetracht dieser Fragen sind wir der Ansicht, dass der Artikel keine ausreichenden oder zuverlässigen Beweise für die Schlussfolgerungen liefert. Andere Probleme sind nicht deklarierte Interessenkonflikte […].”
Noch ein Zwischenhalt. Hier wird zusätzlich der Vorwurf erhoben, das Messsystem sei so kalibriert worden, dass Messartefakte (ersichtlich, um diese dann als positive Messsignale deuten zu können) geradezu provoziert wurden. Das muss man sich einmal vorstellen. Und hier wird auch deutlich, wie sich diese Mittel eine Mimikry zulegen, die sie von “Alltagshomöopathie” unterscheiden soll: Nicht schlichte “gewohnte” Grundstoffe wie Sulphur oder Belladonna machen die nichtvorhandenen Wirkstoffe aus, es wird hier mit hochkomplexen “Ursubstanzen” (anti-interferon-gamma antibodies based on enzyme-linked immunoassay) und der Bezeichnung “release-activated forms” (also ungefähr “freisetzend-aktivierte Medikamente”, offenbar ein Euphemismus für homöopathisch potenzierte Substanz) ein gänzlich unzutreffender Eindruck seriöser biochemischer Forschung erweckt.
PLOS ONE wurde tätig aufgrund von Kommentaren eines russischen Skeptikers, Alexander Panchin, auf deren Webseite. Panchin forscht an der Russischen Akademie der Wissenschaften zu molekularer Evolution und ist – kaum verwunderlich – erklärter Gegner der Homöopathie.
Panchin sieht die verschleiernde Bezeichnung “Release-active drugs (RADs)” für solche Mittel – zutreffend – schlicht als Synonyme für Homöopathie an. Diese Präparate würden bereits in Mexiko, Vietnam, der Mongolei, Weißrussland, der Ukraine und anderen Ländern verkauft. Derzeit ist Panchin auf der Fährte weiterer solcher Veröffentlichungen in weiteren Journalen.
Panchin hat in BMJ EBM zu dieser “russischen Homöopathie” einen Fachartikel veröffentlicht (Panchin AY, Khromov-Borisov NN, Dueva EV: Drug discovery today: no molecules requiredBMJ Evidence-Based Medicine2019;24:48-52). Darin heißt es:
“…. diese innovativen “Medikamente” enthalten keine aktiven Moleküle und können als eine neue Spielart der Homöopathie angesehen werden. Dies deutet auf eine von zwei Möglichkeiten hin: Entweder stehen wir kurz vor einer Revolution in der Medizin oder es ist etwas schief gelaufen mit der Forschung und ihren Veröffentlichungen in zahlreichen wissenschaftlichen Journalen. Wir halten dafür, dass die letztgenannte Erklärung wahrscheinlicher ist und dass diese Schlussfolgerung schwerwiegende Auswirkungen auf die Unternehmen und Organisationen im Wissenschafts- und Gesundheitssektor hat. Das Opfer war diesmal Antiviral Research, eine Zeitschrift von Elsevier, die zwei Artikel von Epstein und Kollegen zurückgezogen hat. Eines davon trug im Juni 2017 den Titel ‘Wirksamkeit neuartiger antikörperbasierter Medikamente gegen Rhinovirusinfektionen’: In vitro und in vivo Ergebnisse.’
Dieser Beitrag ließ nicht erkennen, dass die auf antivirale Aktivität getesteten Produkte in Wirklichkeit ‘homöopathisch aktivierte Formen von Antikörpern’ waren, wie im US-Patent 8,535,664 B2 beschrieben, das von O. I. Epstein und anderen eingereicht wurde.
Die Homöopathie ist eine veraltete Therapieform, die von der modernen medizinischen Praxis nicht akzeptiert und von der modernen Wissenschaft abgelehnt wird. Wenn das bei Antiviral Research eingereichte Manuskript die Art der zu prüfenden Materialien als homöopathische Produkte identifiziert hätte, wäre es abgelehnt worden. Nachdem der Chefredakteur nun von diesen Informationen Kenntnis hat und die Frage ausführlich mit anderen Experten diskutiert hat, hat er beschlossen, diesen Artikel offiziell zurückzuziehen.
