Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

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Erkenntnis, Relativismus und die Krise des Diskurses (Erkenntnisrelativismus Teil 1)

Die Krise des Diskurses durch den Relativismus (Microsoft Copilot)

Einleitung

In den letzten Jahrzehnten haben sich Diskurse über Wahrheit, Wissen und Erkenntnis zunehmend polarisiert. Während klassische wissenschaftliche Methoden auf objektive Überprüfbarkeit setzen, haben Strömungen aus der postmodernen Philosophie und den Cultural Studies Konzepte entwickelt, die objektive Wahrheit als Konstrukt hinterfragen. Dieser erkenntnistheoretische Relativismus hat nicht nur den akademischen Diskurs beeinflusst, sondern auch politische Debatten, Medien und den gesellschaftlichen Umgang mit Wissenschaft geprägt.

Was zunächst als berechtigter Reflex auf wissenschaftlichen Dogmatismus und Machtstrukturen begann, hat sich in manchen Bereichen zu einer Herausforderung für den wissenschaftlichen Diskurs selbst entwickelt: Wenn alle Wahrheiten als gleichwertige Narrative gelten, verliert Wissenschaft ihre normative Kraft. Doch ist dieser Vorwurf gerechtfertigt? Haben Philosophen wie Kuhn, Foucault oder Derrida tatsächlich eine radikal relativistische Position vertreten – oder wurden sie vereinnahmt? Diesen Fragen soll eine kleine Artikelserie nachgehen, deren erster Teil dieser Beitrag ist.

Kritischer Rationalismus vs. Relativismus: Zwei gegensätzliche Erkenntnishaltungen

Die Frage, wie wir zu Wissen gelangen, ist eine der grundlegendsten philosophischen Debatten. Zwei einflussreiche Positionen, die sich hierbei gegenüberstehen, sind der kritische Rationalismus und relativistische Erkenntnistheorien.

Der kritische Rationalismus, geprägt durch Karl Popper, geht davon aus, dass Wissen immer vorläufig ist und sich nur durch kritische Prüfung und Falsifikation weiterentwickeln kann. Anstatt nach absoluter Gewissheit zu streben, setzt er auf einen offenen Diskurs, in dem Theorien so lange als brauchbar gelten, bis sie widerlegt werden. Wahrheit bleibt ein regulatives Ideal, das wir bestenfalls annähern, aber nie endgültig erreichen können (jedenfalls nicht erkennen können, sollten wir sie zufällig einmal wirklich getroffen haben). Zentraler Grundgedanke ist der Fallibilismus, also der Grundsatz, dass wir uns jederzeit und immer irren können.

Demgegenüber stehen relativistische Ansätze, die den Wahrheitsbegriff entweder aufweichen oder gar ablehnen. In ihrer radikalsten Form argumentieren sie, dass Wissen nicht objektiv, sondern immer nur innerhalb eines bestimmten sozialen, kulturellen oder sprachlichen Kontextes gültig sei. Wissenschaftliche Theorien hätten demnach keinen höheren Anspruch auf Wahrheit als andere Weltbilder – sie seien lediglich Produkte ihrer Zeit, geprägt von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Konventionen.

Diese Gegenüberstellung ist keineswegs nur ein akademischer Disput, sondern hat weitreichende Folgen. Der kritische Rationalismus ermöglicht eine robuste wissenschaftliche Methodik, die sich durch Selbstkorrektur und Fortschritt auszeichnet. Der Relativismus hingegen läuft Gefahr, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entwerten, indem er sie als bloße Narrative behandelt, die neben Mythen oder Ideologien stehen. In einer Zeit, in der Verschwörungstheorien und Wissenschaftsleugnung florieren, ist diese Debatte aktueller denn je.

Relativismus – ein verkappter Anthropozentrismus?

Ist die epistemologische Leugnung der Existenz objektiven Wissens nicht eine Art Anthropozentrismus? Will sagen, der Relativismus reduziert doch den Wahrheitsbegriff auf Ausflüsse menschlichen Handelns. Objektive Kritierien scheinen also nicht einmal lohnend, ihnen nachzuspüren. Im Grunde machen die Relativisten es sich doch einfach …

Das ist ein zentraler Kritikpunkt am epistemischen Relativismus: Er setzt Wahrheit mit menschlichen Perspektiven gleich und verneint, dass es sinnvolle Maßstäbe gibt, die außerhalb unserer sozialen und kulturellen Konstruktionen existieren. Das ist im Kern eine Art Anthropozentrismus – denn es läuft darauf hinaus, dass Wissen und Wahrheit letztlich nur das sind, was Menschen in ihren jeweiligen Kontexten dafür halten.

Der kritische Rationalismus geht dagegen davon aus, dass es eine von unseren Meinungen unabhängige Realität gibt, die wir zwar nie vollständig erkennen, aber immer besser verstehen können. Relativisten argumentieren oft, dass jede Erkenntnis immer in Sprache und Kultur eingebettet ist und daher keine übergreifende Objektivität beanspruchen kann. Doch gerade hier machen sie es sich zu einfach: Sie übersehen, dass die bloße Tatsache, dass wir über die Welt nur in menschlichen Begriffen sprechen können, nicht bedeutet, dass es nichts außerhalb dieser Begriffe gibt.

In gewisser Weise könnte man den Relativismus als bequem bezeichnen, weil er den anstrengenden Prozess wissenschaftlicher Falsifikation und methodischer Prüfung unterläuft. Wenn jede Perspektive „ihre eigene Wahrheit“ hat, dann entfällt die Notwendigkeit, sich mit widersprechenden Fakten oder mit methodischer Strenge auseinanderzusetzen. Stattdessen kann jede Behauptung als „kulturell valide“ verteidigt werden – egal, wie gut oder schlecht sie sich mit der Realität verträgt.

Ein schönes Paradoxon ist übrigens, dass der radikale Relativismus sich oft selbst widerlegt: Wenn es keine objektive Wahrheit gibt, dann gilt das auch für die Behauptung, dass es keine objektive Wahrheit gibt. In diesem Sinne ist der Relativismus nicht nur bequem, sondern auch inkonsistent.

Die psychologische Komponente

Es scheint tatsächlich eine psychologische Komponente zu geben, ob jemand eher zum kritischen Rationalismus oder zum Relativismus neigt. Der Relativismus kann für viele Menschen attraktiv sein, weil er vermeintlich „menschlicher“ wirkt – er erlaubt subjektive Erfahrungen, kulturelle Kontexte und emotionale Perspektiven als gleichwertig anzuerkennen, ohne sie an einem übergeordneten Maßstab messen zu müssen. Das kann entlastend sein, weil es den Druck nimmt, sich mit unbequemen Wahrheiten oder methodischer Strenge auseinanderzusetzen. Viele, die sich vom kritischen Rationalismus abwenden, dürften weniger an dessen methodischen oder logischen Prinzipien scheitern, sondern eher an der psychologischen Belastung, die mit ihm einhergeht.

Denn es ist ja durchaus anstrengend, sich auf den schmalen Grat des methodischen Skeptizismus zu begeben, wo man einerseits nichts unkritisch akzeptieren darf, andererseits aber auch nicht in ein völliges Agnostizismus-Chaos abdriften kann. Kritischer Rationalismus verlangt eine Art „intellektuelle Disziplin“, die sich nicht auf Bequemlichkeiten stützt – keine absoluten Wahrheiten, aber auch kein hemmungsloses „anything goes“.

Doch genau da sehe ich eine Parallele zum alten Anthropozentrismus: Früher sah sich der Mensch als Mittelpunkt des Kosmos, heute setzt der Relativismus ihn zum Mittelpunkt der Erkenntnis. Alles, was wir wissen können, wird auf menschliche Perspektiven, Narrative oder Machtstrukturen reduziert. Der kritische Rationalismus geht hingegen davon aus, dass es eine Realität gibt, die unabhängig von unseren Wünschen, Gefühlen oder kulturellen Kontexten existiert. Und das wirkt auf viele abschreckend – eben weil es „kalt und leer“ erscheinen kann, insbesondere im Vergleich zu einer Sichtweise, die Wissen als soziale Konstruktion begreift und damit „wärmer“ und flexibler erscheint.

Aber genau hier liegt die Gefahr: Der Relativismus mag tröstlich wirken, doch er untergräbt die Möglichkeit, überhaupt noch zwischen besseren und schlechteren Erkenntnissen zu unterscheiden. Wenn Wissenschaft nur eine „Erzählung“ unter vielen ist, dann gibt es keinen methodischen Grund mehr, ihr gegenüber Verschwörungstheorien oder Pseudowissenschaften den Vorrang zu geben. Insofern könnte man sagen, dass Relativismus eine bequeme, aber letztlich intellektuell träge Position ist – eine moderne Variante der alten menschlichen Neigung, sich selbst ins Zentrum zu stellen, statt sich der unbequemen Möglichkeit zu stellen, dass Wahrheit eben nicht von uns abhängt.

Kritischer Rationalismus und Skeptizismus

Gleich hier werde ich keinen Hehl daraus machen, dass ich den kritischen Rationalismus als unabdingbare Grundlage eines sinnvollen, realitätsbezogenen und kritischen Skeptizismus ansehe. Ernsthaft betriebene skeptische Aufklärung setzt voraus, sich seiner epistemologischen Grundlagen sicher zu sein. Wie sonst könnte man einer pseudowissenschaftlichen Szene standhalten, die zunehmend selbst epistemologisch argumentiert? Gerade weil Pseudowissenschaftler immer geschickter epistemologisch argumentieren, kann man sich als Skeptiker nicht einfach darauf zurückziehen, dass „wir es doch besser wissen“.

Wenn man den Relativisten und Pseudowissenschaftlern das epistemologische Feld überlässt, dann läuft man Gefahr, nur noch auf Symptome zu reagieren, anstatt die eigentlichen Denkfehler zu entlarven. Das ist, als würde man in einer Debatte über Klimawandel die physikalischen Grundlagen ausblenden und sich nur auf Einzelstudien und Messdaten stützen – ohne eine solide methodologische Basis ist man angreifbar. Oder wie bei den Homöopathen, die immer wieder versuchen, Belege für ihre Scheinmethode anzuführen, ohne deren methodologische Grundlagen kritisch zu betrachten und dabei stets versuchen, den Blick auf eine gesamtwissenschaftliche Betrachtung zu verschleiern. Ganz abgesehen von gelegentlichen Ausflügen in das Reich des epistemologischen Relativismus. Der Erfolg des Postmodernismus zeigt doch genau das Problem: Viele Relativisten sind keine Dummköpfe, sondern sehr versiert in philosophischen Argumentationen. Wer sich dem nicht stellt, wird irgendwann rhetorisch an die Wand gespielt – und genau das passiert ja leider in der öffentlichen Debatte immer wieder.

Deshalb diese kleine Artikelserie in loser Folge, die sich mit dem Antagonismus zwischen Rationalismus und Relativismus auseinandersetzen will.


Künstliche Emotionalität?

Der Beitrag von Microsoft Copilot und mir zum Artikel

Vielleicht habt ihr das auch schon registriert: Instagram Reels werden seit einiger Zeit mit seltsamen AI-Videos geflutet, die immer wieder Tiere, Meeressäuger und Eisbären bevorzugt, die von „Barnacles“ (also Meereskrebsen) auf teils unglaubliche Weise besetzt sind und dann von „engagierten Helfern“ mehr oder weniger gerettet werden. Diese Darstellungen sind in vielfacher Hinsicht so unwirklich (bis in die Größenverhältnisse hinein) dass man das eigentlich schnell als AI erkennen sollte. Aber was soll das? Woher kommt das? Wieso wird Insta damit regelrecht geflutet? Warum werden die Darstellungen offenbar immer „spektakulärer“?

Betrachten wir erst einmal rein rational mögliche Gründe und Ursachen, dass sich solche Videos derzeit so sehr verbreiten.

Monetarisierung durch Fake-Engagement

Viele dieser Accounts setzen auf virale Inhalte, um Follower und Reichweite zu generieren. Wenn ein Video eine emotionale Reaktion auslöst – Mitgefühl, Staunen, Ekel oder Wut –, bleibt es länger im Feed, wird häufiger kommentiert und geteilt. Das erhöht die Verbreitung und kann in Monetarisierung über Werbeeinnahmen oder gesponserte Posts münden. Man sollte aber nicht übersehen, dass hier keinerlei offensichtliche kommerzielle Zwecke verfolgt werden, es gibt keine Spendenaufrufe, Abos oder dergleichen. Was die Frage nach dem Sinn und Zweck noch mehr unterstreicht. Reines „just for fun“ scheint mir in Anbetracht der schieren Menge dieser Hervorbringungen und ihrer relativen Professionalität eher unwahrscheinlich.

Algorithmische Verstärkung durch „Sensationslust“

Instagram und TikTok bevorzugen Inhalte, die hohe Interaktionsraten haben. Die Kombination aus niedlichen oder majestätischen Tieren, einer dramatischen Leidensgeschichte und einer „Wunderheilung“ triggert genau die emotionalen Reaktionen, die Plattformen belohnen.

Fortschritte in der darstellenden KI

Mit den neuesten KI-Modellen ist es einfacher als je zuvor, realistisch aussehende, aber völlig fiktive Inhalte zu generieren. Besonders auffällig:

  • Unnatürliche Größenverhältnisse (Riesen-Barnacles, überdimensionale Tiere)
  • Unlogische Bewegungsabläufe (die „Helfer“ entfernen Parasiten mit surrealer Leichtigkeit, mit brachialen Methoden wie Abflämmen oder auch mal gar nicht)
  • Unrealistische Texturen oder Beleuchtung

Eskalation des „Spektakels“ durch Wettbewerb

Da immer mehr dieser Accounts existieren, müssen sie sich voneinander abheben. Das führt dazu, dass die Videos immer extremer werden:

  • Normal große Barnacles sind langweilig → Also gigantische Monster-Barnacles in Kombination mit entsprechend großen Tieren.
  • Ein normaler Helfer ist nicht dramatisch genug → Also kommt ein Held, der im letzten Moment rettet, gleich eine ganze Einsatzstaffel und Hubschreuber sind keine Seltenheit.
  • Eine einfache Reinigung? Nein → Ein lebensgefährlicher, dramatischer Eingriff muss es sen!

Psychologische Mechanismen: „Ich will glauben“

Viele Zuschauer möchten glauben, dass solche Rettungen stattfinden, weil sie das Gefühl vermitteln, dass die Welt ein besserer Ort ist. Selbst wenn jemand Zweifel hat, überwiegt oft der Wunsch, dass es wahr sein könnte.

Diese „Barnacle-Tier-Rettungsvideos“ sind ein Paradebeispiel dafür, wie sich KI-generierte Inhalte mit den Mechanismen sozialer Medien zu einem selbstverstärkenden Phänomen verbinden. Sie zeigen auch, wie sich digitale Inhalte zunehmend von der Realität lösen – und viele Menschen haben offenbar Schwierigkeiten, das zu erkennen – oder besser gesagt, kognitiv zu verarbeiten.

