
Wer mich kennt, weiß: Ich bin selten schlecht gelaunt und schwer unterzukriegen. Aber inzwischen mache ich mir ernsthafte Sorgen um das, was man den common sense nennt – jenes fragile Netz aus Vernunft, Vertrauen und Verständigungsfähigkeit, das unsere freiheitliche Demokratie zusammenhält.
Ich gehe sogar so weit, das, was mich (wie ich glaube) auszeichnet, die Differenzierung, mal ein Stück weit beiseite zu lassen. Schwarzweiß ist ja eigentlich auch ganz schön. Und es macht das Bild meist auch übersichtlicher, wenn auch die Farbnuancen fehlen.
Bitte sehr, hier kommt meine Vier-Gruppen-Skizze, ein vereinfachter, aber meines Erachtens treffender soziologischer Brennspiegel der Gegenwart. Wer spürt nicht, dass praktisch wir alle, gleich welcher Gruppe oder Schicht wir angehören, in einem dysfunktionalen Spannungsverhältnis zueinander befinden. Dessen Symptom, das Auseinanderfallen, das zunehmende gegenseitige Nichtverstehen, kann vieles erklären.
Gruppe 1: Die Uninformierten und Verunsicherten
Sie sind nicht dumm, aber schutzlos – sie haben keine epistemischen Werkzeuge, um sich in der Flut von Information und Desinformation zu orientieren. Viele waren früher mal anschlussfähig an seriösen Journalismus, heute bleibt ihnen oft nur noch eine emotionale Echokammer, gespeist aus Frust, Gerücht und Bauchgefühl. Für sie wird Aufklärung zur Zumutung, weil sie das Vertrauen in eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit längst verloren haben.
Gruppe 2: Die Intellektuellen im Lagerdenken
Diese Gruppe trägt eine besondere Verantwortung – und kommt ihr allzu oft nicht nach. Statt nüchterne Analyse zu liefern, fabriziert sie moralisch überformte Weltbilder und Diskursblasen. Das ist tragisch: Denn gerade diese Gruppe hätte die Fähigkeit, den Kitt für die Gesellschaft zu liefern. Doch man verwechselt Haltung mit Erkenntnis und ersetzt Argumente durch Empörung.
Gruppe 3: Die Profiteure des Verfalls
Ob gesichtsfeldeingeschränkte Politiker, ideologische Demagogen, überfixierte Narzissten des Wirtschaftslebens oder pseudowissenschaftliche Geschäftemacher – diese Gruppe braucht nur das Feld zu bestellen, das andere brachliegen lassen. Sie gedeihen prächtig in der Unübersichtlichkeit und leben davon, dass es keine gemeinsamen Kriterien für Wahrheit oder Falschheit mehr zu geben scheint. Für sie ist der Zerfall des common sense ein Geschäftsmodell.
Gruppe 4: Die Aufklärer ohne Bühne
Das ist die am stärksten unterschätzte Gruppe – oft verstreut, nicht gut organisiert, vielfach wenig medienaffin, aber redlich, kundig und wach. Skeptiker, Wissenschaftsjournalisten, Philosophen, kritische Lehrer, einzelne politische Akteure mit Gewissen. Ihre größte Schwäche: Sie kommunizieren oft für sich selbst. Ihre größte Stärke: Sie stehen für Prinzipien – ohne Lautstärke, aber mit Substanz. Noch sind sie leise – aber vielleicht ist gerade das ihre Chance. Ihre größte Stärke: Sie haben Prinzipien und lassen sich nicht kaufen. Aber sie machen bei weitem nicht ein Viertel des Ganzen aus, sie sind nur die vierte Gruppe.
Fazit
Eine düstere Einschätzung, ja – und gerade deshalb ist es so wichtig, sich über die Lage klar zu werden. Und sich zu entscheiden, wo man seinen Platz sieht. Denn: Wenn niemand mehr den common sense verteidigt, bleibt nur noch das Spektakel der Lager. Und das ist der Anfang vom Ende vernunftbasierter Öffentlichkeit.
Nachsatz
Ich bin als Skeptiker Mitglied der GWUP und fühle ich mich der vierten Gruppe zugehörig. Ziel eines rationalen kritischen Skeptizismus, wie ich ihn verstehe und die GWUP ihn vertritt, ist nicht, sich einem Lager anzudienen – sondern aufzuklären, zu erklären, zu kritisieren, zu prüfen. Das ist kein bequemer Weg. Aber der einzig redliche. Es fällt nicht leicht, rundum von allen Lagern deshalb angegriffen zu werden, weil man aus guten Gründen keinem angehört. Denn das ist unvereinbar mit der Verpflichtung auf die Grundsätze der Aufklärung und des Humanismus, bei der die Parteinahme für oder gegen etwas oder jemanden – wenn überhaupt – nicht am Anfang, sondern am Ende ernsthafter redlicher Prüfung steht. Und dafür steht seit jeher auch dieser Blog.