Die andere, “Aktivität von extrem niedrigen Dosen von Antikörpern gegen Gamma-Interferon gegen die tödliche Influenza A(H1N1)2009 Virusinfektion bei Mäusen”, erschien 2012. Auch hier blieb unerwähnt, dass es sich bei den getesteten Produkten um “homöopathisch aktivierte Formen von Antikörpern” im Sinne des schon erwähnten US-Patentes handelte.”
Was für eine Spiegelfechterei. Da lässt sich jemand “homöopathisch aktivierte Antikörper” in den USA patentieren, im Patent ganz offen bezugnehmend auf homöopathische Potenzierung (von 10^23 bis 10^99, also de facto wirkstofffrei), stellt “Medikamente” (mehrere “unterschiedliche”!) auf dieser Basis her, vertreibt sie in Schwellen- und Entwicklungsländern und hat zudem auch noch die Stirn, die passenden Anwendungsstudien dazu selbst zu verfassen und – neben der Vorspiegelung, es handele sich um moderne biochemische Präparate – darin mit keinem Wort zu erwähnen, dass sie auf den “homöopathisch aktivierten Formen” im Sinne des US-Patentes beruhen. Ganz abgesehen von der Unverfrorenheit, die massiven Interessenkonflikte (massiver geht nicht mehr) auch nur anzudeuten. Dem peer review der Journale stellt dieser Vorgang allerdings auch ein vernichtendes Zeugnis aus.
Und um Kleinigkeiten geht es nicht. Epstein bewirbt seine “Mittel” als Beitrag gegen Antibiotikaresistenzen (sic!), aber auch zur Behandlung von allerlei Kleinigkeiten, die einem den Atem stocken lassen. Homöopathika in 10^24 und höher, wohlgemerkt. Für starke Nerven hier ein Link zu einer deutschsprachigen Werbeseite eines der Präparate mit einer Indikationsliste.
Und wäre das nicht alles schon genug Tricksen, Täuschen und Tarnen: Die hier in Rede stehenden Präparate lehnen sich auch noch namentlich an die hochwirksamen – und sehr teuren – Interferon-Präparate an, betreiben also auch hier noch Trittbrettfahrerei. Im Preis, soweit ich das recherchieren konnte, allerdings nicht – ein Interferon-Präparat kostet in der Regel vierstellig, das “Trittbrettpräparat” aus Russland ist für wenige Euro zu haben, hat aber – soweit bekannt – dem Hersteller bereits hohe zweistellige (Euro-)Millionenumsätze erbracht. Nun ja, in den Indikationsangaben stehen sie echten Interferonpräparaten ja auch kaum nach…
Panchin berichtete gegenüber Retraction Watch, ihm seien drei Klagen von Homöopathieherstellern gegen Kritiker bekannt. Zwei gegen die Russische Akademie der Wissenschaften wegen einer Veröffentlichung, die Behauptungen, Homöopathie sei zur Behandlung von Krankheiten geeignet, als unhaltbar zurückwies. Diese Klagen scheiterten.
Eine weitere, noch nicht entschiedene Klage stammt von Epsteins Firma Materia Medica gegen die russische (fundraisingfinanzierte) Wissenschaftspublikation “Troitsky Variant – Nauka” und drei Autoren (Mitglieder der Kommission gegen Pseudowissenschaften der Russischen Akademie) wegen eines kritischen Artikels über die Firma Materia Medica, ihre “Medikamente” und ihren Gründer Epstein.
Und was hat das alles mit der Homöopathie in Deutschland zu tun?
Wie ich finde, eine ganze Menge. Beispielsweise trägt das unbeirrte Festhalten an Homöopathie im deutschen Gesundheitssystem auch dazu bei, deren falsche Reputation in der Welt, besonders in Schwellen- und Entwicklungsländern zu befördern. Letztlich wird auch den “Medikamenten” von Epsteins Materia Medica Holding in den Absatzländern der Weg geebnet. Ich zweifle nicht daran, dass Deutschland mehr oder weniger offen als eine Art internationale Referenz pro Homöopathie “vermarktet” wird, solange es eine Insel der Zuckerkugeltherapie darstellt. Und das ist mehr als ein Unding.
Ein Grund mehr für eine klare Positionierung des deutschen Gesundheitssystems, der Ministerial- und der Parlamentsebene gegen die Scheinmethode Homöopathie.