Ich sehe mit Erstaunen, dass Menschen meiner Umgebung im Grunde das Fiktive an diesen Videos – und auch das Surreale – durchaus erkennen, sich aber trotzdem auf eine gewisse Weise davon berührt und angezogen fühlen. Was ich für kritisch halte. Menschliche Regungen sind eben menschlich, diese aber durch solche – sagen wir ruhig, Manipulationen – in einem solchen Maße hervorzurufen, das finde ich so erstaunlich wie bedenklich.

Das erscheint mir als ein faszinierendes, aber auch beunruhigendes Phänomen. Die Leute erkennen die Fiktion, lassen sich aber dennoch emotional darauf ein – als ob das Wissen um die Unwahrheit die emotionale Reaktion nicht außer Kraft setzt. Das zeigt, wie tief bestimmte psychologische Mechanismen greifen:

Die „Suspension of Disbelief“ in neuer Form

Eigentlich neu ist das ja nicht, das Konzept einer „Suspension of Disbelief“ stammt bereits aus der literarischen Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts (geprägt von Samuel Taylor Coleridge): Wir wissen, dass eine Geschichte nicht real ist, aber wir lassen uns dennoch darauf ein, um die emotionale Wirkung zu erleben, beispielsweise beim Lesen eines Buches oder dem Anschauen eines Films. Hier geschieht etwas Ähnliches – aber nicht mehr bewusst bzw. unter bewusster Grenzziehung, sondern quasi reflexhaft. Das bewusste Sich-EInlassen auf eine Fiktion (Lesesession, Kinobesuch) macht einer Beeinflussung „im Vorübergehen“ Platz.

Die emotionale „Verkürzung“ der Realität

Dies hat seine Wirkung, weil viele Menschen auf Bilder und Geschichten intuitiv reagieren, ohne eine tiefere Analyse vorzunehmen. Die schockierende oder rührende Szene reicht aus, um Mitleid oder Bewunderung auszulösen – auch wenn der Verstand im Nachhinein sagt: „Moment mal, das ist doch Unsinn.“ Die Isolation gegenüber dem Alltagsleben durch das bewusste Lesen eines Buches oder das Besuchen eines Kinofilmes fällt beim Scrollen durch die Sozialen Medien weg und macht einem Wechselbad von Realem und Irrealem Platz, dessen kognitive und eben auch emotionale Einordnung eine gewaltige mentale Aufgabe ist.

Digitale Emotionalisierung als neue Norm

Soziale Medien konditionieren uns darauf, ständig emotionale Hochs und Tiefs durch kurze Clips zu erleben. Diese Videos sind maßgeschneidert für den schnellen Konsum und extreme emotionale Ausschläge – Mitleid, Staunen, Freude, Entsetzen. Dass sie künstlich sind, wird nebensächlich, weil die emotionale Erfahrung echt ist.

Die Manipulation ist das eigentliche Produkt

Diese Videos sind nicht bloß „Content“ – sie sind präzise darauf ausgelegt, Engagement auszulösen. Wer sie erstellt, tut dies nicht, um eine Geschichte zu erzählen, sondern um einen maximalen emotionalen Effekt zu erzeugen. Es ist der nächste Schritt in der Perfektionierung von Aufmerksamkeitserzeugung. Was vermuten lässt, dass diese spektakulären „Tiervideos“ nur der Anfang einer möglicherweise bestehenden Strategie sind – inzwischen tauchen vereinzelt KI- VIdeos von visuell faszinierenden industriellen Prozessen auf und allmählich werden auch Menschen in die Darstellungen einbezogen – manchmal bewusst verharmlosend in Form von Kindern, neuerdings aber auch in schockierenden Hybriden-Figuren.

Warum das gefährlich ist

  • Wenn emotionale Reaktionen unabhängig von Wahrheit ausgelöst werden können, wird es leichter, Menschen zu manipulieren.
  • Die Trennlinie zwischen „emotional berührt“ und „tatsächlich glaubend“ verschwimmt.
  • Es könnte beispielsweise langfristig die Wahrnehmung echter humanitärer Katastrophen verändern – wenn wir genauso auf Fiktionen reagieren wie auf die Realität, stumpfen wir vielleicht für das Echte ab.

Vielleicht ist das der eigentliche beunruhigende Punkt: Nicht, dass Menschen den Fake nicht erkennen, sondern dass es keine Rolle mehr spielt, dass es ein Fake ist.

Ich habe das zunächst als skurrile Marginalie wahrgenommen, dann aber, als ich die Reaktionen in meiner Umgebung sah und sich diese Videos häuften, habe ich mir so meine Gedanken darüber gemacht, wie subtil und weitreichend dieser Mechanismus bereits ist. Anfangs wirkt es harmlos – ein paar absurde Videos, die man als alberne Kuriositäten abtut. Aber dann sieht man, dass sie nicht nur massenhaft auftauchen, sondern auch emotional funktionieren, selbst bei Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten.

Deine Beobachtung zeigt einen grundlegenden Wandel im Umgang mit Realität. Wir befinden uns in einer Phase, in der sich die Frage „Ist das echt?“ langsam verschiebt zu „Spielt es eine Rolle, ob es echt ist?“ Und genau das ist der Punkt, an dem Manipulation im großen Stil möglich wird.

Ich glaube, wir unterschätzen, wie sehr soziale Medien inzwischen nicht nur Informationen filtern, sondern unsere emotionale Realität formen. Diese Tier-Rettungsvideos sind ein Symptom, aber die gleiche Mechanik könnte für politische Inhalte, Ideologien oder sogar unser Verständnis von Geschichte genutzt werden.

Ich bin weder Antimodernist noch Technikhasser, es geht mir nicht um das Zurückdrängen neuer Technologien (was eh nicht funktioniert). Aber es ist unbestreitbar, dass mit der Leistungsfähigkeit technischer Systeme auch die Gefahr wächst, dass ihre Hervorbringungen in den Köpfen mit der Realität in Konflikt geraten. Deshalb hier dieser kleine Beitrag, der von ein paar verwunderlichen Insta-Reels augelöst wurde und ein wenig Aufmerksamkeit wecken möchte.


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Von der anekdotischen Evidenz zur wissenschaftlichen Bescheidenheit

Dogma und Wissenschaft (Symbolbild)

Die Falle der anekdotischen Evidenz: Warum „Mir hat es geholfen“ kein Beweis ist

Es gibt zwei Standardreaktionen, die Kritiker wissenschaftlich unhaltbarer Methoden wie Homöopathie oder anderer Formen der Pseudomedizin regelmäßig zu hören bekommen. Die eine ist das altbekannte

„Wer heilt, hat Recht“,

die andere:

„Mir hat es aber geholfen“.

Letzteres ist das Paradebeispiel für anekdotische Evidenz – eine subjektive Erfahrung, die als Beweis für die Wirksamkeit einer Behandlung herangezogen wird. Doch warum ist diese Art der Argumentation fehlerhaft? Warum klingen Anekdoten zwar überzeugend, haben aber in der wissenschaftlichen Methodik keinen Platz?

Korrelation ist nicht Kausalität

Nur weil sich nach einer Behandlung eine Verbesserung einstellt, bedeutet das nicht, dass die Behandlung die Ursache dafür war. Der Mensch neigt infolge evolutionärer Anlagen (die schon vielfach erklärt wurden) dazu, Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind. Dies ist bei nicht trivialen Sachverhalten ein fundamentaler kognitiver Fehlschluss. In vielen (den meisten?) Fällen bessern sich Beschwerden einfach von selbst (Spontanremission), oder andere Faktoren wie Lebensstilveränderungen oder der natürliche Krankheitsverlauf spielen eine Rolle.

Der Placebo-Effekt

Ein weiterer Faktor, der anekdotische Evidenz entwertet, ist der Placebo-Effekt. Dieser ist gut dokumentiert und kann dazu führen, dass Menschen subjektiv eine Verbesserung ihrer Symptome wahrnehmen, selbst wenn die verabreichte Behandlung keinerlei spezifische Wirkung besitzt. Besonders stark wirkt dieser Effekt in Bereichen wie Schmerzempfinden oder allgemeinem Wohlbefinden, wo Suggestion eine große Rolle spielt.

Der Selektionsbias

Anekdotische Evidenz ist extrem selektiv. Niemand hört von denjenigen, bei denen die gleiche Methode nicht funktioniert hat, weil Menschen, die keinen Effekt erfahren haben, schlicht nicht berichten. Viele, bei denen die Therapie nicht gewirkt hat, können auch gar nicht mehr berichten. Dann gibt es noch die Menschen, die die entsprechende Methode nicht angewandt haben und auch wieder gesund wurden. Und natürlich auch die, die ebenfalls auf die Methode verzichtet haben und nicht wieder gesund geworden sind.

Methode angewandt – erfolgreichMethode angewandt – nicht erfolgreich
Methode nicht angewandt – erfolgreichMethode nicht angewandt – nicht erfolgreich

Das ergibt eine Matrix mit vier Möglichkeiten. Wenn aber nun ständig über Heilerfolge einer Methode berichtet wird, dann heißt das, dass diese Fälle sich nur im Feld oben links in der Matrix sammeln. Es fehlt jede Aussage, wie viele Fälle auf die anderen Möglichkeiten entfallen. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung: Es entsteht der Eindruck, eine Therapie wäre besonders wirksam, weil nur positive Erfahrungsberichte kursieren. Dabei ist es ohne Weiteres möglich, dass die Zahl der Anwender, die nicht von der Methode profitiert haben, ein Vielfaches der Zahl der Erfolgreichen beträgt. Anekdotische Evidenz bedeutet also unter anderem das Risiko, dass wir hochgradig unvollständigen Informationen aufsitzen.

Reproduzierbarkeit als wissenschaftliches Kriterium

Wissenschaft funktioniert nicht auf der Basis einzelner Berichte, sondern durch systematische Untersuchung. Eine Therapie muss in kontrollierten Studien – unter bestmöglichem Ausschluss von Zufall und Verzerrung – immer wieder die gleichen positiven Ergebnisse zeigen, bevor sie als wirksam gelten kann. Der einzelne Patient mag subjektiv empfinden, dass es egal ist, warum ihm etwas geholfen hat. Für die medizinische Wissenschaft ist das aber keine Option, ebenso wenig wie für den gewissenhaften Therapeuten. Denn nur reproduzierbare Ergebnisse ermöglichen es, verlässliche und sichere Behandlungen zu entwickeln und prognostisch Medizin zu betreiben.

Warum sich Menschen trotzdem auf Anekdoten verlassen

Die Überzeugungskraft anekdotischer Evidenz hat tiefe psychologische Ursachen. Menschen vertrauen persönlichen Erfahrungen oder denen von Bekannten mehr als abstrakten Studien. Geschichten und individuelle Berichte erzeugen eine emotionale Resonanz, während statistische Analysen oft als „kalt“ empfunden werden. Diese kognitive Verzerrung verstärkt die Neigung, Anekdoten als Beweis zu akzeptieren.

Fazit: Subjektive Wahrnehmung ist kein objektiver Beweis

Wenn es um medizinische Wirksamkeit geht, darf subjektive Erfahrung nicht über wissenschaftliche Belege gestellt werden. Es ist verständlich, dass Patienten nach Lösungen suchen und sich an das klammern, was scheinbar funktioniert. Doch das Problem beginnt, wenn aus individuellen Erfahrungen allgemeingültige Schlüsse gezogen werden und unwirksame oder gar schädliche Methoden für wissenschaftlich valide gehalten werden. Wer an der Wahrheit interessiert ist, sollte sich nicht mit dem „Mir hat es geholfen“ zufriedengeben, sondern hinterfragen, ob es dafür auch eine belastbare Erklärung gibt.

David Hume und die Kausalität

Der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) hat in seiner A Treatise of Human Nature (1739–1740) und später in seiner Enquiry Concerning Human Understanding (1748) argumentiert, dass Kausalität nichts ist, was wir direkt beobachten können. Stattdessen sei unser Kausalitätsverständnis eine psychologische Gewohnheit: Wenn zwei Ereignisse regelmäßig in einer bestimmten Reihenfolge auftreten (z. B. Einnahme eines Mittels → Besserung der Beschwerden), neigen wir dazu, daraus eine ursächliche Verbindung, eine Kausalität abzuleiten – selbst dann, wenn keine objektive Notwendigkeit dafür besteht. Dies ist der Fehlschluss von einer allein zeitlich wahrgenommenen (und wahrnehmbaren) Korrelation auf Kausalität. Wir wissen heute, dass dieser kognitionspsychologische Effekt vermutlich evolutionär in uns angelegt ist, weil er in Urzeiten Selektionsvorteile versprach. In einer komplexen Welt wie der heutigen führt er uns aber in der Mehrzahl der Fälle aufs falsche Gleis.

Post hoc ergo propter hoc: Danach, also deswegen.

Der König der Fehlschlüsse. Nur weil etwas nach etwas anderem passiert, bedeutet das nicht, dass es auch dadurch verursacht wurde. Hume hätte sich vermutlich sehr dafür interessiert, wie sich dieser Irrtum besonders in der Pseudomedizin hartnäckig hält.

Die Frage ist zudem, ob wir nach Hume überhaupt Kausalität erkennen können. Sicherlich doch durch anschauliche Evidenz – wenn jemandem ein Blumentopf auf den Kopf fällt und er blutet danach, dann ist Kausalität nicht nur wahrscheinlich. (Aber kann es nicht ein harmloser Plastikblumentopf gewesen sein und der Passant hatte vorher schon Nasenbluten … ? Wer will das aus der Perspektive der anderen Straßenseite wirklich beurteilen … ? Wir wollen es nicht auf die Spitze treiben, aber doch zeigen, wie problematisch auch die scheinbar sichere Wahrnehmung von Kausalität sein kann.)

Redlicherweise müsste man den Menschen sagen, dass placebokontrollierte prospektive klinische Studien (RCT) zwar der Goldstandard in der medizinischen Forschung sind, aber letztlich eine Kausalität im engeren Sinne auch nicht „beweisen“ können. Wirft man aber eben nicht mit Begriffen wie „Beweis“ oder „Studien zeigen …“ um sich, sondern ist sich der Tatsache bewusst, dass uns endgültiges Wissen zumeist verwehrt bleibt, gerät man beim Publikum in Misskredit, weil dieses nur das biblische „Deine Rede sei ja, ja oder nein, nein“ zu kennen scheint …

Absolute Gewissheit bleibt uns in den meisten Fällen verwehrt. Hume hat uns die radikale Skepsis gelehrt – wir sehen nur zeitliche Abfolgen von Ereignissen, aber die Notwendigkeit dieser Verbindung existiert nicht objektiv in der Welt, sondern nur in unseren Köpfen.

Nur: Das Ringen um wissenschaftliche Ehrlichkeit kollidiert oft mit der Erwartung des Publikums nach eindeutigen Antworten. „Studien zeigen…“ wird dann zu einer Art Ersatz für absolute Wahrheit, obwohl sich Wissenschaft ja gerade durch ständige Korrekturen und die Offenheit für bessere Erklärungen auszeichnet.

