
Dem Bemühen um sachliche Aufklärung, um Patientenschutz und um die sinnvolle Nutzung der Ressourcen des Gesundheitssystems ist ein ordentlicher Tritt versetzt worden. Nein, nicht von den üblichen Verdächtigen. Sondern genau von der Stelle, deren Aufgabe das Bemühen um sachliche Aufklärung, um Patientenschutz und um die sinnvolle Nutzung der Ressourcen des Gesundheitssystems ist: Dem Bundesgesundheitsministerium.
Man wird sich erinnern: Das Informationsnetzwerk Homöopathie hatte sich bereits zwei Mal an den Bundesgesundheitsminister “in Sachen Homöopathie” gewandt. Die Kernforderung darin war keineswegs die Abschaffung der Homöopathie. Minister Gröhe wurde lediglich aufgefordert, endlich an die Homöopathie die gleichen Maßstäbe anzulegen, wie sie für nach den Grundsätzen der Evidenzbasierten Medizin in einem neuzeitlichen Gesundheitssystem selbstverständlich sind. Aus Anlass des Readers, den die Wissenschaftliche Gesellschaft für Homöopathie (WissHom), einem Teil der Lobbyverflechtung der Homöopathen, mit dem Anspruch wissenschaftlicher Beweisführung im Sommer vorgelegt hatte (und der außerhalb der Homöopathieszene zerrissen worden war), wäre es naheliegend gewesen, die Homöopathen endlich beim Wort zu nehmen. Der Vorschlag des INH ging deshalb dahin, dass Minister Gröhe eine unabhängige Einrichtung mit der objektiven Bewertung des WissHom-Papiers betrauen möge. Eine ebenso berechtigte wie bescheidene Forderung.
Nach nunmehr neun Wochen liegt die Antwort -nein, nicht des Ministers, eines seiner Referatsleiter, vor. Es gibt dazu bereits eine aktuelle Stellungnahme des INH.
Von der pluralistischen in die postfaktische Gesellschaft?
Um erstmal ein wenig Dampf abzulassen: Der für das öffentliche Gesundheitswesen, eine Angelegenheit von größter allgemeiner Bedeutung, zuständige Minister verweigert sich der wohlbegründeten Aufforderung, eine seit 200 Jahren unbewiesene Methode einer unabhängigen Prüfung durch anerkannte medizinische und pharmakologische Institutionen bewerten zu lassen, deren Auswahl ihm sogar freigestanden hätte.
Lieber argumentiert er, analog zu seinen letzten Äußerungen in Sachen Heilpraktikerwesen (hierzu mein Beitrag “Nachtrag zu: Zum Kuckuck! Ein Aufschrei aus aktuellem Anlass” vom 5.10.16), mit der “Pluralität des Gesundheitswesens”, mit dem “mündigen Patienten” (der diese Therapieform ja so schätzt – hierzu mein Beitrag “Warum Rationalität? Eine kleine Polemik” vom 9.10.16), das alles vermischt mit scheinbaren Zuständigkeitsfragen, die ja wohl einen völligen Abschied von Verantwortlichkeit und Gestaltungskraft seitens des Ministeriums bedeuten.
Das ist der Abschied ins gesundheitspolitische Nirwana. In das faktenfreie Wohlfühlsystem, das zunehmend die Irrationalität zum Prinzip erhebt. Zugunsten eines indifferenten Pseudopluralismus, der allseits Blümchen regnen lässt. Sei es auf den schlichten Glauben des Konsumenten, der ja annimmt, es sei ja alles gesetzlich abgesegnet und damit in Ordnung, sei es auf eine Lobby, die sich inzwischen darauf verlassen kann, dass ihre Marketingabteilung in der Lage ist, jeglichen rationalen Ansatz in einer Wolke von Wohlfühlbotschaften zu ersticken.
