Warum der Vorschlag zur Verlängerung der Beamtenlebensarbeitszeit symptomatisch für eine schiefe Sozialdebatte ist

In schöner Regelmäßigkeit flammt sie wieder auf, die Debatte um die Lebensarbeitszeit. Meist nicht als ernsthafte Systemfrage, sondern als pauschal formulierter Vorschlag, der das Missverständnis fördert, eine einfache Lösung löse ein komplexes Problem. Aktuell fordern Wissenschaftler des Pestel-Instituts, Beamte sollten pauschal „fünfeinhalb Jahre länger arbeiten“, weil sie statistisch gesehen länger leben als Arbeiter (SPIEGEL+ am 08.08.2025). Der Vorschlag ist nicht nur ein Tiefpunkt sozialpolitischer Reflexion, sondern offenbart ein tiefer liegendes Verständnisproblem.
„Die Beamten“ gibt es nicht
Dass eine solche Forderung überhaupt aufgestellt werden kann, verdankt sich der Vorstellung eines homogenen Blocks „der Beamten“. Doch dieser Block existiert nicht. Beamte sind Lehrerinnen, Feuerwehrleute, Verwaltungsjuristen, Polizisten, Berufsrichterinnen, Steuerbeamte, Justizvollzugsbeamte und viele mehr – mit völlig unterschiedlichen Belastungsprofilen, Karrierewegen und Gesundheitsperspektiven.
Es gibt Verwaltungsbeamte, die auch mit 70 noch voll leistungsfähig wären. Aber auch solche, die längst vor dem Ruhestandsdatum krank und ausgebrannt sind, und das nicht wegen eines ungesunden Lebenswandels. Und es gibt erst recht Polizeibeamte oder Lehrerinnen, die mit Mitte 60 durch jahrzehntelange psychische und physische Dauerbelastung schon weit über ihre persönliche Grenze hinausgeschoben wurden. Der Vorschlag ignoriert diese Realitäten völlig. Die Polarität zwischen dem berühmten Dachdecker, dem zugestanden wird, nicht ewig arbeiten zu können und jemand, der sich in geistiger und nervlicher Anspannung in einem Büro verschleißt, ist eh eine Illusion.
Exkurs: Politisches Versagen und die Pensionslüge
Immer wieder wird der Beamtenbereich des öffentlichen Dienstes zur Zielscheibe von Pensionskritik. Dabei wird ein zentrales Faktum immer ignoriert: Die Beamtenbezüge sind – im Bruttovergleich – signifikant niedriger als vergleichbare Einkommen in der Privatwirtschaft und auch – das ist wichtig – die der Angestellten im öffentlichen Dienst in vergleichbaren Funktionen. Das war politisch so gewollt, als man sich in den frühen Zeiten der Bundesrepublik für die Weiterführung eines Systems „nach den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ entschied. Im Gegenzug erwerben Beamte direkte Ansprüche gegen den Staat. Die Differenz sollte zur Bildung von Pensionsrücklagen verwendet werden, davon ging man damals wie selbstverständlich aus und das war auch selbstverständlich – als dem Systemgedanken immanent.
Die Realität? Der Staat hat diese Beträge seit Jahrzehnten als allgemeine Verfügungsmasse genutzt und keinen Gedanken an seine Rücklagenverpflichtung verschwendet. Soweit zu der populären Sentenz, „die Beamten“ hätten für ihre Pensionen ja nichts eingezahlt. Jetzt, wo die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen, ist das Geschrei groß. Aber nicht die Beamten haben das verursacht. Sondern eine Politik, die ihren eigenen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist und das wahrscheinlich heute selbst kaum noch weiß.
Es war zwischenzeitlich sogar einmal etabliert, dass die Beamten selbst aus ihren Besoldungen (genauer: aus ihren Besoldungserhöhungen) eine solche Rücklage aufbauen sollten. In Kenntnis der Historie eine Absurdität sondergleichen. Das wurde zwar bald kassiert. Gründe dafür waren aber die nicht erreichbare Einheitlichkeit einer solchen Regelung in Bund, Ländern und Kommunen und das auf diesem Wege nicht erreichbare notwendige Rücklagenvolumen. Und nicht die Einsicht, dass die Beamten damit doppelt belastet gewesen wären für ihre Pensionen: durch nachhaltig vergleichsweise deutlich niedrigere Bezüge und durch beständige Reduzierung von Besoldungserhöhungen.