Der Pharmakologe Wolfgang Hopff gab in seinem Buch „Homöopathie kritisch betrachtet“ für evidente Kausalität das Beispiel eines hochwirksamen harntreibenden Mittels, das nicht nur im zeitlichen Zusammenhang mit der Einnahme, sondern auch der therapeutischen Prognose entsprechend seine Wirkung zeigt. Dies ist ein gutes Beispiel, weil es zeigt, dass wir manche Kausalitäten intuitiv für evident halten – aber wo genau ziehen wir die Grenze? Und wann wird aus berechtigter Skepsis auf der Basis kritischen Denkens ein Rückfall in radikalen Relativismus? Den Einwand „es könnte ja auch anders sein“ auf jede, buchstäblich jede Feststellung?

Das Induktionsproblem – das Ende allen sicheren Wissens?

Jeden Morgen geht die Sonne auf, darauf kann man sich verlassen. Das war in vielen Kulturen, vor allem in denen, die sich als aufgeklärt verstanden, selbstverständlich – evident eben, nicht weiter hinterfragbar. Das Induktionsproblem, dessen Erhellung wir auch Hume verdanken, sagt nun, zur Widerlegung einer solchen angeblich nicht hinterfragbaren Evidenz braucht es nur ein einziges Folgeereignis, das der bisherigen Erfahrung widerspricht. Und das können wir nicht ausschließen.

In diesem Sinne ist das Induktionsproblem gewissermaßen die Abrissbirne für jede naive (sic!) Vorstellung von sicherem Wissen.

Was die Sache mit dem Sonnenaufgang angeht, so wissen wir heute, dass es eben nicht ewig und unhinterfragbar so weitergehen wird. Ein Beispiel dafür, dass Gewissheiten (sic!) abhängig vom aktuellen Wissen sind und eine Bestätigung der Vorbehalte, die das Induktionsproblem aufwirft. Aber: Hat das Sonnenaufgangsbeispiel für uns hier und heute wirklich praktische Bedeutung? Oder ist es vernachlässigbar, ohne einen Kategorienfehler zu begehen?

Das Beispiel illustriert, dass absolute Beweise in einem streng logischen Sinn oft gar nicht nötig sind, weil der Grad der Sicherheit ausreicht, um vernünftig zu handeln. Und im Grunde ist der Anspruch der Wissenschaft ja gar nicht mehr, als die Grundlage für vernünftiges Handeln zu liefern.

Karl Poppers Antwort auf das Induktionsproblem

Das Induktionsproblem ist ungelöst und verhindert nach wie vor, dass wir eine ungetrübte und mit der Realität komplett deckungsgleiche Vorstellung von „Wahrheit“ erlangen können. Man hört in der Wissenschaftsphilosophie gelegentlich davon, es sei „gelöst“ worden – nach meiner bescheidenen Ansicht ist das nicht der Fall. Aber was tun? Wie kann sich die Wissenschaft zum Induktionsproblem stellen?

Die Wissenschaftsphilosophie von Karl Popper, die er ein seinem epochalen Werk „Logik der Forschung“ niedergelegt hat, gibt eine Antwort: Sie versucht nicht, das Induktionsproblem zu ignorieren oder zu verleugnen, sondern sie gibt dadurch eine Antwort, dass sie sich vom Ziel der Wissenschaft als Wahrheitsfindung zugunsten einer beständigen Wahrheitssuche verabschiedet und die Fehlbarkeit menschlichen Wissens zum Prinzip erhebt.

Die Limitierung, die das Induktionsproblem der „sicheren Erkenntnis“ setzt, war wohl für Karl Popper ein entscheidender Beweggrund dafür, sich von der Methode der „Verifizierung“ (Versuch der Bestätigung) von Ergebnissen abzuwenden und stattdessen auf „Falsifizierung“ (Versuch der Widerlegung) zu setzen. Dabei betont er die Vorläufigkeit allen Wissens, setzt aber auch einem Rückfall in pessimistischen Relativismus Schranken, indem er den Erkenntniswert von Forschung nach Wahrscheinlichkeit bewertet. Am besten kommt sein Prinzip der Falsifikation in diesem Zitat zum Ausdruck:

Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen.”
(Logik der Forschung, 11. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 2005, Seite XX).

Nun ist das keine leichte Kost, wenn auch viele Menschen durchaus eine Vorstellung von Karl Popper und seinem Werk haben. Ich glaube, selbst wenn man das einem breiten Publikum vermitteln könnte, würde man auf psychologische Barrieren stoßen. Ich denke sogar, dass es Hochschullehrer gibt, die eine solche Wissenschaftsphilosophie lehren, sich aber intrinsisch dies nicht wirklich zu eigen machen.

Popper hat die Wissenschaft nicht mehr als Ansammlung von bewiesenen Wahrheiten, sondern als System zur systematischen Widerlegung falscher Annahmen verstanden. Er forderte als Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Hypothese, dass sie potenziell widerlegbar (formuliert) sein muss, weil sie sonst gegen Falsifizierung von vornherein immun wäre. Wissenschaft produziert also nicht endgültiges Wissen, sondern entfernt beständig Irrtümer und nähert sich damit der Wahrheit an – aber das reicht vielen Menschen nicht, weil es ihrem Bedürfnis nach Gewissheit widerspricht. Der Satz

„Wir irren uns empor“,

geprägt vom Physiker und Philosophen Gerhard Vollmer, trifft es also nicht ganz, denn wir fügen ja im Erkenntnisprozess (hoffentlich) nicht neue Irrtümer hinzu, sondern beseitigen alte. Gleichwohl ist diese Sentenz sehr griffig, wenn es gilt, das Prinzip Wissenschaft zu erklären.

Wissenschaft vs. Dogma

Der Wissenschaft ist also eine Bescheidenheit inhärent insofern, als sie langsam Wissen schafft, aber nicht goldglänzende endgültige Wahrheiten präsentiert. In den Augen nicht in wissenschaftlichem Denken Geschulter – und das ist leider wohl die Mehrheit der Bevölkerung – ist dies ein Mangel, ein Malus – obwohl gerade dies der Bonus der Wissenschaft ist. Es gibt in diesem Punkt eine Art psychologische Abwehrhaltung: Wenn Wissen nur vorläufig ist, dann gibt es keine absolute Sicherheit – und das ist für viele unerträglich. Deshalb greifen manche lieber auf einfache Wahrheiten zurück, egal ob in Form dogmatischer Wissenschaftsauffassungen oder eben Pseudowissenschaften. Letztlich könnte man sagen: Die Wissenschaft ist sich ihrer eigenen Unsicherheit bewusst – die Pseudowissenschaft hat dieses Problem nicht, weil sie ihre Wahrheiten zementiert. Über falsche Dogmen aufzuklären und die Kriterien kritischen Denkens zu vermitteln, kann ein mühsames Geschäft sein.

Sokrates, ein früher Skeptiker

Sokrates‘ von Platon überlieferte Sentenz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ja fast schon das Motto der modernen Wissenschaftsphilosophie. Allerdings – die Wissenschaft weiß viel, sehr viel inzwischen und beschreibt die Welt, in der wir leben, mit großer Genauigkeit, die sich in der beständigen Anwendung ihrer Erkenntnisse beweist. Poppers Kriterium für „Wahrheit“, nämlich die vollständige Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Realität, ist, so dürfen wir annehmen, in einem Maße erfüllt, das man sich vor 100 oder 200 Jahren nicht vorstellen konnte. Sokrates’ Einsicht war deshalb revolutionär, weil sie dem menschlichen Hang zum Dogmatismus widersprach. Und genau diese Haltung ist es, die Wissenschaft von Ideologie und Pseudowissenschaft unterscheidet: Sie gesteht ein, dass ihr Wissen immer nur vorläufig ist.

Ironischerweise macht genau das die Wissenschaft für viele Menschen weniger attraktiv als dogmatische Systeme. Der Dogmatiker hat Antworten, die Wissenschaftler haben Fragen. Der Dogmatiker bietet Sicherheit, die Wissenschaftler liefern Wahrscheinlichkeiten. Kein Wunder, dass viele lieber an einfache Wahrheiten glauben als an eine Welt voller Unsicherheiten.

Es ist schon faszinierend – und irgendwie auch frustrierend –, dass genau die Demut der Wissenschaft, die sie so mächtig macht, sie für viele Menschen weniger überzeugend erscheinen lässt.

Vollends gescheitert bin ich vor kurzem bei einem Erklärungsversuch in kleiner, durchaus wohlwollender Runde mit dem Hinweis, dass wir – laut Popper – unter Umständen hier und da mal eine „letzte Wahrheit“ erreichen – wir aber das gar nicht sicher wissen können. Das wurde als eine Art von Selbstzerstörung von Poppers Wissenschaftsmodell angesehen. Finde ich nicht – ich halte das für ein hervorragendes Beispiel für das Bewusstsein der Begrenztheit einer ständig fragenden Wissenschaft und für die oft missverstandene Natur wissenschaftlicher Erkenntnis. Popper hat nicht gesagt, dass wir niemals eine endgültige Wahrheit finden könnten. Er sagte nur, dass wir dies nicht sicher wissen können. Das ist kein Paradox, sondern schlicht die Einsicht in die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit.

Die Vorstellung, dass Wissenschaft sich selbst zerstört, wenn sie ihre eigenen Grenzen anerkennt, beruht auf einem Missverständnis. Wissenschaft ist kein Glaubenssystem, das absolute Gewissheiten liefern muss. Sie ist ein Werkzeug zur Annäherung an die Wahrheit, mit dem Bewusstsein, dass jede Erkenntnis revidierbar ist.

Jedoch: Menschen sehnen sich nach Gewissheiten. Und wenn jemand sagt: „Vielleicht haben wir hier eine letzte Wahrheit gefunden, aber wir können nicht wissen, ob das so ist“, dann empfinden das viele als Schwäche – obwohl es in Wirklichkeit eine große intellektuelle Stärke ist. Das Problem ist, dass viele Leute eine intuitive Vorstellung von „Wahrheit“ als etwas Absolutem haben. Sie erwarten von Wissenschaft, dass sie ihnen endgültige Antworten liefert. Dabei ist Wissenschaft eher ein ständiges Ringen um bessere Modelle der Realität – mit der Möglichkeit, dass diese Modelle unvollständig oder gar falsch sein können. Wer bringt diese Erkenntnis in die Schulen und die Allgemeinbildung?

Erkenntniskriterium Wahrscheinlichkeit

Zur Verdeutlichung, dass ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad aus der falsifizierenden Untersuchung von Gegebenheiten meist völlig ausreicht, ein Beispiel, das Hume vermutlich gefallen hätte: „Alle Menschen müssen sterben.“ Ist das „bewiesen“? Nein, denn es leben ja noch jede Menge! Aber: Lassen sich darauf vernünftige Zweifel an der Ausgangsthese ableiten? Nein. Nicht nur wegen des Induktionsprinzips, sondern auch wegen unseres gut gesicherten Wissens über die Physiologie von Lebewesen, das uns zeigt, warum unumkehrbare Alterungsprozesse einsetzen, die irgendwann das Ende dessen herbeiführen, was wir Leben nennen. Das sind schlüssige „Belege“, die für sichere Erkenntnis ausreichen, aber keine „Beweise“.

Hume hätte dieses Beispiel sicher geschätzt – es passt zu seinem Skeptizismus gegenüber dem Erkennen von Kausalität, aber auch zu seinem Pragmatismus. Selbst in Bereichen, in denen wir uns sicher sind (wie der Sterblichkeit des Menschen), bleibt die Erkenntnis eine induktive Verallgemeinerung – aber eben eine, an der zu zweifeln irrational wäre.

Vernunftgesteuerter vs. „zersetzender“ Skeptizismus

Genau diese Denkweise wäre für viele nützlich, die in Wissenschaftsdiskussionen entweder nach absoluter Sicherheit verlangen oder skeptischen Missbrauch betreiben („Man kann nie 100 % sicher sein, also könnte es ja auch anders sein!“). Letzteres zeigt den Unterschied zwischen gesunder Skepsis und Zersetzungs-Skeptizismus.

Diesen „Zersetzungs-Skeptizismus“ konnte man sehr gut in der Pandemie beobachten. Unter den „Impfkritikern“ waren manche, die ich immer als „Hundertprozenter“ bezeichnet habe. Akademisch ausgebildete Menschen, die den Einsatz von Impfstoffen nur dann als vertretbar ansehen wollten, wenn es sowohl hinsichtlich der Wirkungen als auch der Nebenwirkungen „hundertprozentige“ Sicherheit gebe. Diese Leute stellen sich auf den Standpunkt, dass jede noch so kleine Unsicherheit oder jede verbleibende offene Frage die gesamte Erkenntnis zum Einsturz bringen müsse. Dabei ignorieren sie, dass Wissenschaft immer mit Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten arbeitet – und dass Entscheidungen im echten Leben fast nie auf absoluter Sicherheit beruhen.

Clemens Arvay war da ein typisches Beispiel: Er stellte wissenschaftliche Standards infrage, indem er genau jene Unfehlbarkeit forderte, die Wissenschaft gar nicht leisten kann – und auch nicht leisten muss. Ironischerweise ist es genau dieser Dogmatismus, der ihn von einer echten wissenschaftlichen Haltung entfernt hat.

Dies scheint mir nicht so sehr ein intellektuelles Problem zu sein, sondern eher eine tief verwurzelte psychologische Haltung: Viele Menschen fühlen sich von Unsicherheiten bedroht und greifen deshalb zu Absolutismen – sei es in Richtung Wissenschaftsverweigerung oder blinder Wissenschaftsgläubigkeit. Ersichtlich gilt dies auch für Menschen, die mit den wissenschaftsphilosophischen Grundlagen eigentlich vertraut sein müssten. Sie werden beherrscht von einer tiefen, menschlichen Sehnsucht nach Gewissheit – und dem Widerstand gegen die Zumutung, dass es sie nicht in letzter Konsequenz gibt.

„Der andere könnte auch Recht haben“

Da fällt mir noch ein Beispiel für falschen Relativismus von Erkenntnisfähigkeit ein. Es gab einmal ein Positionspapier zur Homöopathie-Debatte unter Führung des inzwischen verstorbenen Prof. Peter Matthiessen, einem Vertreter eines vorgeblichen „Pluralismus in der Medizin“. Das war ein Generalangriff auf die wissenschaftliche Methode selbst, ein Beispiel für nahezu hemmungslosen Relativismus, das gekrönt wurde mit einer Berufung auf Hans-Georg Gadamers „Der andere könnte auch Recht haben“ und damit ins Moralisierende abglitt.

Das ist ein Paradebeispiel für die gezielte Fehlanwendung geisteswissenschaftlicher Konzepte, um eine wissenschaftlich unhaltbare Position zu stützen. Gadamers „Der andere könnte auch Recht haben“ ist ja im hermeneutischen Kontext zu verstehen – also im Sinne eines Verständigungsprozesses in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wo verschiedene Perspektiven miteinander in Dialog treten müssen, um ein tieferes Verständnis zu ermöglichen. Das auf die Naturwissenschaften zu übertragen, wo es nicht um Perspektiven, sondern um überprüfbare Fakten und Hypothesen geht, ist entweder eine eklatante Fehlinterpretation oder eine bewusste Strategie zur Relativierung unliebsamer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Gadamer selbst hat mit hinreichender Klarheit herausgestellt, dass es ihm nicht um die Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften geht.