Worüber ich mich ehrlich freue: Dass die Chefredaktion einer wissenschaftlichen Publikation sich offen auf den Standpunkt gestellt hat, dass jedenfalls “Forschungen” zu homöopathischen Hochpotenzen den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht erfüllen, die zur Veröffentlichung in einem peer-reviewten Journal Mindestvoraussetzungen sind.
Es ist wirklich nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig, als Kritiker von Pseudomedizin und Impfgegnerschaft ständig mit Unterstellungen konfrontiert zu werden, man sei eh nur Knecht der Pharmaindustrie, gekaufte Mietfeder, würde unwissenschaftlich argumentieren und handeln, habe andere sinistre Motive und sei generell ein hinterhältiger, gewaltbereiter und schlechter Mensch, weil …
So etwas kommt nicht etwa nur aus den Schmuddelecken des Internets. So etwas kommt von Leuten aus der pseudomedizinischen Szene, bei denen völlig klar ist, dass sie es besser wissen. Dort wird von Menschen, die zweifellos einen Überblick über die Fakten haben, ungehemmt wider besseres Wissen die Lächerlichkeit von den bezahlten Pharmaknechten verbreitet, was schon mal so weit ging, dass führende Köpfe der wissenschaftlichen Pseudomedizinkritik als „Testimonials“, also bezahlte Werbegesichter, der bösen Pharmaindustrie hingestellt wurden.
Wozu so etwas führen kann, zeigt ein Beispiel aus dem scheinbar weit entfernten Australien. Dort gibt es die Familie Riley, deren wenige Monate alter Sohn vor ein paar Jahren an Keuchhusten verstarb – als er noch nicht geimpft werden konnte. Dies geschah in einer australischen Community mit den geringsten Impfraten landesweit.
Die Familie richtete eine Art Gedenkseite für ihren kleinen Riley ein, auf der sie fürs Impfen und die Aufklärung darüber wirbt. Die Seite wurde vielfach positiv angenommen. Jedoch…
Der Blog „Debunking Denialism“ berichtet: „Online hat die Familie viel Unterstützung erhalten, aber auch viel Hass. Letzteres ist im Laufe der Zeit immer extremer geworden. Sie wurden sogar beschuldigt, Lockvögel für die Pharmaindustrie zu sein, dass sie nur Krisen herbeireden sollten und sogar, dass sie sogar ihren eigenen Sohn Riley ermordet hätten und dies mit der Impfpropaganda vertuschen wollten.
„Uns wurde gesagt, dass unser Kind eine Puppe gewesen sei und dass wir Schauspieler für „Big Pharma“ wären. Uns wurde gesagt, dass unser Sohn nie existiert hat, oder dass Rileys Tod von den Gesundheitsbehörden inszeniert wurde, um die Impfbereitschaft zu fördern. Uns wurde sogar vorgeworfen, unser Kind ermordet und den Keuchhusten nur vorgeschoben zu haben, um damit durchzukommen“, berichtete das Ehepaar.
Das alles nicht punktuell, sondern ganz offenbar als Teil einer in Australien großangelegten zentral orchestrierten Anti-Impf-Kampagne.
Zu dieser Kampagne gehören sogenannte „Fact Checker“, die eine direkt gegen die Familie Riley gerichtete Seite im Netz unterhalten. Diese Seite geriert sich als Wächter der Wahrheit, verbreitet nicht nur die genannten unsäglichen Scheußlichkeiten gegen die Rileys. Sondern stellt die Rileys zudem als Menschen dar, die sich angeblich gegen Kritik immunisieren mit ihrer „Story“ und postuliert, dass dem im Interesse der Wahrheit und Redlichkeit entgegengetreten werden müsse:
„Aus irgendeinem Grund sind sie (die Rileys) der Meinung, dass sie gegen Kritik immun sein sollten. Sie denken, dass es in Ordnung ist, öffentlich für die Einschränkung der Rechte von Menschen einzutreten, und sie haben öffentlich eingestanden, dass sie es für akzeptabel halten, andere Kinder deshalb zu bestrafen (to punish), weil sie selbst eine Erfahrung unter völlig anderen Umständen gemacht haben.“
Manchmal will mir scheinen, von dergleichen sind wir nicht weit weg. In Schweden wurde im letzten Jahr so eine Pseudo-Faktencheck-Seite debunked, die sich nicht primär, aber auch auf die Verbreitung pseudomedizinischen Unsinns bezog. Die Seite hatte schnell eine gewisse Reichweite erlangt. Hier ein Screenshot mit einem „Bericht“ über die HPV-Impfung, mit der Schlagzeile „Faktiskt.se deckt auf – Zusammenhang zwischen HPV-Impfung und Zervikalkrebs“ – man glaubt es kaum, hier wird unverfroren das glatte Gegenteil der Tatsachen behauptet und der Artikel ist mehrere zehntausend Mal gelesen worden…
Der Beitrag auf der Pseudofaktencheck-Seite behauptete, die „Wahrheit“ über die HPV-Impfung sei, dass sie Zervikalkrebs auslöse und nicht davor schütze.