Statistik ersetzt keine Gerechtigkeit
Wenn man die Differenz in der Lebenserwartung summarisch zugrunde legt – was sagt das über die individuelle Belastbarkeit? Wenig bis nichts. Wer wie der Verfasser dieses Beitrags fast 48 Jahre im Dienst war, krank und schwerbehindert ein halbes Jahr vor dem gesetzlichen Termin mit einem (kleinen) Pensionsabschlag ausgeschieden, dem hätte eine Rente mit 70+ nur die Wahl gelassen zwischen „frühzeitiger“ Dienstunfähigkeit mit empfindlichen Pensionsabschlägen oder dem gesundheitlichen Zusammenbruch.
Personalentwicklung? Fehlanzeige
Die Vorschläge des Pestel-Instituts gehen auch an den strukturellen Problemen der öffentlichen Verwaltung vorbei. Schon heute sind viele Laufbahnen im öffentlichen Dienst faktisch „verstopft“, weil über Jahrzehnte keine kontinuierliche Personalentwicklung betrieben wurde. Wer Ältere zwangsweise hält, blockiert den dringend benötigten Nachwuchs. Wer aber die Jüngeren fördern will, muss einen planbaren Generationswechsel organisieren. Dazu gehört auch die Perspektive auf ein faires, erreichbares Dienstende.
Der wahre Kern: Ein hilfloser Sozialneid
Was hinter solchen Vorschlägen steht, ist meist kein durchdachtes Reformmodell, sondern eine Mischung aus populärem Neid, statistischem Trugschluss und dem politischen Reflex, komplexe Probleme durch einfache Sündenböcke zu „erklären“. Dass ausgerechnet der Beamtenstand hier zur Zielscheibe wird, hat Tradition. Doch sie wird durch Wiederholung nicht richtiger.
Was wirklich getan werden müsste
Wer ernsthaft soziale Gerechtigkeit will, sollte nicht mit der Rasenmäherlogik kommen. Er sollte die unteren Lohnniveaus stärken, Mindestlöhne realistisch indexieren, Erwerbsbiografien stabilisieren und Erwerbsarmut verhindern. Und ein wirklich gerechtes Steuersystem etablieren.
Und:
- Ja, es ist richtig, dass viele Menschen mit einfacheren Berufen zu früh sterben.
- Ja, es ist ein Skandal, dass sie oft keine Chance haben, ihren Ruhestand zu erleben.
Aber das lässt sich nicht dadurch lösen, dass man anderen Gruppen, die glücklichere Karten gezogen haben, nun den Ruhestand versagt. Das ist kein Ausgleich. Das ist eine Umverteilung von unten nach seitwärts.
Was bleibt, ist der Eindruck: Ein „Institut“, das solche Vorschläge in die öffentliche Debatte einspeist, sucht nicht nach Lösungen, sondern nach Aufmerksamkeitswert. Und die Medien greifen es auf, weil es schön knallt: Die Beamten! Die Pensionen! Die Ungerechtigkeit! Und schon ist das Thema echte Steuergerechtigkeit wieder vom Tisch …
Doch Wahrheit und Gerechtigkeit entstehen nicht aus Lautstärke. Sondern aus Nachdenklichkeit. Und Verantwortung.
Nicht die Beamten sind das Problem. Sondern eine Politik, die ihre eigenen Hausaufgaben nicht gemacht hat.
Eine nachhaltige Diskussion über Renten, Pensionen und Lebensarbeitszeit muss differenzieren, statt pauschalisieren. Sie muss individuelle Lebensverläufe, Belastungen und Berufsbilder ernst nehmen. Und sie darf nicht jene bestrafen, die Jahrzehnte pflichtbewusst gearbeitet haben, weil ein paar Statistikwerte eine schöne Zahl versprechen.