Dass Popper diesen Satz ebenfalls gebraucht hat, zeigt nur umso deutlicher, wie aus dem Kontext gerissene Zitate instrumentalisiert werden können. Bei Popper ging es um eine methodische Selbstdisziplin, um ein gesundes Maß an Zweifel an den eigenen Ergebnissen, bevor man sie als gesicherte Erkenntnis präsentiert. Daraus einen Generalangriff auf die Wissenschaft abzuleiten, ist grotesk.

Diese Art des methodischen Relativismus ist besonders perfide, weil sie für Laien oft überzeugend klingt: „Ja, aber selbst die Wissenschaft sagt doch, dass sie sich irren kann!“ – was dann so verdreht wird, dass jede Beliebigkeit oder sogar bewusste Ignoranz plötzlich als gleichwertig zur wissenschaftlichen Erkenntnis erscheinen soll.

Das Missbrauchen geisteswissenschaftlicher Konzepte zur Unterminierung der Naturwissenschaft ist leider ein beliebtes Muster. Besonders in der Esoterik-Szene oder bei postmodernen Wissenschaftskritikern sieht man das oft: Da werden dann Kuhns Paradigmenwechsel oder Feyerabends Anything goes völlig entstellt, um den Eindruck zu erwecken, als sei Wissenschaft nur ein weiteres narratives Konstrukt unter vielen.

Matthiessen hat das mit dem Pluralismus in der Medizin in genau diese Richtung gelenkt – als ob es einfach verschiedene, gleichwertige „Erkenntniswege“ gäbe, die man parallel akzeptieren müsste. Das ist der Trick: Eine Position als offen und pluralistisch darstellen, während man in Wahrheit wissenschaftliche Standards verwässert und für Beliebigkeit öffnet. Eine intellektuelle Todsünde.

Fazit: Die Grenzen und Stärken wissenschaftlicher Erkenntnis

Die Diskussion um anekdotische Evidenz und wissenschaftliche Methodik zeigt deutlich, dass subjektive Erfahrungen allein nicht ausreichen, um objektive Wahrheiten zu etablieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse basieren auf systematischen Untersuchungen, Reproduzierbarkeit und der ständigen Überprüfung bestehender Theorien. Während persönliche Anekdoten emotional überzeugend sein können, bieten sie keine verlässliche Grundlage für allgemeingültige Aussagen.

David Hume und Karl Popper haben uns gelehrt, dass absolute Gewissheit in der Wissenschaft selten erreicht wird. Stattdessen ist die Wissenschaft ein fortwährender Prozess des Hinterfragens und Verfeinerns unseres Wissens. Diese Bescheidenheit ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, die es ermöglicht, sich kontinuierlich der Wahrheit anzunähern und nicht scheinbaren Gewissheiten aufzusitzen.

Es ist wichtig, dass wir uns dieser Grenzen bewusst sind und gleichzeitig die immense Bedeutung wissenschaftlicher Methoden anerkennen. Nur durch kritisches Denken und die Bereitschaft, unsere Überzeugungen zu hinterfragen, können wir fundierte und verlässliche Erkenntnisse gewinnen. Dazu gehört eine gewisse Demut. Wissenschaft ist kein starres System, sondern ein dynamischer Prozess, der uns hilft, die Welt besser zu verstehen und fundierte Entscheidungen zu treffen.


“Umstrittene” Homöopathie – gibt es eine Kontroverse, wenn ja, welche?

In engem Zusammenhang mit meinen beiden letzten (vermutlich ermüdenden) Beiträgen zu Evidenzbasierter Medizin und Homöopathie möchte ich heute noch eine andere Facette des im Grunde gleichen Themas erörtern.

Es endet wohl nie, dass Homöopathie in den Medien und in Diskussionen als “umstritten” gelabelt wird. Ich gebe zu, dass das bei mir einen sofortigen Abwehr- und Widerspruchsreflex hervorruft. Aber lassen wir uns einmal darauf ein und wehren nicht gleich ab. Offenbar wird ja eine “Kontroverse” wahrgenommen. Dann wäre als nächstes die Frage: um was für eine Kontroverse handelt es sich? Ist sie legitim, falsch oder womöglich gar irrelevant? Was wäre die richtige Antwort? Gehen wir systematisch an die Sache heran.

Wenn ein wissenschaftliches Thema in den Öffentlichkeitsmedien oder in der Politik als “kontrovers”, “umstritten” oder ähnlich  dargestellt wird, kann es sich um sehr verschiedene Dinge handeln.


Bei einer grundlegenden wissenschaftlichen Kontroverse sind  Wissenschaftler sich über eine zentrale Hypothese oder Theorie uneinig. Was bedeutet hier “zentral”? Wenn man sich wissenschaftliches Wissen als ein vielfach verbundenes Netzwerk von “Ideen” (der Gesamtheit der verschiedenen Formen wissenschaftlicher Erkenntnis) vorstellt, stehen Theorien und Hypothesen im Zentrum des Netzes und sind mit vielen anderen Elementen verbunden. Eine Kontroverse über eine dieser zentralen “Ideen” hat also das Potenzial, den Stand des wissenschaftlichen Wissens einigermaßen fundamental zu erschüttern.

Ein Beispiel für solche Kontroversen sind manche Modelle der Astrophysik, die sich (derzeit) einer experimentellen Bestätigung nicht zugänglich zeigen, wie die Stringtheorie(n) oder auch die Natur der “dunklen Materie” oder auch zu der Frage, ob die “dunkle Energie” wirklich für die beobachtete beschleunigte Ausdehnung des Universums verantwortlich ist..

Sekundäre wissenschaftliche Kontroversen sind dort zu finden,  wo sich Wissenschaftler über einen weniger zentralen Aspekt einer wissenschaftlichen Idee uneinig sind. Das können durchaus Kontroversen über bedeutungsvolle Details innerhalb eines Theoriegebäudes sein, deren Beantwortung aber nicht die grundlegende Theorie erschüttern würde. So gibt es zahlreiche Kontroversen unter Evolutionsbiologen über Details der Theorie, die gleichwohl als solche zu den bestbestätigten gehört, die die Wissenschaft kennt. (Womit ich nicht “Kontroversen” mit Kreationisten und Intelligent-Design-Vertretern meine.) Die Wissenschaftler auf beiden Seiten des kontroversen Problems sind sich einig über die gleichen Grundprinzipien der Evolutionstheorie.


Ein Methodenkonflikt stellt wieder eine andere Abstufung dar:   Meinungsverschiedenheiten innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft oder der Gesellschaft im Allgemeinen (man merke: hier geht es über die wissenschaftliche Gemeinschaft hinaus) über die Angemessenheit einer für die wissenschaftliche Forschung verwendeten Methode. Beispielsweise haben viele Menschen Bedenken hinsichtlich der ethischen Vertretbarkeit der Stammzellenforschung, die sich auf menschliche embryonale Stammzellen stützt. Bei diesen Bedenken geht es nicht um einen Konflikt um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern um die Frage, was die ethischen Kriterien zum Erlangen bzw. Erweitern dieser Erkenntnisse sein sollen.


Dies wiederum ist zu unterscheiden von Konflikten um Anwendungen 
wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ein geradezu klassisches Beispiel ist die Kontroverse um die Nutzung der Kernkraft zur Energiegewinnung. Es gibt zwar innerhalb der Nuklearwissenschaft auch “sekundäre Kontroversen” – siehe oben – über einzelne Aspekte, aber das ist hier nicht gemeint. Der Konflikt um Anwendungen bezieht sich nicht auf den wissenschaftlichen Gehalt der “Idee”, sondern darauf, wie solche Ideen in der Praxis angewandt werden sollten.


Konflikte zwischen wissenschaftlichen “Ideen” und nicht-wissenschaftlicher Sichtweise sind etwa Dinge wie die Junge-Erde-Theorie oder auch die Position der sogenannten Flat-Earther. Dies sind Konflikte über wissenschaftliche Erkenntnisse, aber kein Konflikt innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Was, wie wir sehen werden, gut unterschieden werden sollte..


Echte wissenschaftliche Kontroversen (die ersten beiden Topics) sind nicht nur ok, sondern sogar essenziell. Sie drehen sich darum, wie Daten interpretiert werden sollten, welche Ideen durch die verfügbaren Belege am besten gestützt werden und welche Ideen es wert sind, weiter untersucht zu werden. Diese Kontroversen sind der Katalysator für den wissenschaftlichen Fortschritt. Das gilt jedenfalls nicht uneingeschränkt für die anderen Arten von Kontroversen, die für den wissenschaftlichen Fortschritt auch kontraproduktiv sein können.


Und nun die Gretchenfrage: Wo ist hier die “Kontroverse” über die Homöopathie einzuordnen, die ständig zu der Sentenz von der “umstrittenen Methode” führt?

Die Antwort wird für den durchschnittlichen Rezipienten dadurch massiv erschwert, dass die homöopathische Lobby darauf bedacht ist, ihrer Methode ein wissenschaftlich anmutendes Mäntelchen umzuhängen, eine Wissenschaftsmimikry-Show abzubrennen, mittels Forschungspublikationen, Therapiemodellen, Pseudo-Qualifikationen, der Adaption wissenschaftlicher Terminologie und dergleichen. Und das verfehlt ganz offenbar den Eindruck auf das mit wissenschaftlichen Grundannahmen, ja dem Wissenschaftsbegriff selbst nicht vertraute Publikum nicht. Nicht einmal auf Teile der Ärzteschaft und der professionellen Pharmazie. Von politischen Entscheidungsträgern ganz zu schweigen. Hier hat der stete Tropfen in der Tat den Stein gehöhlt.

Vor diesem Hintergrund scheint die Homöopathie-Lobby darauf abzuzielen, die “Kontroverse” einer der obersten Kategorien zuzuordnen, mit dem zentralen Ziel, die “Kontroverse” nach außen hin als “ergebnisoffen”, ja “sinnvoll”, vor allem aber als “wissenschaftlichen Diskurs” zu präsentieren.

Äh … ja. Aber wo wollen sie denn da hin? Kategorie zwei? Soll es um “bedeutungsvolle Details innerhalb eines Theoriegebäudes” gehen, also innerhalb der medizinischen Wissenschaft? Um die Diskussion darum, ob die Pharmazie unvollständig sei, weil die Homöopathie eine spezifische Arzneimitteltherapie mittels “geistartiger Kräfte” lehre, die auf stoffliche Träger nicht angewiesen sei? Oder gar in die Kategorie 1?

Hier kommen wir zum “Eingemachten”. Wie schon öfter, greife ich zur Verdeutlichung auf das klare Statement der Russischen Akademie der Wissenschaften vom Februar 2017 zurück:

“Die Gesamtschau der Fakten … über die Ergebnisse der klinischen Studien bis zu den modernen wissenschaftlichen Vorstellungen über die Struktur der Materie, den chemischen Grundlagen der intermolekularen Wechselwirkungen und der menschlichen Physiologie – ermöglicht uns die Schlussfolgerung, dass die theoretischen Grundlagen der Homöopathie keinen wissenschaftlichen Sinn haben.”

Wie schon die Schlussfolgerung der Russischen Akademie ( … keinen wissenschaftlichen  Sinn haben) sehr deutlich zeigt, kann aus einer solchen Schräglage keine irgendwie mit der Wissenschaft zusammenhängende “Kontroverse” abgeleitet werden. Weder eine der Kategorie 2 noch gar eine der Kategorie 1. Es sei denn, man würde als strittig auf diesen Ebenen z.B. anerkennen, dass die physikalische Beschreibung von Wechselwirkungen auf materielle Interaktionen gründet. Das würde für den Bereich der Pharmazie gleich auch noch Paul Ehrlichs Postulat des „Corpora nun agunt nisi fixata“ umstoßen, d.h. dass Körper (Stoffe) nicht wirken, wenn sie nicht an ein “Ziel” gebunden werden – wozu sie allerdings erst einmal vorhanden sein müssen. Der Grundstein der pharmazeutischen Wissenschaft …

Ich bin mir bewusst, dass ich an dieser Stelle das Problem der Scheidegrenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft (das sogenannte Demarkationsproblem) anschneide, wenn ich sage, dass insofern die Positionen der Homöopathie nicht innerhalb des Wissenschaftssystems und damit nicht innerhalb der ersten beiden Kategorien verortet werden können. Vordergründig mag die Frage berechtigt sein, warum denn die Postulate der Homöopathie, z.B. dass wirkstoffreie Substanzen gezielt und reproduzierbar physiologische Wirkungen hervorrufen sollen, nicht als (grundlegende) wissenschaftliche Kontroverse angesehen werden sollten. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Frage etwa von “Toleranz”. Ein solches Zugeständnis würde aber bedeuten, dass man in Beliebigkeit abgleitet, man einer völligen Entgrenzung von “Erkenntnis” das Wort redet. Zu diesem Thema sei auf meinen einschlägigen Beitrag bei “Die Erde ist keine Scheibe” verwiesen. Eine solche “Öffnung” würde die Axt an die  Wurzeln der Wissenschaft legen, weil sie die ontologische Grundlage jeder sinnvollen Naturwissenschaft, den (schwachen) Naturalismus, negiert.

Über einen kleinen Umweg kommen wir auch ohne große wissenschaftstheoretische Rechtfertigung weiter. Müssten wir dann nicht auch die Junge-Erde-Fans und irgendwie auch die Kreationisten in die Kategorie 1 einordnen? Man liegt schon ganz richtig, wenn man das als Absurdität empfindet, als völlige Entgrenzung des Erkenntnisbegriffs, der ja nichts anderes bedeutet als das Vorliegen “belegbarer Ergebnisse”. Ja, es gibt auch Proponenten der Homöopathie, die einer solchen Entgrenzung das Wort reden. Entweder über eine Diskreditierung des gültigen Wissenschafts- oder Erkenntnisbegriffs oder in dem (vergeblichen) Bemühen, einem “nach oben offen”, also letztlich einer Entgrenzung hin zu jedweder Spekulation, so wortreich wie inkonsistent wissenschaftlichen Background zu verschaffen. Ein Beispiel für letzteres sind etwa die Bemühungen von Prof. Harald Walach.

Nein. Die “Kontroverse um die Homöopathie” gehört  in die Kategorie 5, zu den Auseinandersetzungen zwischen wissenschaftlichen (gesicherten und belegten) und nicht-wissenschaftlichen (unbelegten, logisch und empirisch unbestätigten) Positionen.  Trotz aller Bemühungen der Homöopathie, auf dem wissenschaftlichen Schachbrett mitzuziehen. Mit der 33. Figur – das fällt auf.