Beim Auf-den-Kopf-stellen von Fakten ist die Szene auch bei uns ohnehin schon bemerkenswert rührig, mit zunehmender Tendenz. Auf welche Weise das teilweise geschieht, wird dadurch illustriert, dass die Verteidiger der Pseudomedizin und die Streiter gegen das Impfen mehr und mehr bemüht sind, nicht nur einen Wahrheits-, sondern auch noch einen Moralanspruch für ihre Position zu behaupten. Darin liegt ein gefährliches Potenzial, insofern als dass die beklagenswerte Voreingenommenheit weiter Teile der Öffentlichkeit gegen Wissenschaft, wissenschaftliche Medizin und die damit verbundenen „Feindbilder“ auch noch scheinmoralisch unterfüttert und gefestigt wird. Dass derartige scheinmoralische Positionen nur durch das Negativum der Diskreditierung von Persönlichkeiten der skeptischen Szene erreicht werden können, scheint dabei ein vernachlässigbarer bis begrüßenswerter Nebeneffekt zu sein.
Natürlich kann man das als letzte Verteidigungslinie einer jeder argumentativen Basis verlustig gegangenen Front ansehen. Man darf aber die Wirkung auf das Publikum ebensowenig außer Acht lassen wie den Umstand, dass es sich schlicht um Diffamierung von aus eigenem Antrieb kritisch engagierter Menschen handelt. Ein drastisches Beispiel dafür, wie der Weg von einer irgendwie noch als solche wahrnehmbaren Gegenkritik über bereits nicht mehr akzeptable ad-hominem-Angriffe bis hin zu einem scheinmoralischen Standpunkt, ja einer Selbstüberhöhung, führt, ist in der aktuellen Wochenendausgabe der TAZ in einem – dies sei offen eingestanden, unerwartet – kritischen und sich klar positionierenden Artikel nachzulesen. Der, wie nicht anders zu erwarten, in den sozialen Medien teils haarsträubende Kommentare nach sich zieht.
Man wird also ein Augenmerk auf Versuche der Pseudomedizin richten müssen, ihrerseits mehr als bisher schon in eine scheinbar aufklärerische Rolle mit einer pseudomoralischen Verbrämung zu schlüpfen. Die Blaupause hierfür gibt es längst, wie ich einleitend gezeigt habe.
Und damit sich der Kreis schließt: Eigentlich sind wir schon so weit. Nicht nur in Australien treten Verbreiter pseudowissenschaftlichen Unsinns mit dem wortwörtlichen Anspruch auf, als „Faktenchecker“ die wahren Aufklärer zu sein, siehe z.B. hier.
Aufklärung tut not, mehr denn je. Dabei fühlen sich die kritischen Skeptiker jedenfalls meines Umfeldes einer sachbezogenen, von persönlichen Angriffen und Unterstellungen freien Argumentation verpflichtet, ungeachtet dessen, ob dies umgekehrt auch der Fall ist.
Bildnachweise: Pixabay / Screenshot faktiskt.se via Debunking Denalism
Noch einmal Heilpraktikerdebatte. Ich komme auf des Pudels Kern zurück: Auf die Existenz einer “zweiten Medizin”, deren Vorhandensein weder materiell-inhaltlich noch rein logisch mit der Tatsache vereinbar ist, dass ansonsten die „Ausübung der Heilkunde“ an ein Hochschulstudium und umfangreiche Nachweise von medizinischem Wissen und ebensolcher Erfahrung gebunden ist.
