Wie die Osteopathie-Lobby den Koalitionsvertrag kaperte – und was das über unsere Gesundheitspolitik verrät

Es gibt Momente, in denen man sich fragt, ob man die letzten zehn Jahre evidenzbasierter Aufklärung komplett umsonst betrieben hat. Einer dieser Momente liegt erst kurz zurück.
Im neuen Koalitionsvertrag der Bundesregierung findet sich eine Passage, die den erfahrenen Pseudomedizinkritiker aufschreckt. Die Osteopathie soll berufsgesetzlich geregelt, die sogenannte „Integrative Medizin“ gestärkt werden – als gesundheitspolitische Zielsetzung. Wer den Text unbedarft liest, könnte meinen, hier ginge es um einen sachlich begründeten Ausbau bewährter Therapiestrukturen. Wer sich jedoch mit der Evidenzlage auskennt, erkennt etwas anderes: eine glatte politische Kapitulation vor Lobbyinteressen.
Von Studienlage keine Spur – aber die Verbände waren fleißig
Der IGeL-Monitor urteilt seit Jahren vernichtend über die Osteopathie. Systematische Reviews zeigen bestenfalls Placebo-Effekte. Aus der Studienlage ist keine belastbare Gesamtevidenz ableitbar, vor allem, weil sowohl die Indikationen als auch die Interventionen keinem einigermaßen verbindlichen Kanon folgen, sondern weitgehend heterogen sind. Was die Frage aufwirft: Handelt es sich überhaupt um eine „Methode“, also etwas irgendwie Geschlossenes, oder nur um Epigonentum in der Nachfolge A.T. Stills, angepasst an heutige Gegebenheiten? Und dennoch: Die Koalitionäre übernahmen ihre Formulierungen offenbar direkt aus den Stellungnahmen osteopathischer Berufsverbände. Und dass sich der Deutsche Ärztetag 2024 klar gegen die Homöopathie – und damit implizit gegen die pseudomedizinische Aufweichung ärztlicher Versorgung – positioniert hat, stört offenbar nicht weiter.
Diese Verbände, eng vernetzt mit der Hochschule Fresenius, fordern seit Jahren lautstark die gesetzliche Anerkennung ihrer Angebote und vor allem den direkten Patientenzugang durch eine berufsgesetzliche Regelung – nicht etwa, weil sie evidenzbasiert wären, sondern weil es wirtschaftlich und strategisch attraktiv ist. Ein Berufsrecht verleiht Legitimität. Und Legitimität verkauft sich.
Die Politik? Offenbar komplett ahnungslos
Dass genau dieser Wunsch es nun in den Koalitionsvertrag geschafft hat, spricht für sich. Es spricht für den Erfolg jahrelanger Wühlarbeit – und für das Versagen einer Politik, die offenbar nicht einmal mehr erkennt, dass sie instrumentalisiert wird.
Was sind das für Leute?
Hier wird es persönlich – und politisch brisant. Es handelt sich nicht um Laien oder fachfremde Kulturpolitiker. Es handelt sich um teils gar um Mediziner, die zu Fachpolitikern geworden sind. Und die sich dabei offenbar von den Grundlagen ihrer eigenen Profession verabschiedet haben.
Statt sich auf Studienlage, Fachgesellschaften und ärztliche Positionen zu verlassen, folgen sie einem diffusen Gemisch aus Patientenwünschen, Imagepflege und Lobbydruck. Wissenschaftliche Redlichkeit? Versorgungssteuerung auf Basis von Evidenz? Fehlanzeige.
Ein Etikettenschwindel mit amtlichem Siegel
Was in den Vertrag geschrieben wurde, ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Es ist nicht die Aufwertung eines Berufsstandes, sondern die politische Beglaubigung eines Etikettenschwindels. Es ist die Einladung an alle Anbieter pseudomedizinischer Verfahren, sich über Charmeoffensiven und Nähe zu den richtigen Gremien ein Stück Gesetzgebung zu sichern.
Man mag geneigt sein, das Ganze als Randnotiz abzutun. Doch genau hier beginnt der Kulturkampf um die medizinische Versorgung der Zukunft. Und es ist höchste Zeit, dass sich die Wissenschaft dazu nicht länger höflich raushält. Und die Politik mit einem Restmaß von Vernunft agiert.