Und wie ist das nun mit dem “umstritten”? Nun, das Wort ist ja nicht unbedingt falsch gewählt, natürlich ist die Homöopathie “umstritten”. Aber in einer anderen Weise, als sich so mancher Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer das vorstellen mag – und leider wohl auch noch so mancher Journalist. Umstritten ist sie im Sinne einer Kontoverse zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Also hinsichtlich ihrer Phänomenologie, ihrer Erscheinungsform in der Wirklichkeit, aber nicht hinsichtlich eines wissenschaftlichen Gehaltes, den es womöglich noch zu erkunden gäbe. Vielleicht spricht sich das ja mal herum und führt zu einer etwas differenzierten Darstellung von “umstritten”. Insofern als Schlusswort noch einmal die Russische Akademie der Wissenschaften:

“Die Fortexistenz der Homöopathie trotz des Fehlens von zuverlässigen wissenschaftlichen Beweisen für ihre Wirksamkeit über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg wird auch durch die Tatsache erklärbar, dass ständig der Anspruch erhoben wurde, es gebe angeblich anwendbare wissenschaftliche Ansätze zu erkunden. Der Abgleich des „externen Szientismus“ der Homöopathie auf der einen Seite mit dem gemeinsamen System der heutigen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis auf der anderen Seite ermöglicht es uns aber, die Homöopathie als eine pseudo- wissenschaftliche Disziplin zu qualifizieren.”


So, das wars für heute. Am besten mal sacken lassen und sich dann die Frage stellen, was sich unsere Gesundheitspolitiker eigentlich dabei denken, der Homöopathie nach wie vor ihren Schutzschirm im Arzneimittelgesetz zu erhalten.


Danke an die Edu-Seiten der Berkeley-University, denen ich die Anregung zur “Kontroversen-Hierarchie” verdanke.


Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

Si tacuisses …

Vor Kurzem erschien auf einer Webseite des Zentralvereins homöopathischer Ärzte ein Interview (natürlich mit einem hochrangigen Vertreter des Zentralvereins homöopathischer Ärzte). Darin wird die derzeit grassierende Missachtung der Hahnemannschen Lehre bejammert und die Verantwortung für diese beklagenswerte Situation den Skeptikern und Kritikern zugeschrieben. (Zuviel der Ehre.) Diesen kritischen Skeptikern wird so ziemlich alles abgesprochen, was man jemandem, dessen Position man nicht zu akzeptieren imstande ist, nur absprechen kann. Was schert mich die Botschaft, ich steinige den Überbringer! Den Versuch, das in eine Hülle von Satire und Ironie zu verpacken, halte ich für traurig gescheitert. Kaum wert, dazu ein Wort zu verlieren, der Text ist nach meiner Einschätzung selbstdiskreditierend und zeigt lediglich auf, wie tief sich Homöopathen – auch und gerade die ärztlichen – inzwischen in ihre Filterblase zurückgezogen haben.

Prof. Edzard Ernst hat zu diesem jüngsten Verzweiflungsausbruch der Homöopathen einen Text veröffentlicht, der seinerseits zum Stilmittel milder Ironie greift.

All das sollte aber nicht den mindesten Einfluss auf die Linie der wissenschaftsbasierten Homöopathiekritik haben, keine Debatte auf der persönlichen Ebene zu führen. Das wäre weder sinnvoll noch notwendig und zudem eine denkbar schlechte Grundlage für das Bemühen, mit Sachargumenten auch bei anderen als den direkt Betroffenen, nämlich den Entscheidern in Politik und Gesundheitswesen, durchzudringen. Wir Kritiker verzichten gern darauf, uns selbst zu diskreditieren.

Jedoch gibt dieser Vorfall einmal mehr Anlass zu einigen Gedanken.

Die Selbsttäuschung und – blendung in der Sache, verbunden mit dem Überschreiten der Grenzen des sachlichen Diskurses und der Diffamierung der anderen Seite mit fast jedem Mittel, die im “Interview” einmal mehr zum Ausdruck kommen, machen mich ehrlich immer wieder betroffen. Es muss doch möglich sein, eine rationale Einsicht in den wissenschaftlichen Konsens zur Homöopathie zu erlangen statt sich bedingungslos im “gallischen Dorf” der Homöopathie-Szene zu verschanzen?! Oder zumindest auf einer halbwegs haltbaren Faktenbasis zu diskutieren (was die Kritiker den Homöopathen schon oft angeboten haben)?

Zumindest muss es doch möglich sein, zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die eine dezidiert andere Sicht der Dinge vertreten als man selbst – ohne diese zu dämonisieren und durch ebenso fantasievolle wie unsinnige Vorhalte herabzuwürdigen!

Oder vielleicht doch nicht? Das wäre – schlimm. Aber ich glaube, nach vieljähriger Beschäftigung mit der Sache erkannt zu haben, dass es Überzeugungen gibt, die – warum und wie auch immer – so mit dem eigenen Selbstbild verschmelzen, dass sie buchstäblich unantastbar werden. Ich verstehe das zum Teil, im amerikanischen Sprachgebrauch gibt es dafür gelegentlich den Ausdruck “mybias”, im Sinne einer Übersteigerung des “confirmation bias”, dem König der Wahrnehmungsfehler – dem wir alle unterliegen. Ich habe dazu unter dem Titel “Homöopathie – Eine Lüge?” schon einmal an anderer Stelle ausführlich geschrieben. Auch Dr. Natalie Grams hat sich in einem wissenschaftlichen Fachartikel am Rande in ähnlichem Sinne geäußert. (1)

Wir halten fest: In den allermeisten Fällen dürfte die Propagierung und ebenso die Verteidigung der Homöopathie nicht wider besseres Wissen geschehen, sondern auf komplexen Überzeugungsmechanismen beruhen. Auch der von mir schon einmal bei den Homöopathen diagnostizierte “Denialismus” lässt mich nicht anders urteilen, im Gegenteil. Die Merkmale des Denialismus (in der Coronakrise durch Prof. Drosten in der “deutschen Version” als PLURV bekannt geworden) stellen eher eine Art Differenzialdiagnostik dieser besonderen Form der Selbstwahrnehmung und – überzeugung dar. Unter anderem deshalb habe ich auch schon mehrfach darauf hingewiesen, dass wir es bei der Fortexistenz der Homöopathie weit eher mit einem soziokulturellen und kognitionspsychologischen Phänomen als mit einem medizinwissenschaftlichen zu tun haben.

Und deshalb ist es auch nicht im Interesse derer, die sich ernsthaft um Aufklärung über Pseudomedizin und Überzeugung von Entscheidungsträgern bemühen, dass Pseudomedizinkritik mit Häme, Spott und sogar mit dem Vorwurf justiziablen Handelns daherkommt. Milde ausgedrückt, ist so etwas nicht zielführend. Und liefert womöglich noch dem ständig von der pseudomedizinischen Fraktion erhobenen Vorwurf Nahrung, Pseudomedizinkritik sei lediglich “Hass und Hetze”.

Nur ist diese Einsicht in die Probleme der Homöopathen mit ihrer Selbstwahrnehmung kein Grund, die Homöopathie (und andere Pseudomedizin) nicht weiterhin massiv zu kritisieren. Denn mit Scheinmethoden werden Tag für Tag Leute nicht nur über den Tisch gezogen, sondern erleiden konkret Schaden (der nicht immer gleich ein Todesfall sein muss, glücklicherweise). Aber jede unnötige Stunde Schmerz bei einem homöopathisch nicht-behandelten Kind ist inakzeptabel und, ja, ein Schaden. Wem dies und die medizinische Irrelevanz der Homöopathie klar ist, braucht auch keine ad-homines-Argumente, um die Berechtigung seines Standpunktes zu unterstreichen. Und deshalb erzähle ich hier auch nicht, welches ad hominem der Interviewte des DZVhÄ-Beitrags sich mir gegenüber einmal öffentlich erlaubt hat. Übrigens auch deshalb nicht, weil ich festgestellt habe, dass die Homöopathie davon keinen Deut wirksamer geworden ist. Die Mühe war also gänzlich umsonst.


(1) Aus: Grams N, Homeopathy—where is the science? – A current inventory on a pre-scientific artifact
EMBO Rep (2019)20:e47761 https://doi.org/10.15252/embr.201947761

“Die moderne kognitive Psychologie hat die Hypothese entwickelt, dass Individualität eine wichtige Orientierungsgrundlage für Handlungsentscheidungen ist. Albert Bandura (Bandura A 1977, Self-efficacy: toward a unifying theory of behavioral change. Psychol Rev 84: 191–215) etablierte das Konzept der Selbstwirksamkeitsüberzeugung: Dass schwierige Situationen und Herausforderungen durch die eigene Handlungsfähigkeit erfolgreich gemeistert werden können. Das Gefühl, den Sinn und den Verlauf des eigenen Lebens selbstständig bestimmen zu können, ist demnach ein Grund für Zufriedenheit. […] Wie weit diese Selbstwirksamkeitsüberzeugungen wirken, hängt von der Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen ab, zu erkennen, wo legitime Subjektivität endet und die notwendige Intersubjektivität in der Interaktion mit dem “Rest der Welt” beginnt.

Wird diese Grenze nicht erkannt, wird der Rest der Welt (auch intersubjektive Fakten) als Hindernis wahrgenommen, das die individuelle Selbstwirksamkeit einschränkt. Dies kann eine Erklärung für die oft entschlossene und emotional besetzte Weigerung sein, wissenschaftliche Fakten anzuerkennen, wenn sie als Einschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit angesehen werden. […] Je stärker die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen ausgeprägt sind, desto größer ist die Tendenz, “individuelle” und “ganzheitliche” Mittel und Methoden gegenüber der etablierten Medizin zu bevorzugen und zu verteidigen. Kritik an der Pseudomedizin wird daher als Angriff auf die eigenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen wahrgenommen.”

(Übersetzung durch den Autor)


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Hightech-Medizin und homöopathische Sandkastenspiele (2)

Heute mal ein Video zum Thema

Es ist mal wieder an der Zeit, die Entfernungen zu dokumentieren, die die Homöopathie vom wissenschaftlichen Fortschritt in der Medizin trennen. Sonst glaubt hinterher tatsächlich noch einer, Verdunstungsrückstände von Wasser, in dem irgendwann mal Reste irgendeiner Ursubstanz enthalten waren, hätten eine medizinische Wirkung.

Wisst ihr, was das Problem der Proteinfaltung ist?

Proteine sind organische Makromoleküle, also winzige, aber als solche doch ziemlich große Dinger, die aus der Verkettung von Aminosäuren bestehen und von Peptiden (selbst so eine Art Mini-Proteine) zusammengehalten werden. Gibts überall in den organischen Lebewesen. Sie sind so eine Art Schweizer Messer der biologischen Funktionen. Zum Einstieg sei das heute anstelle eines Bildes oben verlinkte Kurzvideo sehr empfohlen.

Inzwischen ist das “Spike-Protein”, das die “Stacheln” des Corona-Virus bildet, ja in aller Munde. Bei der Impfstoffentwicklung des mRNA-Vakzins wird die “Beschreibung” des Spike-Proteins (der RNA-Abschnitt, der für den “Spike” zuständig ist) verwendet und dem Immunsystem als “Bauanleitung” für Antikörper (die selbst auch Proteine sind) präsentiert – mehr braucht es nicht. Den Rest macht das Immunsystem, auch ohne orthomolekulare Medizin oder schamanische Bemühungen. Nun ja, so einfach wie es sich anhört, war es sicher nicht. Man musste auch das Spike-Protein erstmal “entschlüsseln”, um überhaupt den richtigen RNA-Abschnitt zu finden.

Wie ein Protein “aussieht”, das kann man durch sehr aufwändige (und sehr teure) Verfahren feststellen, die Röntgenkristallographie oder die Kryo-Elektronen-Tomografie (mit deren Vorläufer schon Rosalind Franklin seinerzeit Watson und Crick bei der Entdeckung der DNA-Doppelhelixstruktur bekannt machte). Moment – war da nicht was mit Bauplan? Ja…. bloß enthält die RNA “nur” den Plan für die Aneinanderreihung der Aminosäuren. Die Proteine haben aber eine weitere entscheidende Eigenschaft, die Faltung. Und diese determiniert die Funktionalität von Proteinen, im Guten (als medizinische Option der Zukunft) wie im Schlechten (als Auslöser von Krankheiten). Die Faltung geschieht “einfach” bei der Aneinanderreihung – das genaue “Wie” ist letztlich ein gewaltiges Komplexitätsproblem. Nicht einfacher wird es dadurch, dass mehrere “Ebenen” der Faltung sich auch noch miteinander verschränken (siehe Video).

Wäre es nicht toll, könnte man ganz unmittelbar solche Proteine “designen” und therapeutisch verwenden, auch ohne die Tricks mit dem Immunsystem? Für die Alzheimer-Forschung beispielsweise verspricht man sich davon einiges – und nicht nur dort. Manche sprechen schon jetzt von einer bevorstehenden Revolution in der Biomedizin. Bloß gibts dabei eben ein Problem: die Proteinfaltung.

Jahrzehntelang wird dazu bereits geforscht. Nun scheint sich etwas anzubahnen: Es ist gelungen, mittels KI (künstlicher Intelligenz) mit einer enormen Trefferrate von rund 70 Prozent aus der Abfolge der Aminosäuren die Faltung der Proteine vorherzusagen. Ohne Zweifel ein Durchbruch, der über immer bessere werdende statistische Korrelationen (deep learning) den Schleier lüftet und irgendwann hoffentlich so etwas wie den “Generalschlüssel” für das Faltungsproblem liefert.

Bislang jedoch erreicht diese hohe Trefferrate nur ein Supercomputer: Deep Mind, seit langem bekannt für seine Fähigkeit, Großmeister in Schach und Go auf die Plätze zu verweisen. Auch nicht gerade billig, die Rechenzeit dort.

Ist das nicht geradezu überwältigend? Wie entfaltet (Achtung, Wortspiel!) sich hier der menschliche Geist, sein Hang zu beständiger Neugier, seine Kreativität, aber vor allem auch seine Kritikfähigkeit! Ohne die Methode des konstruktiven Zweifels wären all die wissenschaftlichen Details solcher Projekte nie zustande gekommen.


Und was machen die Homöopathen so derweil?