Ein Arzt ist verpflichtet, seinem Patienten die jeweils beste Behandlung für seinen Krankheitsfall zukommen zu lassen. Dazu ist eine breite Evidenz- und Wissensbasis nötig, um mit dem Kanon der indikationsbezogenen Mittel und Methoden der Medizin umgehen zu können. Ansonsten gerät der Arzt in Konflikt mit den “Regeln der ärztlichen Kunst”, gegen die er, wie ich immer gern anführe, schon verstoßen kann, wenn er eine notwendige Überweisung zu einem fachärztlichen Kollegen in falscher Einschätzung seiner eigenen Fähigkeiten unterlässt. Ein Ausübender der Heilkunde ohne ärztliche Vollausbildung, der ein Sammelsurium evidenzfreier oder -armer Methoden mehr oder weniger unbefangen nebeneinander wie aus einem Bauchladen anbietet, kann diesen Anforderungen zwangsläufig nicht gerecht werden. Wird er ihnen deshalb auch gar nicht unterworfen?
Die Unsinnigkeit und Unhaltbarkeit dieser “falschen Dualität” der Zwei-Ebenen-Medizin wirklich in Diskussionen deutlich zu machen und zu vermitteln, ist nach meiner Erfahrung erstaunlich schwierig. Deshalb möchte ich heute einmal in die historische Kiste greifen.
Im Jahre 1925 hielt der damals scheidende Präsident der Medical Society of London, Sir H.J. Waring, auf Bitten seines Nachfolgers einen Abschiedsvortrag zu einem Thema, das sich mit elementaren Problemen des medizinischen Standes beschäftigen sollte. Sir Waring wählte die die damals im Vereinigten Königreich sehr aktuelle Problematik der Einordnung von Osteopathen und Chiropraktikern in die Medizin als “Aufhänger” für die Frage des Umgangs mit der Zulassung zur “Ausübung der Heilkunde”. Der Spezialfall Osteopathen / Chiropraktiker soll hier gar nicht weiter interessieren. Der Vortrag enthält aber elementare Aussagen, die für die richtige Einordnung der nach wie vor diffusen Debatte zur Heilpraktikerproblematik erhellend sein mögen.
Sir Warings Vortrag erschien als “Presidential Address” an die Medical Society of London in der Ausgabe des British Medical Journal vom 17. Oktober 1925. Ich erlaube mir die nachstehende auszugsweise Übersetzung:
“Die Zahl der Osteopathen, Chiropraktiker und Vertreter anderer “Heilkulte” in diesem Land ist beträchtlich. Da sie alle nach einer Lizensierung für die Ausübung ihrer Art der “Heilkunde” verlangen, erscheint es mir unausweichlich, staatliche Regulierungen auf alle auszuweiten, die die Verantwortlichkeit für das Leben und die Gesundheit anderer in Händen halten und dass dabei jedermann, dem die Ausübung der Heilkunde in irgendeiner Form gestattet wird, den gleichen Anforderungen an Wissen und Erfahrung unterworfen sein muss. Eine solche Regulation bzw. Lizensierung des Zugangs zur Ausübung der Heilkunde ist nicht nur im Interesse der medizinischen Praktiker, sondern im Interesse der gesamten Bevölkerung. Der gesellschaftliche Fortschritt verlangt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit hinsichtlich der Gesundheit der Bevölkerung. Der Staat sollte sich daher beim Schutz und Erhalt von Leben und Gesundheit all seiner Bürgerinnen und Bürger entschieden positionieren.
Im Wissen um all die bekannten Fakten zur Pathologie und zu den Ursachen von Krankheiten ist es vor dem Beginn von Behandlungen am Menschen essentiell, dass der Heilkundeausübende vor allem anderen in der Lage sein muss, eine Diagnose zu stellen, auch, um klar zu erkennen, ob der Patient überhaupt an einer Krankheit leidet, die einer Behandlung bedarf, oder nicht. Wenn nicht, ist der Behandler ja redlicherweise gar nicht in der Position, den Patienten mit irgendeiner Methode sinnvoll zu behandeln und zu betreuen. Darüber hinaus ist es notwendig, dass er über Kenntnisse der verschiedensten therapeutischen Maßnahmen und materiellen Voraussetzungen verfügt, die bei der Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden, damit jeder einzelne Patient richtig und angemessen behandelt werden kann.
