
Was mit Foucault als Kritik an der institutionellen Erzeugung von Wahrheit begann, wurde bei Lyotard zur Erosion des gemeinsamen Bezugsrahmens – und bei Derrida zur Demontage der sprachlichen Grundpfeiler jeglicher Objektivität. Mit Butler erreicht diese Linie ihren politisch wirkmächtigsten Punkt: Sprache, Macht und Identität verschmelzen zur performativen Realität – und der erkenntnistheoretische Relativismus wird zur sozialen Norm. Dies stellt die Möglichkeit objektiver Wahrheit ganz grundsätzlich in Frage, indem sie ihn dadurch ersetzen will, dass Wissen immer sozial konstruiert und damit kontingent sei.
Demgegenüber stehen zwei herausragende Vertreter einer strikten Ablehnung des Relativismus: Karl Popper und Paul Boghossian. Während Popper den Relativismus durch eine systematische Weiterentwicklung der Erkenntnistheorie obsolet machte, lieferte Boghossian eine direkte und analytische Widerlegung der zentralen relativistischen Argumente. Wobei, es sei angemerkt, sich hierbei nicht um die einzigen, aber die herausragenden Kritiker des Relativismus der Postmoderne handelt. Vielleicht komme ich in einem späteren Artikel noch einmal auf andere wichtige Kritikansätze zurück.
Karl Popper: Kritischer Rationalismus als Widerlegung des Relativismus
Karl Popper (1902–1994) entwickelte mit dem Kritischen Rationalismus eine Erkenntnistheorie, die auf Falsifikation und fallibilistischer Erkenntnisgewinnung basiert. Seine zentrale These ist, dass Wissen nicht durch induktive Verallgemeinerung oder soziale Konstruktion entsteht, sondern durch eine fortlaufende Korrektur von Irrtümern. Damit untergräbt Popper die relativistische Vorstellung, dass es keine objektiven Maßstäbe für Wahrheit gebe.
- Das Abgrenzungskriterium und die Falsifikation: Popper zeigte, dass wissenschaftliche Theorien nicht durch Bestätigung bewiesen (Verifizierung), sondern nur durch empirische Tests widerlegt werden können. Die jeweilige Erkenntnislage zu einem Problem zeigt also den derzeitigen Stand des nicht widerlegten Wissens, was auf einen hohen Objektivierungsgrad schließen lässt. Dieses Prinzip steht im Widerspruch zu konstruktivistischen Theorien, die Wissenschaft als bloßes Narrativ oder Machtdiskurs sehen.
- Objektive Wahrheit als regulative Idee: Popper vertrat einen kritischen Realismus, in dem es eine objektive Wahrheit gibt, die im Erkenntnisprozess zwar nicht vollständig erreichbar ist, aber als Ziel wissenschaftlicher Bemühungen dient. Der Relativismus hingegen negiert dieses Ziel von vornherein zugunsten eines pluralistischen Wahrheitsbegriffs.
- Der Selbstwiderspruch des Relativismus: Ein zentrales Argument Poppers gegen den Relativismus ist dessen performative Selbstwidersprüchlichkeit: Wenn alle Wahrheiten gleichwertig sind, ist auch die Aussage, dass es objektive Wahrheit gibt, wahr – was den Relativismus selbst aufhebt.
Paul Boghossian: Logische und analytische Widerlegung des Relativismus
Paul Boghossian (*1957) nimmt eine noch direktere Position gegen den Erkenntnisrelativismus ein. In seinem Buch Fear of Knowledge: Against Relativism and Constructivism (2006) zerlegt er die zentralen Argumente postmoderner Philosophen und zeigt, dass sie sowohl logisch als auch methodologisch unhaltbar sind.
- Widerspruch im epistemischen Relativismus: Boghossian weist nach, dass der Relativismus, wenn er behauptet, dass alle Wissensansprüche sozial konstruiert sind, sich selbst unterminiert. Denn wenn das Konzept der sozialen Konstruktion selbst nur eine soziale Konstruktion ist, fehlt ihm jegliche argumentative Basis.
- Unmöglichkeit eines gleichwertigen Wahrheitspluralismus: Er argumentiert, dass es unmöglich ist, widersprüchliche Wahrheitsansprüche (z. B. „Die Erde ist eine Kugel“ vs. „Die Erde ist eine Scheibe“) gleichzeitig als gültig anzuerkennen, ohne das Konzept von Wahrheit völlig ad absurdum zu führen.
- Realismus als die einzige konsistente Position: Boghossian plädiert für eine Rückkehr zu einer objektiven, erkenntnistheoretisch abgesicherten Realität. Er zeigt auf, dass viele relativistische Positionen auf einem Missverständnis oder einer fehlerhaften Anwendung von Sprachspielen, Pragmatismus und Kuhns Paradigmentheorie basieren.