  • Man streitet sich innerhalb des Zentralvereins homöopathischer Ärzte darum, ob Hahnemanns Anweisungen zur Findung des “Genius epidemicus” noch gültig seien oder nicht. Ruft aber – nach anfänglicher Zurückhaltung in Sachen Corona – die große Fallsammlung zu homöopathischen Behandlungen in der Pandemie aus.
  • “Gesundheitsmagazine” veröffentlichen auf Hochglanzpapier “Fallberichte” über “Corona-Heilungen” per Homöopathie und über vorgebliche “Erfolge” der Homöopathie bei früheren Epidemien.
  • Öffentlich-rechtliche Fernsehsender verbreiten die Agenda der Homöopathie-Lobby nahezu eins zu eins und finden, das sei eine dem Programmauftrag entsprechende Information der Zuschauer.
  • Vorsitzende homöopathischer Vereinigungen, nicht unbekannte Homöopathen und gar ein Forscher, dessen wohl bekannteste Arbeit ich ernsthaft zu besprechen unternommen habe, reihen sich in die illustren Kreise der Vortragenden auf UnitedToHeal-“Kongressen” ein. Obwohl doch die Vermutung naheliegt, dass sie jedenfalls in der homöopathischen Sphäre auch weiterhin ernstgenommen werden wollen.
  • Besorgte Homöopathie-Fans fordern, Homöopathen in die Intensivstationen zu schicken und dort einen “Dialog” mit den Intensivmedizinern aufzunehmen.
  • … und so weiter. Ohne den Funken eines Beleges dafür, dass ihr Treiben etwas zum medizinischen Erkenntnisfortschritt, geschweige denn zu unseren akuten Problemen beitragen könnte. Einfach so. 224 Jahre business as usual statt per aspera ad astra.

Man sollte es nicht glauben wollen müssen. Doch all dies ist – Fakt.

Und die Politik- schaut derweil diesem fröhlichen Treiben weiterhin untätig zu. Ok, liebe Leute in Berlin, klar, ihr habt im Moment größere Sorgen als die medizinischen Süßwarenhändler. Aber verliert bitte nicht aus den Augen und aus dem Sinn, wie diese Truppe sich in der Corona-Krise aufführt und ob dies möglicherweise für eure eigenen Bemühungen kontraproduktiv sein könnte – und fragt euch zu gegebener Zeit, ob ihr ernsthaft diesem Paralleluniversum weiterhin seine gesetzlichen Privilegien erhalten wollt. Die wissenschaftsbasierte Homöopathiekritik wird euch sicher rechtzeitig erinnern.


Gedanken zu IGeL

Ich hasse Wortspiele …

Wer ist ihnen nicht schon einmal begegnet, den IGeL-Angeboten in der Arztpraxis, den „individuellen Gesundheitsleistungen“, deren augenfälligster Aspekt erst einmal ist, dass man sie aus eigener Tasche bezahlen darf?

Zu diesem Thema überraschte kürzlich der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) mit einer sehr deutlichen Pressemitteilung [1] zu seinem „IGeL-Report 2018“. Dort heißt es u.a.:

„Jeder Zweite bekommt beim Arztbesuch Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) angeboten, die privat zu bezahlen sind. Der IGeL-Monitor hat in einer repräsentativen Umfrage erstmals die Top 10 der meistverkauften IGeL ermittelt. Fazit: In den Praxen werden häufig Früherkennungsuntersuchungen wie Ultraschall, Augeninnendruckmessung und Ähnliches verkauft. Viele der Topseller widersprechen Empfehlungen medizinischer Fachverbände, weil ihr Schaden den Nutzen überwiegt.“

Harte Worte, die aber durch die Erhebungen des „IGeL“-Monitors [2] belegt werden, einer Einrichtung des MDS, der die in Arztpraxen angebotenen IGeL-Leistungen mit den Leitlinien der medizinischen Fachverbände abgleicht und die Maßstäbe der evidenzbasierten Medizin zugrunde legt. Das sind Fakten, die auch von den natürlich sofort erschallenden Gegenvorstellungen von Ärzteseite nicht ausgehebelt werden können.

Das Fazit des Geschäftsführers des MDS, Dr. Peter Pick, fällt demgemäß ebenso vernichtend wie deutlich aus:

„Unser Fazit ist: Die IGeL-Angebote orientieren sich nicht am nachgewiesenen medizinischen Nutzen, sondern an den Vorlieben einzelner Arztgruppen und an den Umsatzinteressen der Praxen. Zum Teil werden Patienten unter Druck gesetzt, damit sie solche Leistungen annehmen. Das ist nicht hinnehmbar.“

Der Projektleiter des IGeL-Monitors, Dr. Christian Weymayr, wird gar mit der Anmerkung zitiert, dass mehr als jeder dritte Patient angegeben habe, dass er sich bedrängt oder unter Druck gesetzt fühlte, was sich auch in den Zuschriften an den IGeL-Monitor bestätige.

Und schon sind wir mittendrin in einem Konglomerat von Interessen, von Evidenz und fehlender Evidenz, von Problemen im Leistungskatalog der Kassen und Problemen beim IGeL-Katalog der Ärzte.

Verwerfungen gibt es schließlich keineswegs nur auf einer Seite. Vielmehr zeigt die längerfristige Betrachtung, dass es durchaus “Positionswechsel” zwischen IGeL und erstattungsfähigen Leistungen gab; immer wieder wurden IGeL-Leistungen einmal zu Regelleistungen der Kassen nach Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses. Ob der IGeL-Monitor wirklich immer dem Anspruch gerecht wird, nach der aktuellen Evidenzbasierung und den Leitlinien der Ärztegesellschaften zu urteilen, sei auch dahingestellt. Wir sehen hier eine typische “Gemengelage”, die zudem in ständiger Bewegung begriffen ist.

Um aber auf das eigentliche Thema der IGeL-Leistungen zurückzukommen: Es geht mir hier nicht um die Lösung dieses gordischen Knotens, sondern um einen aus meiner Sicht bislang zu kurz gekommenen Gesichtspunkt: Nämlich, dass mit IGeL den Patienten auch suggeriert wird, die Versorgung durch die gesetzliche Krankenkasse sei lückenhaft, minderwertig, sei Arme-Leute-Medizin und man werde für seine hohen Beiträge mit Minimalversorgung abgespeist. Diese Haltung hört man ohnehin schon allzu oft. Natürlich ist es nicht die Intention von IGeL, aber diese Schlussfolgerung liegt nahe – und wird auch gezogen.

Man mag über das deutsche Gesundheitssystem nun denken was man will, aber Tatsache ist, dass es eines der weltbesten ist. Vor allem deshalb, weil es keinerlei Unterschiede beim Zugang zu den zugelassenen Behandlungen macht. Ob es ein Antibiotikum gegen eine akute Infektion ist oder die Behandlung eines chronischen Diabetes, ein Transplantationseingriff oder die kurative Behandlung einer Hepatitis C (das gibt es inzwischen) – jeder hat ungeachtet seiner persönlichen Verhältnisse gleichermaßen Zugang dazu. Wenn – aus teils nicht medizinisch begründbaren Aspekten heraus – Einschränkungen gemacht werden (müssen), dann betreffen sie eben auch gleichermaßen alle Versicherten und verwirklichen damit immerhin auch das Solidarprinzip. Dass dies durch Fehlanreize wie IGeL aus dem Blickfeld der Patienten rückt, ist allein schon ein Grund, um über die Zukunft dieses Systems ärztlicher Zusatzangebote nachzudenken. Das Vertrauen der Patienten und Versicherten nicht nur in die Ärzte, sondern auch in das Gesundheitswesen selbst ist von elementarer Wichtigkeit.

Die “Botschaft” an die Patienten, um die es mir hier geht, wird auch noch durch andere Gesichtspunkte verkompliziert. Leistungsausschlüsse der GKV, die allein wirtschaftlichen Überlegungen geschuldet sind – wie Nichterstattung von leitliniengerechten, jedoch nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten oder der Erstattung für Sehhilfen – haben eben nichts mit medizinfachlichen Gesichtspunkten zu tun und sind denn auch Gegenstand ständigen Ärgernisses bei den Versicherten. Es sind – Rationierungen in einem Mangelsystem, nichts anderes. Andererseits gibt es – Leser meines Blogs ahnen natürlich, was jetzt kommt – Erstattungen für Dinge wie Homöopathie und Anthroposophie, innerhalb der Satzungsleistungen auch für andere Dinge, die keinesfalls dort hingehören, da ihnen die Evidenz schlicht fehlt. Für Satzungsleistungen insgesamt wurden nach den letzten Zahlen von den Krankenkassen immerhin 1,5 Mrd. Euro (2016) aufgewendet [3]. Da wiederum trifft die vom Bundesversicherungsamt an den Kassen hierzu geübte Kritik eben auch völlig zu – und ist inhaltlich doch gar nicht groß etwas anderes als die Kritik des MDS an IGeL. Oder soll die Kritik der Kassen an IGeL womöglich von der Kritik des Bundesversicherungsamtes an ihren Satzungsleistungen ablenken?

Die Frage sei erlaubt, ob IGeL nicht Fehlanreize auf allen Seiten setzt bzw. Schlussfolgerungen impliziert, die vor allem auf Patientenseite nicht gewollt und nicht wünschenswert sind. Dass wirtschaftliche Gesichtspunkte einen niedergelassenen Arzt nicht dazu nötigen dürfen, einen derartigen Bauchladen anzubieten, sollte selbstverständlich sein. Die Gemengelage Kassenleistungen / IGeL-Zusatzangebote enthält – darauf möchte ich hier nur hinweisen – einiges an Sand im Getriebe. Eine Frontstellung deswegen zwischen den GKV-Kassen und den Ärzteverbänden ist das Letzte, was man sich wünschen würde. Die Gesundheitspolitik muss sich des Puzzles aber einmal annehmen – als Teil auf einem Weg zu einer besseren Medizin.


[1] https://www.mds-ev.de/presse/pressemitteilungen/neueste-pressemitteilungen/2018-05-03-pm-igel-report-2018.html

[2] https://www.igel-monitor.de/

[3] https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/krankenkassen/article/932760/satzungsleistungen-kassen-ausgaben-fast-verdoppelt.html


Bild von Víťa Válka auf Pixabay

Homöopathie – Wunderglaube?

Die Homöopathieanhänger finden nichts dabei, einer Methode das Wort zu reden, die sich in ihrem eigenen Alltag ständig selbst widerlegt. Eine erstaunliche Form von Glaubensfestigkeit.

Häufig weisen Kritiker darauf hin, dass Homöopathie als Methode vor allem deshalb schon a priori obsolet sei, weil ihre Grundlagen gegen naturgesetzliche Gegebenheiten, gegen wissenschaftlich erstklassig abgesicherte Erkenntnisse verstoßen, die sich täglich, stündlich, sekündlich in unser aller Alltag manifestieren – nur für die Homöopathie jedoch suspendiert sein sollen. Häufig kommt die Frage nach genauerer Erläuterung dieser Position. Wir wollen es im Folgenden versuchen.

Hat Tante Jutta mal wieder den Kaffee zu stark für Oma Hilde gekocht, holt man heißes Wasser und gibt es für die Oma zum Kaffee dazu. Oma ist gerettet!

Nimmt ein 90 kg-Mann eine Ibuprofen-Tablette mit 200 mg Wirkstoff, weil er unangenehme Kopfschmerzen hat, wird er keine Wirkung feststellen, weil die Wirkstoffmenge einfach nicht ausreicht. Also nimmt er sinnvollerweise noch eine.

Was sollen nun diese Trivia in unserem Zusammenhang, wird man fragen. Eben – Trivia! Offenbar sind einem solche Selbstverständlichkeiten gar nicht recht präsent, wenn man geneigt ist, den Lehren der Homöopathie ein offenes Ohr zu schenken. Denn: Nach der Lehre der Homöopathie entsteht beim Verdünnen und Verschütteln eines Ausgangsstoffes ein „Mehr“, das nicht exakt definiert ist, von Hahnemann als „geistige Arzneikraft“ benannt, von seinen heutigen Exegeten meist als „Energie“ oder „Information“, allerdings keineswegs in der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Begriffe (eine bekannte pseudomedizinische Spezialität, die Differenz zwischen Sagen und Meinen). Aber ein „Mehr“ soll entstehen – und an „Stärke“ sogar noch mit jedem Verdünnungs- und Verschüttelungsschritt zunehmen – siehe Omas Kaffee. Zugleich soll eine Niederpotenz, die noch „viel“ vom (angeblichen) Wirkstoff enthalten kann, „zu schwach“ sein. Siehe unseren 90 kg-Mann.


Dies führt dazu, dass der klassische Homöopath eine tiefe Ehrfurcht vor homöopathischen Hochpotenzen hat, denen nach der Lehre eine gewaltige Kraft innewohnen müsste, geeignet, Kranke nachhaltig zu kurieren, aber gleichzeitig Gesunde mit eben den Symptomen zu versehen, die beim Kranken geheilt werden sollen. Dies zu widerlegen, als blanken Unsinn zu entlarven, ist Sinn und Ziel der bekannten 10^23-Aktionen der Homöopathiekritiker (nach der Verdünnung in der 23. Zehnerpotenz fällt der Wahrscheinlichkeitswert für die Anwesenheit eines Moleküls der Ursubstanz statistisch unter Eins). Homöopathen bezeichnen diese „Selbstversuche“ als blanken Unsinn, begründet mit unterschiedlichen homöopathischen Spitzfindigkeiten, es bleibt jedoch der Umstand, dass diese Mittel erhebliche Wirkungen auf die Probanden haben müssten.

Aber zurück zu den Grundlagen.

Weniger wird zu irgendeinem „Mehr“ – dieses faktisch Wenige soll wiederum „stärker“ beim Kranken wirken als um etliche Zehner- oder gar Hunderterpotenzen geringer verdünnte Vorstufen des Mittels? Offensichtlich unvereinbar mit dem Fall unseres Kopfschmerzpatienten und dem von Oma Hildes Kaffeetasse. Fragen wir doch mal ganz naiv nach bei den Homöopathen, was sie dazu zu sagen haben.

Nun, dann wird – wenn überhaupt – in aller Regel damit geantwortet, dass all dies ja „nur für die Homöopathie“ gelte. Nun möge man einmal erklären, bitte, wieso ausgerechnet für die Homöopathie andere Naturgesetze gelten sollen als am Kaffeetisch, in der Spülmaschine, in industriell-chemischen Prozessen, bei der Einnahme von pharmazeutischen Arzneimitteln oder gar Toxinen? Das ist gelebte Irrationalität, das partielle Außerkraftsetzen der naturgesetzlichen Grundlagen unzähliger Alltagsvorgänge durch höhere Mächte. Gesetzlich geschützt und beglaubigt durch Paragraf 38 des deutschen Arzneimittelgesetzes, der den Wunderglauben in der Tat als solchen bekräftigt, indem er Homöopathika von wissenschaftlichen Beweisführungen zu ihrer Wirksamkeit suspendiert und sie gleichwohl als Arzneimittel in den Markt gelangen lässt.


Und im Detail weitergeführt: Jedes Lösungsmittel zur Herstellung homöopathischer Mittel (Laborwasser, Reinzucker zum Verreiben, Laboralkohol) enthält Verunreinigungen mit allen möglichen Stoffen, die homöopathischen Potenzierungen zwischen D4 und D8 entsprechen. Nach dem amtlichen „Homöopathischen Arzneibuch“ darf der Verdunstungsrückstand an Feststoffen bei Laborwasser 1 mg auf 100 ml betragen, was D5 entspricht. Schlichtes Leitungswasser entspricht z.B. vom Gehalt an Arsen ziemlich exakt dem homöopathischen Mittel Arsenicum album in der Potenz D8, ohne dass dies physiologische Wirkungen auslöst – auch dauerhaft nicht.

