Wie wissenschaftliche Zombies in den Bibliothekskatalog wandern

Neulich erreichte mich über die GWUP eine Anfrage, die – wäre man nicht so abgehärtet – für ungläubiges Kopfschütteln gesorgt hätte.
Ein Leser war im Wissensportal „Primo“ der TU Berlin auf einen peer-reviewed article gestoßen, der Akupunkturmeridiane als „Interferenzmuster des kohärent ausgesendeten Zellichts“ – also der sogenannten Biophotonen – erklärte. „Wie kann so etwas peer-reviewed sein?“, wollte er wissen.

Klar ist gleich auf den ersten Blick: Akupunkturmeridiane sind medizinische Fiktion, Biophotonen in der Form, wie ihre Protagonisten sie darstellen, ebenso. Ein „wissenschaftlicher“ Ansatz, der das eine mit irgendwelchen Auswirkungen des anderen zu erklären sucht, ist daher per se obsolet – ex falso quodlibet, aus Falschem folgt Beliebiges, wie der Formallogiker weiß. Der zweite Blick führt mitten hinein in ein Grundproblem der heutigen Publikationspraxis – und in den Plot eines wissenschaftlichen Zombies.

Der Artikel stammt aus dem Jahr 2013, erschienen im Journal Frontiers in Optoelectronics, verfasst von einer chinesischen Autorengruppe an einer chinesischen Universität. Obwohl die Prämissen nicht haltbar sind und die Folgerungen aus der Kombination beider zwangsläufig falsch, trägt der Artikel das Siegel „peer-reviewed“.

Wie kann das passieren?
Es gibt zwei Erklärungen. Die freundlichere lautet: Gutgläubige Reviewer und Editorial Boards nehmen exotische Grundannahmen der Autoren als gesetzt hin (Fail der unterschobenen Prämisse), prüfen dann nur auf innere Konsistenz der Schlussfolgerungen oder gar nur auf formale Kriterien, nicht auf die Validität des Fundaments.
Die weniger freundliche: Manche Journals – zumal aus dem weiten „Open Access“-Kosmos – haben geringere methodische Hürden, wenn das Thema ins eigene Profil passt oder aus bestimmten akademischen Netzwerken kommt. Peer-Review ist nicht unfehlbar, und formale Kriterien lassen sich auch mit inhaltlich schwachen Thesen erfüllen.

Das Problem liegt aber nicht bloß beim Erscheinen – sondern vielleicht noch mehr beim Fortleben. Einmal publiziert, bleibt ein solcher Text im wissenschaftlichen Ökosystem: in Zitationsketten, in Suchmaschinen, in Bibliothekskatalogen. Er wird nicht „entsorgt“, auch wenn er längst widerlegt oder inhaltlich wertlos ist. Selbst renommierte Institutionen wie die TU Berlin können nicht verhindern, dass fragwürdige Inhalte in ihren Beständen landen – die reine Herkunft aus einem „anerkannten“ Journal genügt für die Aufnahme. Q.e.d.

Und selbst wenn ein Artikel zurückgezogen wird, ist sein Zombiedasein nicht beendet. Retraction Watch dokumentiert seit Jahren Fälle, in denen längst revidierte oder zurückgezogene Arbeiten weiter zitiert werden, als sei nichts geschehen – und so das Erkenntnismaterial ganzer Fachgebiete kontaminieren. Eine technische Lösung dafür gibt es bislang nicht. Umso größer ist die Verantwortung der Journale, von vornherein keine unhaltbaren Publikationen durch das Peer-Review zu lassen. Ein frommer Wunsch – aber einer, ohne den das Problem nicht kleiner wird.

Hier entsteht der „Zombie“-Effekt: Solche Arbeiten sterben nicht. Sie wandern still und leise weiter, und für Laien – oder auch für Studierende – kann die bloße Präsenz in einer Universitätsdatenbank wie ein Gütesiegel wirken. Wer ohnehin geneigt ist, an Meridiane oder Biophotonen zu glauben, findet hier eine scheinbar wissenschaftliche, gar zitierfähige Bestätigung.

Genau das macht diese Altlasten gefährlich. Es geht nicht nur um aktuelle Fake News oder frische Pseudostudien. Wissenschaftskommunikation muss auch den Bestand kritisch im Blick behalten – gerade die Veröffentlichungen, die schon lange im Umlauf sind und sich unbemerkt festgesetzt haben.
Denn wie bei Zombies gilt: Sie sind schwer totzukriegen. Aber ignorieren darf man sie nicht.


Recent progress of traditional Chinese medical science based on theory of biophoton
Front. Optoelectron. 2014, 7(1): 28–36
DOI 10.1007/s12200-013-0367-1
https://www.researchgate.net/publication/271631415_Recent_progress_of_traditional_Chinese_medical_science_based_on_theory_of_biophoton