Wenn Dekonstruktion zur Methode ohne Prüfung wird
Ein weiteres Problem dieser rückwärtsgewandten Bestätigungslogik liegt darin, dass sie sich von jeder empirischen Rückbindung befreit. Während naturwissenschaftliche oder evidenzbasierte Forschungsansätze sich dem Ideal der Falsifizierbarkeit stellen, operiert das postmoderne Denken – zumindest in seiner radikalisierten Spielart – auf einer Ebene der reinen Textualität. Thesen über Gesellschaft, Diskurs, Identität oder Macht müssen nicht mehr durch Daten oder überprüfbare Beobachtungen gestützt werden. Es genügt, dass sie sich sprachlich schlüssig einfügen.
Derridas Dekonstruktion, Foucaults Genealogie, Butlers Performativitätstheorie: Alle beanspruchen sie Deutungsmacht über kulturelle und soziale Zusammenhänge, ohne diese an nachvollziehbaren empirischen Belegen zu messen. Stattdessen werden literarische Stilmittel, metaphorische Analogien oder historische Fallbeispiele zur Hauptquelle der Legitimation.
Soziokulturelle Thesen verlieren dadurch ihre wissenschaftliche Prüfstruktur – sie mutieren zu Behauptungssystemen mit immunisierenden Rhetoriken. Wer fragt: „Wie genau misst man denn den Einfluss dieser Diskurse auf das Verhalten?“ oder „Welche Alternativhypothesen wurden geprüft?“, wird nicht selten als „Positivist“ oder „Essentialist“ abgewertet – also als jemand, der das Spiel nicht verstanden hat.
Doch was ist das anderes als ein erkenntniskritischer Rückschritt? In einer Zeit, in der gesellschaftliche Dynamiken dringend überprüfbare, evidenzinformierte Analysen brauchen – etwa in der Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft oder Bildungsforschung –, entzieht sich ein Teil des geisteswissenschaftlichen Betriebs der eigenen Verantwortung: sich mit der Realität messen zu lassen.
Schlussfolgerung
Die Gegenpositionen von Popper und Boghossian widerlegen den Erkenntnisrelativismus sowohl aus einer wissenschaftstheoretischen als auch aus einer analytischen Perspektive. Während Popper zeigt, dass Wissenschaft und Wahrheit trotz ihrer Fallibilität objektiv und methodisch begründet bleiben, entlarvt Boghossian die inneren Widersprüche und Unhaltbarkeit der relativistischen Argumentation. Damit wird deutlich, dass der epistemische Relativismus letztlich nicht nur erkenntnistheoretisch problematisch ist, sondern auch eine Gefahr für wissenschaftlichen Fortschritt und rationale Diskurse darstellt. Er ist ein erkenntnisphilosophischer Rückwärtsgang.
Ein weiterer Einwand: Bestätigungsforschung – oder: Wenn das Fazit vor der Fragestellung kommt
Es ist eine merkwürdige Umkehrung, die man bei manchen Protagonisten des postmodernen Denkens beobachten kann – einer Art erkenntnistheoretischem Rückwärtsgang, der das wissenschaftliche Prinzip auf subtile Weise unterläuft: Man hat sich innerlich längst für ein Ergebnis entschieden – nämlich, dass Wahrheit, Objektivität und Methodizität bloße Machtinstrumente oder sprachliche Konstrukte sind – und ordnet dann die theoretische Erzählung so, dass genau dieses Ergebnis als zwingend erscheinen muss.
Das ist, wenn man so will, die paradoxe Volte einer postmodernen Bestätigungsforschung – nicht empirisch, sondern diskursiv. Man sammelt Argumente, Sprachspiele, historische Brüche und kulturelle Differenzen nicht, um eine offene erkenntnistheoretische Frage zu beleuchten, sondern um eine bereits gefasste Skepsis gegenüber „Wahrheit“ argumentativ zu befestigen.
Was daraus entsteht, ist ein mächtiger Gestus der Dekonstruktion, der sich zugleich der Möglichkeit systematischer Erkenntnis entzieht. Lyotard, Foucault, Derrida – alle auf ihre Weise beginnen mit einer durchaus luziden Kritik an Verabsolutierungen, an hegemonialen Diskursen, an naivem Positivismus. Aber sie schlagen nicht den Bogen zur rekonstruktiven Vernunft – sie klappen, mit je eigener Geste, das Buch zu, wenn es ans Weiterdenken ginge. Und genau darin liegt eine Nähe zur dogmatischen Forschung, die sie selbst so entschieden ablehnen: Auch dort wird ein Ergebnis angesteuert, nicht entwickelt.