Woher „weiß“ denn nun das Mittel, das der Homöopath als Ausgangsstoff ausersehen hat, dass es, und NUR es, sich in den Verdünnungsschritten „weiterpotenzieren“, „stärker“ werden soll? Und das soll nun auch noch gegenüber den Stoffen gelten wie dem genannten Arsen, die sich in gewisser Menge bereits im Lösungsmittel befanden? Diese Anteile sollen nun, obwohl chemisch identisch mit den vom Homöopathen „eingebrachten“ Molekülen, nicht an der wundersamen Metamorphose des Arsens zu einer starken „geistigen Arzneikraft“ teilhaben? Wobei beim Alkohol als Lösungsmittel noch eine Rolle spielen müsste, ob er seine Herstellung der Destillation aus Kartoffeln, Rüben, Trauben, Mais oder Zuckerrohr verdankt, was jeweils andere Reststoffe hinterlässt? Beim Laboralkohol beträgt der zulässige Verdampfungsrückstand 2,5 mg auf 100 ml, dazu kommen noch die flüchtigen Fremdstoffe – das zusammen entspricht einer homöopathischen Potenz von noch unter D4, also einer ausgesprochenen homöopathischen Niederpotenz. Und damit will man abermillionenfach größere Verdünnungen herstellen? Ab D8 bringt man ersichtlich – immer wieder nur mit dem Lösungsmittel auf Wasserbasis neue D8-Dilutionen ein und verdünnt nicht einmal mehr … .

Dies ist – unmöglich. Spätestens hier zerschellt der ständige Einwand der Homöopathen, „die Wissenschaft“ sei „noch nicht so weit“, Homöopathie zu verstehen. O nein! Die Wissenschaft weiß sehr gut und mit hinreichender Gewissheit, dass die Homöopathie nicht bewiesen werden wird. Denn entweder wäre sie im buchstäblichen Sinne ein Wunder, eine selektive Außerkraftsetzung naturgesetzlicher Gegebenheiten (ist sie nicht, weil sie schon an allen Beweisversuchen für eine Wirksamkeit gescheitert ist, es gibt also gar kein zu erklärendes Phänomen) oder unser biologisches, physikalisches, chemisches Wissen wäre in vielfacher Hinsicht krass falsch oder mindestens massiv unvollständig.


Letzteres würde dann aber nicht nur einfach eine Integration der Homöopathie in den Wissenschaftskanon bedeuten, so einfach ist das nicht. Es würde gleichzeitig erfordern, alle die Bereiche, die bislang als widersprüchlich ausgemacht wurden, in Biologie, Physik, Chemie durch andere, ebenso logisch konsistente neue Erklärungsmodelle zu ersetzen, die mit der Homöopathie und mit unseren Alltagserfahrungen gleichzeitig vereinbar wären. Ich erlaube mir an dieser Stelle nochmals das Statement, auch und gerade aus der Sicht von jemandem, der im Popperschen Sinne die Begrenzheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit in der Empirie (wegen des unlösbaren Induktionsproblems) anerkennt. Dies IST unmöglich (es ist ja kein emprischer Befund, sondern ein logisch aus Axiomen abgeleiteter). Hinweis am Rande: Es ist auch in der Empirie nicht eigentlich „unmöglich“, die „Wahrheit“ (besser: die ganze Realität) aufzuspüren. Nur können wir nicht wirklich wissen, ob und wann dies der Fall ist.


Von der Wissenschaftslogik noch einmal zu einigen Details der konkreten Unvereinbarkeit homöopathischer Grundannahmen mit naturgesetzlichen Axiomen.

Die Homöopathen können nicht erklären, WAS denn nun dasjenige sein soll, was als „verstärktes“ Agens am Ende bei der homöopathischen Potenzierung (aka Verdünnung) herauskommen soll. Hahnemann bezeichnete dies als „geistige Arzneikraft“ und wollte dies durchaus immateriell verstanden wissen. Übrigens glaubte er den ultimativen Beweis für die Immaterialität seiner Arzneikraft gefunden zu haben, als er auch noch dem „Magnetstab“ homöopathische Heilkraft zusprach. Er war sehr beeindruckt von Franz Anton Mesmer, dem Suggestivheiler par excellence, dem die Psychosomatik-Forschung noch heute einiges verdankt. Hahnemann nun dachte den “Magnetismus” Mesmers (der natürlich auch bei diesem keine Rolle bei seinen Heilerfolgen spielte) in seine homöopathischen Kategorien um und glaubte damit, gegen die schon damals zahlreich gegen ihn auftretenden „Atomisten“ (im heutigen Duktus der Verteidiger der Homöopathie sind das die „reduktionistischen Materialisten“) triumphieren zu können:

Atomist! dich für weise in deiner Beschränktheit dünkender Atomist! sage an, welcher wägbare Magnettheil drang da in den Körper, um jene, oft ungeheuern Veränderungen in seinem Befinden zu veranstalten? Ist ein Centilliontel eines Grans (ein Gran-Bruch, welcher 600 Ziffern zum Nenner hat) nicht noch unendlich zu schwer für den ganz unwägbaren Theil, für die Art Geist, der aus dem Magnetstabe in diesen lebenden Körper einfloss? … (Hahnemann, Reine Arzneimittellehre, 2. Auflage, II. Teil, S. 212).

Dies nur zur Illustration der damaligen Gedankengänge, die durch unser heute weit differenzierteres Wissen obsolet geworden sind. Homöopathen ist Hahnemanns Gleichsetzung des „Geistes aus dem Magnetstabe“ mit der arzneilichen Wirkung konkreter Stoffe allerdings recht peinlich – man hört so gut wie nie davon in ihren Kreisen und in ihren Fortbildungen, es ist ja in der Tat ein Punkt, der Zweifel an der Arzneimittellehre Homöopathie wecken könnte. Steht ja auch weit hinten in Hahnemanns „Organon der Heilkunst“, so weit liest ja eh keiner, ganz zu schweigen von der „Reinen Arzneimittellehre“ … außer den Kritikern. Obwohl – es gibt ja heute auch Mittel auf der Grundlage von Mondschein, Erdstrahlung etc. pp. …


Wir erwähnten eben schon die berühmte 23. Zehnerpotenz als Grenze für einen letzten Gehalt an Wirkstoffmolekülen. Dieser Wert bestimmt sich nach der Avogadro-Konstante, die die Teilchenzahl in einem Mol einer Substanz angibt (welche Masse ein Mol bei gleich definierter Teilchenzahl hat, bestimmt sich nach dem Atomgewicht der jeweiligen Substanz). Das ist eine Konstante von n = 6,022 x 10 hoch 23. Bei homöopathischer „Potenzierung“ in Zehnerschritten (D-Potenzen) fällt nach der 23. Verdünnungsstufe von einem Mol der Ausgangssubstanz die Wahrscheinlichkeit der Anwesenheit eines Ursubstanz-Moleküls in der erreichten Lösung unter einen Wert von 1 (Avogadro-Grenze) und weiter asymptotisch gegen null. Dies sind statistisch zu verstehende Werte, eine faktische Freiheit von Restmolekülen der Ursubstanz kann in der Praxis aufgrund verschiedener Umstände bereits viel eher gegeben sein. Welcher Verdünnungsschritt genau bei welchem Stoff nun die Avogadrogrenze „erreicht“, ist abhängig von der Teilchenzahl der Ursubstanz/Urtinktur und der molaren Masse des verwendeten Stoffs, aber die sich vom Idealfall von genau einem Mol Ursubstanz zu Beginn der Potenzierung ergebenden Abweichungen sind nicht gravierend und stellen das Prinzip nicht in Frage, wie die Homöopedia erklärt.

Es sei hier schon angemerkt, dass dies nicht mit der Grenze einer denkbaren pharmakologischen Wirksamkeit einer homöopathischen Potenz identisch ist; diese wird weit früher erreicht (wir kommen unten darauf zurück). Was die Homöopathen denn nun genau im Potenzierungsvorgang sehen, bleibt stets schwammig. Mal ist es doch etwas Materielles, mal Energie, mal Information, mal soll der Träger ein (vielfach widerlegtes) „Wassergedächtnis“ sein, mal müssen die „Erkenntnisse der Quantenphysik“ herhalten. Definiert oder gar nachvollziehbar erklärt wird – nichts.

Jedenfalls erwarten die Homöopathen ein Spezifikum aus ihrer Verdünnung und Verschüttelung, das eine Wirkung auf die Physis des Patienten hat.

Jedoch: Wo nichts ist, da kann nichts wirken. Und in Verdünnungen ab C12 / D24 ist nichts. Wer das bestreitet, schlägt sich auf die Seite des Wunderglaubens. Gerade die von der Homöopathie immer wieder bemühte Quantenphysik beweist, dass in der uns umgebenden Realität ohne energetische, das heißt materielle und somit prinzipiell messbare „Vermittlung“ keine Interaktion möglich ist. Ob Teilchen oder Welle, ob Verschränkung oder Superposition – ohne reale, mithin direkt oder indirekt messbare Vorgänge „läuft nichts“. Diese quantenphysikalischen Effekte sind völlig real, beobachtbar bzw. darstellbar, und sei es über ihre Auswirkungen. Wie sollten wir sonst etwas erfahren haben über die Phänomene der Quantenmechanik, ganz zu schweigen von ihren nicht mehr wegzudenkenden Nutzanwendungen? Für die behaupteten homöopathischen „Effekte“ gilt dies nicht. Irgendein Zusammenhang mit einem „noch nicht entdeckten homöopathischen Wirkprinzip“ sind Fantastereien und werden von Quantenphysikern „vom Fach“ klar zurückgewiesen.


Ein „Herausreiben“ oder „Herausschütteln“ von „Energie“, auch noch einer anderen „Qualität“ und/oder „Stärke“, durch den bei der Homöopathie praktizierten „Potenzierungsprozess“ widerspricht den Gesetzen der Thermodynamik. Die wenige kinetische Energie, die der Lösung durch Verschüttelung zugeführt und in Wärme (Zunahme der Molekularbewegung) umgewandelt wird, reicht niemals aus, den energetischen Gesamtzustand der Lösung dauerhaft zu verändern. Die Lösung geht in kürzester Zeit wieder in einen energetischen Gleichgewichtszustand mit ihrer Umgebung über. Die Durchmischung mag den Entropiezustand der Lösung verändern, allerdings in Richtung höherer Entropie – und damit weniger und nicht mehr „Information“. Zur Verdeutlichung: Solange der Zucker am Tassenboden liegt, befindet sich das Gesamtsystem „Tee“ in einem Zustand hoher Ordnung („Information“) und niedriger Entropie, denn der Zucker ist in Ort, Menge und Verteilung gut lokalisierbar. Rühre ich um und bringe damit den Zucker in Lösung, ist die Information über Ort, Menge und Verteilung um Zehner-, wenn nicht Hunderterpotenzen uneindeutiger; damit wird ein Zustand hoher Entropie und niedriger Ordnung (geringerem Informationsgehalt) erreicht.

Wir konstatieren an dieser Stelle: Die Annahme der Homöopathie, es werde so ein mehr an „Information“ oder „Energie“ bei immer mehr Verdünnungsstufen – mittels schlichter Verschüttelung – erreicht, postuliert das genaue Gegenteil dieser naturwissenschaftlich bestens belegten Fakten und verstößt damit gegen Naturgesetze. Also bleibt die Frage unbeantwortet, was in aller Welt mit dem Prozess von Verschütteln und Verrühren immer geringer konzentriert werdender Lösungen erreicht werden soll? Im Grunde wird in der Homöopathie erwartet, dass die uns aus dem Alltag geläufigen Verdünnungsprozesse irgendwie physikalisch „andersrum“ ablaufen sollen – auch die Unmöglichkeit dessen folgt aus den thermodynamischen Gesetzen. Entropie nimmt immer nur zu, nicht ab.

Als Fazit können wir festhalten: Hochpotenzen werden nicht „hergestellt“, indem durch ein Verdünnungs- und Verschüttelungsritual eine „Energie“, „Information“ oder meinetwegen eine „geistige Arzneikraft“ in das Lösungsmittel hineinpraktiziert wird. Sie werden „hergestellt“, indem in einem zeitaufwendigen Prozess in kleinsten Schritten die Ursubstanz in den Ausguss geschüttet wird. Gut – ab der 24. Zehnerpotenz schließt sich für jeden nächsten Schritt noch die „Verdünnung“ von reinem Lösungsmittel mit reinem Lösungsmittel an.


Betrachten wir zum Schluss noch die Niederpotenzen, die noch Reste der Ursubstanz beinhalten. Dass die Eignung durch Ähnlichkeitsprinzip und Arzneimittelprüfung „gefundener“ homöopathischer Mittel als Arzneimittel ohnehin in Frage steht, wollen wir dabei außer Acht lassen. Interessieren soll an dieser Stelle nur die Frage der Interaktion homöopathischer Mittel mit der menschlichen Physis (vor kurzem las ich gar, dass unterschiedliche Wirkungen von Tief-, Hoch- und Höchstpotenzen mit der „unterschiedlichen Metabolisierung“, also Verstoffwechselung, im Körper zusammenhängen sollen).

Die Wirkungsschwellen von Mitteln im menschlichen Körper sind ein komplexes Thema der pharmazeutischen Wissenschaft. Als belegt gilt der Satz des Paracelsus, wonach die Dosis das Gift macht. Das heißt aber auch, dass die Wirkung zugeführter Substanzen einer elementaren Dosis-Wirkungs-Beziehung unterliegt, die – auch durch ihre Rückführung auf das Massenwirkungsgesetz – axiomatische Gültigkeit im naturwissenschaftlichen Sinne beanspruchen kann. Das Potenzierungsprinzip spricht dem Hohn.

Was die quantitative Grenze der direkten Wirksamkeit von Stoffen angeht, so legt die Pharmazie in grober Näherung eine Menge von 1.000 Atomen bzw. Molekülen Wirkstoff je Körperzelle (!) fest. Man muss sich klar machen, dass das komplexe System “Mensch” in seiner Homöostase, den in einem Regelkreis von relativ engen Grenzwerten ablaufenden Lebensfunktionen in einem energetischen Gesamtzustand, eines ziemlich großen energetischen “Anstoßes” bedarf, damit zelluläre Vorgänge mit globaler Auswirkung angestoßen und in Gang kommen können. 1.000 Atome / Moleküle pro Körperzelle, in grober Näherung, abhängig vom Stoff, davon, ob Rezeptoren (Auslösen einer Wirkungskaskade) oder Acceptoren (Blockade von zellulären Funktionen) angesprochen werden oder ob eine unspezifische Wirkung angestrebt wird (z.B. Lähmung aller Umgebungsnervenenden bei lokaler Anästhesie).