Nach dem Motto: Wenn die alle wollen, dann sollen sie doch. Passiert doch nichts. Das ist der Antwort des Ministeriums deutlich zu entnehmen. Welche Auswirkungen das beispielsweise auf unsere sogenannte Wissensgesellschaft hat, auf die Notwendigkeit rationalen Handelns in einer hochtechnisierten Gesellschaft, letztlich auf die Notwendigkeit, demokratische Sachentscheidungen allein auf der Basis von Fakten zu treffen, das scheint niemanden zu interessieren. Na klar, merkt ja auch keiner außer diesen lästigen Skeptikern…
So eine Haltung bei politischen Entscheidungsträgern ist inakzeptabel und unentschuldbar. Herr Gröhe ist über die Problematik der Pseudomedizin aus früherer Tätigkeit seit langem informiert. Man muss ihm also unterstellen, dass er in gewissem Maße wider besseres Wissen die Problematik der Pseudomedizin -hier speziell der homöopathischen Methode- verschleppt und nicht einmal bereit ist, eine fundierte fachliche Expertise zu beauftragen.
Und jetzt mal Klartext
Muss ich noch etwas zu den einzelnen Aussagen der Ministeriumsantwort sagen? Na gut…
Zu 1.: Dass die Homöopathie als “besondere Therapieeinrichtung” im Sozialgesetzbuch aufgenommen ist, ist nicht nur dem INH geläufig. Das ist keine Rechtfertigung, sondern das Problem selbst. Geradezu niedlich ist aber die Formulierung, sie sei als solche “nicht ausgeschlossen”. Hier regnet es die eben erwähnten Blümchen in hoher Dichte. Fakt ist: Sie ist massiv privilegiert gegenüber den evidenzbasierten Mitteln und Methoden, weil sie nicht einmal einen Wirkungsnachweis erbringen muss.
Zu 2.: Bewertung von Behandlungsmethoden “in einem durch Freiberuflichkeit, Selbstverwaltung und Pluralität geprägten Gesundheitswesen” – hier kommt der postfaktische Wohlfühlpluralismus so richtig durch. Blümchensturm von allen Seiten, sozusagen. Und da fühlt sich das Ministerium nicht zuständig? Was ist denn die Verankerung des Binnenkonsens im Arzneimittelgesetz anderes war das denn als eine Bewertung von Behandlungsmethoden durch den Gesetzgeber selbst? Solange diese “Bewertung”, die Aufnahme in das Sozialgesetzbuch als “besondere Therapieeinrichtung” auf der fachlich zuständigen Ministeriumsebene nicht angegangen wird, ist doch wohl klar, dass sich die Proponenten dieser Methode in dem ihnen zur Verfügung gestellten Schonbezirk auch so richtig austoben.
Zu 3.: Offenbar ist immer noch nicht klar geworden, welche potenzielle Patientengefährdung die Anwendung unwirksamer pseudowissenschaftlicher Methoden an gutgläubigen Menschen anrichten kann. Die Hauptgefahr liegt selbstverständlich in der verspäteten Einleitung oder gar Unterlassung einer wirksamen evidenzbasierten Behandlung von Erkrankungen! Wir wissen, dass das aber längst nicht alles ist.
Um wieder einmal den Altmeister der deutschen Gerichtsmedizin, Prof. Otto Prokop, in den Zeugenstand zu rufen: Er schätzte die Zahl der Fälle, bei denen ein Schaden unterhalb der Todesschwelle durch Pseudomedizin jährlich entsteht, auf etwa 800.000 (!) – bereits in den 1950er Jahren.
Es wird überdeutlich, dass eine Auseinandersetzung mit dem Anliegen des Informationsnetzwerks Homöopathie überhaupt nicht stattgefunden hat – ja, dass die Aussagen des Antwortschreibens des BGM eine geradezu erbärmliche Armut an Problembewusstsein zeigen.
Für heute reicht es erstmal. Aber es geht weiter, demnächst in diesem Blog.
Und bevor ich mit einem Schreibkrampf schließe, nochmal Prokop:
Der Staat, der Personen zu solchen (pseudomedizinischen) Praktiken […] zulässt, nimmt es mit der Gesundheit seiner Bürger nicht ernst.
Dem kann ich nach den aktuellen Einblicken in die derzeitige Gesundheitspolitik nur anschließen.
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