Was die Ausübung der Heilkunde betrifft, so wird von manchen die Auffassung vertreten, die Krankheit des Einzelnen sei seine eigene Angelegenheit und er habe das uneingeschränkte Recht, jeden, ob ausgebildet oder nicht, zur Behandlung heranzuziehen. (Die vielbeschworene “Patientenautonomie”. Es folgt nun richtigerweise die “andere Seite der Medaille”, Anm. UE.) Es kann aber doch kein Zweifel daran bestehen, dass es nichts anderes als gefährlicher Betrug ist, sich dem Ratsuchenden als qualifiziert für die Behandlung von Krankheiten und die Betreuung von Kranken darzustellen, indem man fälschlich behauptet, man sei im Besitz von entsprechendem Wissen und Erfahrung. Niemand hat das Recht, eine solche Täuschung zu begehen. Es sollte doch wohl die Pflicht des Staates sein, solche gefährlichen Täuschungen und Irreführungen zu verhindern, insbesondere wenn sie nicht nur eine einzelne Person, sondern potenziell auch andere Menschen betreffen.
Mir scheint es für das Wohl der Gesellschaft deshalb essentiell zu sein, dass alle Personen, denen die Ausübung der Heilkunde erlaubt wird, über die gleiche medizinische Grundausbildung verfügen müssen, was auch die Absolvierung praktischer Abschnitte beinhaltet. Nur eine solche geregelte Ausbildung kann zur Vergabe von Diplomen oder akademischen Graden führen. (Zu Sir Warings Zeiten, vor fast 100 Jahren, war diese Mindestanforderung im Vereinigten Königreich schon ein fünfjähriges Studium, für das Vorprüfungen in Allgemeinwissen und speziell in elementarer Physik und Chemie Zulassungsvoraussetzungen waren – Anm.UE.)
(…) Die einzige zufriedenstellende Methode, die Gesellschaft vor Täuschungen und Irreführungen im Zusammenhang mit Krankheit zu schützen, scheint mir, sicherzustellen, dass jede Person, die Krankheiten behandelt, hierzu nur die Erlaubnis erhalten kann, wenn er oder sie einen angemessenen Ausbildungsgang zufriedenstellend abgeschlossen hat. … Auch kann es nicht in Frage kommen, irgendwie “limitierte” Zulassungen für die Ausübung der Heilkunde zu vergeben, die gesetzlichen Regelungen sollten dies ausschließen, um die Gesellschaft nicht dem Risiko auszusetzen, dass sich auf einer solchen Grundlage unqualifizierte Scharlatane oder Quacksalber breitmachen.”
Soweit Sir Waring hier bei uns, obwohl der Vortrag noch weit mehr Essentielles zu diesem Problem enthält. Insbesondere weist er auch darauf hin, dass ein gleicher Maßstab für alle Ausübenden der Heilkunde insbesondere dann unumgänglich ist, wenn diese den Anspruch erheben, mit ihrer Methode den ganzen humanmedizinischen Formenkreis zu behandeln. Und von solchen Methoden haben Heilpraktiker bekanntlich meist gleich mehrere (miteinander unvereinbare) im Portfolio.
Schon wieder viel zu lang. Ich verzichte aber nicht auf mein ceterum censeo zum Heilpraktikerthema, einem Zitat von Prof. Dr. Otto Prokop, der als langjährig erfahrener Gerichtsgutachter wusste, wovon er sprach:
“Wenn zum Beispiel darauf hingewiesen wird, es gebe für Ärzte einen höheren Voraussehbarkeitsgrad als für Heilpraktiker, also könne man letzteren nicht so schnell einen Schuldvorwurf machen wie etwa Ärzten, die den gleichen Fehler machen, so ergibt sich aus dieser Interpretation, dass es der Staat, der Personen zu solchen Praktiken ohne Auflagen zulässt, mit der Gesundheit seiner Bürger nicht ernst nimmt”.
Und eine Bitte noch zum Schluss. Hört auf mit dem Whataboutism. Ja, im ärztlichen Bereich wie im Gesundheitssystem insgesamt ist nicht alles eitel Sonnenschein. Und ja, es gibt wohlmeinende und empathische Heilpraktiker. Beiden Argumenten ist gemeinsam, dass sie am Grundproblem der “zwei Medizinen” rein gar nichts ändern.