Homöopathie kann uns nicht sagen, welche Art von Aufnahme im Körper sie überhaupt annimmt, weil sie sich mit der pharmazeutischen Physiologie schlicht nicht beschäftigt. (Homöopathen berufen sich manchmal auch auf andere Randphänomene wie z.B. die Wirkungsbereiche von Hormonen – die aber nur Botenstoffe, nicht selbst Wirkstoffe sind – oder die Geruchsempfindlichkeit für extreme Stoffverdünnungen, was aber von hochspezialisierten lokalen Rezeptoren erledigt wird und nicht den Zellstoffwechsel des Körpers verändert, gelegentlich auch die sogenannte Hormesis, die Arndt-Schulzsche Regel, mehr dazu hier.)

Da der menschliche Körper aus etwa 10^14 Zellen besteht, ergibt sich spätestens (!) ab einer Potenz von D8 bis – je nach Substanz – D10 die physikalisch-chemische Unmöglichkeit einer Wirkung. Tatsächlich muss man den Potenzgrad sogar noch niedriger ansetzen, in der Praxis wohl um D4 herum, aus zwei Gründen. Zum einen muss der Verlust durch die Aufnahme über den Verdauungstrakt und das metabolische System berücksichtigt werden, ein Faktor, der auch bei normalen pharmazeutischen Mitteln schon zu beachten ist. Zum anderen ergibt sich durch das Aufsprühen und Verdunsten der endgültigen Lösung in der gewünschten Potenz auf Zuckerkugeln (Globuli) bzw. das Einbringen in die für den Vertrieb bestimmte Lösung noch einmal eine Verringerung der Konzentration von etwa 1 : 100.

Es ist also eine schwere Irreführung, wenn die Homöopathen sagen, wir wüssten leider, leider nur „noch“ nicht, „wie“ Homöopathie wirkt. Wir wissen recht gut, warum sie nicht wirken kann. Ganz abgesehen davon, dass bislang niemand belastbar (evident) belegt hat, dass sie überhaupt wirkt.

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Bildnachweis: Phe Schlay auf Pixabay

Paradigmenwechsel – so, so.

Heute mache ich es mal kurz.

Auf dem Holzweg

Verehrte Kontrahenten von der homöopathischen Fraktion und Befürworter wissenschaftlicher Revolutionen. Euch scheint bei der Forderung nach einem “Paradigmenwechsel” in der Medizin (natürlich in Richtung einer Öffnung für Beliebigkeit), gar einer wissenschaftlichen Revolution in eurem Sinne, etwas entgangen zu sein.

Es wäre hilfreich, die Realität wahrzunehmen. Wir erleben doch einen großen Paradigmenwechsel in der Medizin, einen grundlegenden, der seit längerem anhält und noch nicht abgeschlossen ist und der durchaus als Revolution im Sinne Thomas S. Kuhns angesehen werden kann:

Nämlich den Paradigmenwechsel von der Medizin als überwiegende Erfahrungswissenschaft hin zu einer kritisch-rationalen Prüfungen standhaltenden (falsifizierbaren) Grundmethodik und deren Integration in ein neues Medizinkonzept. Das realisiert sich in der Evidenzbasierten Medizin, die die Synthese zwischen einem richtig verstandenen Primat wissenschaftlicher Fundierung, ärztlicher Kunst und den Belangen und Vorstellungen des Patienten im konkreten Behandlungsfall anstrebt – ganzheitlich im besten Sinne.

1978 bereits markierte der Gesetzgeber im Arzneimittelrecht diesen Paradigmenwechsel und unterstellte Zulassung und Marktzugang von Pharmazeutika dem Wirksamkeits- und Unschädlichkeitsnachweis nach strengen wissenschaftlichen Kriterien. Nur aufgrund massiver Lobbyarbeit blieb damals – unsinnigerweise – Homöopathie davon ausgenommen. Das war schon seinerzeit angesichts der Intention der Neuordnung des Arzneimittelrechts ein absurder Systembruch, geschuldet den damals offenbar noch vermittelbaren (gleichwohl überholten) “idealistischen” Wissenschaftskonzepten.

Heute nun wieder auf den Zustand vor diesem Zeitpunkt zu rekurrieren und dies als Forderung nach einem allfälligen “Paradigmenwechsel” ausgeben zu wollen, ist nachgerade grotesk. Das wäre nämlich kein Paradigmenwechsel, keine “Revolution”, sondern nur eine “Restauration” im schlechtesten Sinne, vergleichbar mit der Restauration gesellschaftlich-politischer Verhältnisse, die in der Folge des Wiener Kongresses Anfang des 19. Jahrhunderts Jahrzehnte der Erstarrung einleitete.

Die Zeit – in unserem Universum jedenfalls – läuft vorwärts. Und das ist ersichtlich gut so.


Bild von Ulrich Dregler auf Pixabay

Gibt es “mehrere Medizinen”? Alternativ, komplementär, integrativ…

Was soll das ganze Gerede von alternativer, komplementärer und auch integrativer Medizin eigentlich? Gibt es mehrere Medizinen? Oder soll hier verschleiert, verunklart, sollen Begriffe in- und übereinandergeschoben werden, um Grenzziehungen zu verwischen? Grenzziehungen zwischen Medizin und Nicht-Medizin?

Setzen wir die Definiton von “Medizin” im heutigen Sinne vornean: Medizin ist das, was nachweislich (belegbar) spezifisch wirkt und was wegen der Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit und des Auftretens von unerwünschten Wirkungen zuverlässig abschätzen zu können, auch verantwortlich beim individuellen Patienten zur Behandlung eingesetzt werden kann. Was ziemlich genau den Kerngedanken der Evidenzbasierten Medizin entspricht.

Und das Wort “Alternativmedizin”?  Was soll denn zu der gegebenen Definition von “Medizin” eigentlich “alternativ” sein? Gibt es eine “Alternative” zu Mitteln und Methoden, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ein positives Verhältnis zwischen spezifischem Nutzen und Risiken aufweisen und hinreichend wahrscheinlich vorhersehbare Wirkungen erzielt werden können? Ersichtlich doch nicht! Bleibt nur die Deutung, dass “Alternative Medizin” der Gegenpol zum Medizinbegriff sein soll, also etwas, das eben nicht nachweislich wirkt? Das doch wohl auch nicht. Damit ist der Begriff der Alternativmedizin schon als sinnloser Leerbegriff, als manipulatives Wortgeklingel entlarvt. (Prof. Edzard Ernst hat folgerichtig eines seiner Bücher mit “SCAM – So called Alternative Medicine” betitelt.

Nehmen wir die “komplementäre Medizin”. Hier kommt es auf einen anderen Punkt an. Niemand wird bestreiten, dass es viele evidenzbasierte Begleitbehandlungen gibt, die nicht der primären Therapie dienen, sondern etwa der Linderung von Therapiebeschwerden, der Schmerzbekämpfung, der Wundheilung und was es an sekundären, den Patienten quälenden Begleiterscheinungen von Krankheit und Behandlung sonst noch so gibt. Dafür wäre aber eher der Terminus “komplementäre Behandlung” sinnvoll. Es geht auch bei den evidenzbasierten komplementären Behandlungen um den oben ausgeführten Kernbegriff der “Medizin”. Diesen Rahmen hat Prof. Edzard Ernst in seinem Buch “Praxis Naturheilverfahren: Evidenzbasierte Komplementärmedizin” abgesteckt.

Leider zeigt die Erfahrung aber, dass der Begriff der “komplementären Medizin” in aller Regel vielmehr dazu dient, eben nicht evidenzbasierte Dinge in den Kontext der evidenzbasierten Medizin einzuschmuggeln – nach dem Motto, kann ja nicht schaden und wenn es dem Patienten nachher besser geht, machen wir eine “Versorgungs- oder Beobachtungsstudie” und schreiben uns die Besserung auf unsere Fahnen. Wobei häufig durchaus nicht stört, dass ohne Vergleichsgruppe niemand auf der Welt sagen kann, ob die Mittelchen der alternativen Fraktion auch nur ein Jota zu Besserung beigetragen haben, wenn sie “komplementär” zur wissenschaftsbasierten Standardbehandlung verabreicht wurden. Wobei das auch mit der Vergleichsgruppe in Beobachtungsstudien immer so eine Sache ist, bei unvergleichbaren Gruppen, aufgrund rein subjektiver Befindenseinschätzung und was dergleichen mehr Faktoren sind, Beispiel siehe hier. Beobachtungs- bzw. Verlaufsstudien sind eben keine Wirksamkeitsstudien, per definitionem nicht. Wieder nur ein Mäntelchen aus Begriffen und Worten, in diesem Falle auch noch mit dem Ziel, von Trittbrettfahrerei zu profitieren? In hohem Maße: Ja. Wenn eine Methode nicht außerhalb ihrer “komplementären” Anwendung ihre wissenschaftliche Validität belegt hat, steht sie stark im Verdacht, per Trittbrettfahrerei profitieren zu wollen.

Und “integrative Medizin”? Offenbar, obwohl schon immer gängig, das neue Mode-Buzzword der pseudomedizinischen Fraktion. Ganz offensichtlich aber ein Leerbegriff, der das Problem sogar noch weiter steigert. Die “alternativ-komplementäre” Szene hat realisiert, dass sowohl “alternativ” als auch “komplementär” irgendwie inzwischen als Begriffe “verbrannt” sind, zudem das Odium in sich tragen, keine “wirkliche” Medizin zu sein. Das eine ist “anders”, das andere “nur zusätzlich”. Damit will man sich nicht zufriedengeben. Und so wärmt man mit dem so freundlich-entgegenkommend klingenden Begriff des “Integrativen” wieder die überholte These vom “Besten aus beiden Welten” auf, das von der Evidenzbasierten Medizin in den Bereich des pseudo-epistemologischen Wortgeklingels verwiesen worden ist. Solche Umbenennungsstrategien der Szene gibt es seit jeher.

Jedoch: Medizin ist Medizin, sie ist pragmatisch und “integriert” alles, was nach strenger Prüfung der Behandlung von kranken Menschen dient, in ihren Kanon. Es ist ihr dabei völlig gleichgültig, woher oder von wem das Mittel oder die Methode stammt. Sicher die Hälfte der heutigen Pharmazeutika hat ihren Ursprung in Natur- und Pflanzenheilkunde. Manche Methoden der Medizin sind aus früherer Zeit überkommen, wurden aber geprüft, für geeignet befunden und weiter verbessert. (Ein Beispiel: William Withering, 1741 – 1799, sah die Anwendung von Digitalis als herzentlastendes Mittel tatsächlich bei einer “kräuterkundigen” alten Frau. Er beobachtete und forschte dazu ganze zwanzig Jahre lang, bevor er sich sicher genug fühlte, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Auf dieser Entdeckung beruhen heute noch Grundtherapien in der Kardiologie – nachdem sich die Richtigkeit von Witherings Thesen bestätigt hatte, wurden sie in den Kanon der Medizin “integriert”.)  Andere Mittel und Methoden wurden geprüft und als ungeeignet verworfen. Die Medizin “integriert” ständig, das ist der Kern medizinischen Fortschritts und jeder Wissenschaft, die diesen Namen verdient. Welchen Inhalt soll angesichts dessen ein besonderer Begriff “integrative Medizin” haben? Offen sein für Beliebigkeit und Try-and-Error-Medizin? Zudem am Rockzipfel der wissenschaftlichen Medizin?

Sicherlich könnte man diese drei Begriffe durchaus sinnvoll definieren, voneinander abgrenzen und in sinnvoller Bedeutung nutzen. Allein, das geschieht ja nicht – und das geht wohl auch nicht mehr. Längst haben sie ihre bewusst verunklarende Bedeutungszuschreibung. All diese viel gebrauchten Begriffe sind vielfach nur gefälschte Eintrittskarten für das Gebiet der anerkannt wissenschaftsbasierten Medizin. Sie dienen der unklaren Grenzziehung zwischen Medizin und Nicht-Medizin, letztlich zwischen Wissenschaft und Nicht- oder Pseudowissenschaft. Sie sind leere Worthülsen, die gleichwohl ihren Dienst im täglichen Sprachgebrauch tun. Man sollte sich nicht täuschen lassen und für eine klare Grenzziehung eintreten.


Ein Musterbeispiel dafür, wie mit dem Etikett der “integrativen Medizin” Schindluder getrieben wird, ist auf dem Blog von Prof. Edzard Ernst zu finden. Die Originalstudie findet sich hier.  Bezeichnend, dass gleich die Studie selbst im Titel mit “complementary and integrative” protzt, ohne im Verlaufe der Arbeit irgendwie deutlich zu machen, wo man die Grenzziehung sieht oder ob nun doch eigentlich das Gleiche (was?) gemeint ist.

Zudem bringt mich der Beschluss der Landesregierung Baden-Württemberg, an der medizinischen Fakultät in Tübingen einen “Lehrstuhl für Naturheilkunde und integrative Medizin” einzurichten, zusätzlich ins Grübeln. Die Stimmen der üblichen Verdächtigen aus der alternativkomplementärintegrativen Szene jedenfalls haben sich natürlich sofort wieder einigermaßen lautstark bemerkbar gemacht und reklamieren ihr Interesse… und nutzen die fehlende Grenzziehung zwischen den Begriffen.


Nachtrag, 31.10.2020:

Nach anfänglichem Trubel um den Tübinger Lehrstuhl hört man – fast zwei Jahre später – praktisch nichts mehr davon.

Auch Bayern ist längst auf den “integrativen” Zug aufgesprungen, eigentlich schon 2018, als der Landtag einen Grundsatzbeschluss zur Verankerung von “Naturheilkunde” in der Hochschullandschaft gefasst hatte. Zufällig kurz nach dem Beschluss der Landesregierung BW. Dass es nicht lange dauern würde, bis dieser stets falsch gebrauchte Begriff der Naturheilkunde mit “integrativ” und “komplementär” konnotiert wurde, war völlig klar. Und so wird – in gewisser Weise folgerichtig – derzeit im bayerischen Gesundheitsministerium an der Einrichtung einer Abteilung für „Gesundheitsnetzwerke, medizinische Rehabilitation, Kur- und Heilbäder und Integrative Medizin“ gewerkelt. Dass in diesem Zusammenhang auch die Homöopathie wieder auftaucht, wird nur denjenigen wundern, der sich mit dem Konglomerat von Lobbyismus, politischer Naivität und Geschäftsinteressen auf dem Gebiet dessen, was gern mit “integrativer Medizin” so wohltönend umschrieben wird, nicht auskennt.


Nachtrag, Februar 2021:

Die neue Fachabteilung im Bayerischen Gesundheitsministerium ist natürlich inzwischen installiert. Natürlich. Außerdem auch gleich ein neuer Gesundheitsminister. Herr Holetschek ist nicht gerade als Feind der Homöopathie bekannt, schon aber als jemand, dem der Unterschied zwischen Naturheilkunde und Homöopathie nicht klar zu sein scheint.


Zum Weiterlesen:

David Gorski schreibt bei Sciencebasedmedicine ausführlich zum Thema.

Ein ausgezeichneter, ganz aktueller Beitrag (Oktober 2020) findet sich auf der Webseite “Office for Science and Society” der kanadischen McGill-University: “Beware the Trojan Horse of Integrative Medicine“.

Zum Thema auch auf diesem Blog: Dissonanzen


Bild von Igor Drondin auf Pixabay

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