Kritik verkommt so zur rhetorischen Strategie, nicht zur erkenntnistheoretischen Tugend. Und der Wahrheitsbegriff – nicht naiv, sondern kritisch-modern – bleibt auf der Strecke. Glaubt wirklich jemand, wir könnten die drängenden Probleme unserer Zeit – Klimakrise, soziale Ungleichheit, globale Konflikte – mit moralisch aufgeladenen Erkenntnismodellen lösen, die objektives Wissen leugnen? Meinen die Vertreter eines moralisch verbrämten Relativismus ernsthaft, nachhaltige Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein zu erreichen, indem sie die Gesellschaft in starre Identitätskategorien unterteilen – in Opfer und Täter, manchmal beides zugleich, oft ohne individuelle Schuld und ohne Möglichkeit der Exkulpation? Ich halte das für eine gefährliche Sackgasse. Sie wird sich entweder auflösen – oder in eine kollektive Identitätskrise führen, die keines der realen Probleme lösen kann.
Skeptizismus, Relativismus und der humanistische Impuls
Ein Fazit aus der Sicht des humanistisch motivierten Skeptizismus ist hier angebracht. Skeptizismus ist seinem Wesen nach keine bloße Gegenrede, keine destruktive Haltung gegenüber etabliertem Wissen, sondern ein verantwortlicher Umgang mit Erkenntnisansprüchen. Er fragt: Was wissen wir wirklich – und warum glauben wir es zu wissen? Doch diese Haltung steht im scharfen Kontrast zum erkenntnistheoretischen Relativismus. Während der Skeptiker prüft, abwägt, und im Zweifel das bessere Argument sucht, entwertet der Relativist oft schon den Begriff des besseren Arguments – weil für ihn alle Wahrheiten gleich gültig sind oder zumindest gleich relativ erscheinen. Ein ad libitum der „Wahrheit“.
Skeptizismus ist kritisch – aber nicht zersetzend. Er unterscheidet zwischen begründeter Zweifelshaltung und dem postmodernen Verdacht, dass es überhaupt keine erkenntnismäßige Orientierung geben könne. Gerade weil er auf Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit und intersubjektiver Konsistenz beharrt, ist der skeptische Zugang zur Welt mit relativistischen Positionen nicht vereinbar.
Das Missverständnis beginnt oft schon beim Begriff „Kritik“. Für den Skeptiker ist Kritik ein methodischer Akt – für viele Vertreter relativistischer Theorien hingegen ein machtpolitischer. Doch wer Kritik nur noch als Dekonstruktion von Machtverhältnissen begreift, verliert leicht aus dem Blick, dass Kritik auch etwas aufbauen kann: tragfähiges Wissen, nachvollziehbare Begründungen, verantwortliche Urteilsfähigkeit.
Deshalb ist Skeptizismus, richtig verstanden, tief im humanistischen Denken verwurzelt. Er geht von der Würde der menschlichen Vernunft aus – und von der Möglichkeit, im offenen Diskurs Erkenntnis zu gewinnen, die über bloße Meinung hinausgeht. Der skeptische Humanismus verteidigt nicht nur Wissenschaftlichkeit gegen Dogmen, sondern auch gegen den diffus daherkommenden Relativismus, der im Gewand von Toleranz oft nur neue Dogmen installiert.
Der Humanismus erkennt die historische Bedingtheit aller Erkenntnis an – aber nicht, um sie zu entwerten, sondern um sie umso bewusster zu gestalten. Das ist der Unterschied. Und es ist der Grund, warum Skeptizismus niemals auf den Relativismus hereinfällt: weil er an der Idee festhält, dass Erkenntnis eine moralische, rationale und gemeinschaftlich tragbare Aufgabe ist.
Epilog – Vom Zweifel zur Verantwortung
Wer sich durch das Dickicht der relativistischen Denksysteme gearbeitet hat, mag am Ende versucht sein, mit den Achseln zu zucken. Zu groß scheint die Verwirrung, zu zersplittert das Gelände, zu mächtig die Erzählung vom Ende aller Wahrheiten. Doch genau dort, wo die Postmoderne ihren Triumph ausruft – im Zerfall der Ordnung, im Verlust des Maßes, in der Macht des Narrativs –, beginnt das, was man Haltung nennt.
Haltung bedeutet nicht, einfache Antworten zu haben. Aber sie bedeutet, nicht zu kneifen, wenn es darauf ankommt, sich festzulegen: auf eine Vorstellung vom Menschen, von Vernunft, von Würde, von Verantwortung. Wer das als „reduktionistisch“ oder „dogmatisch“ beschimpft, verwechselt Klarheit mit Engstirnigkeit.
Meine eigene Haltung – und damit schließt sich der Kreis dieser Serie – gründet in einem Humanismus, der die Ratio nicht verleugnet, sondern einhegt, pflegt und verteidigt. Und darum soll am Ende nicht eine weitere Kritik stehen, sondern ein Satz, den ich schon vor einigen Jahren formuliert habe – und der bis heute mein Fundament geblieben ist:
„Wir haben keine Wahl als Humanisten, wir müssen auch und vor allem Anwälte der Ratio sein. Und wir dürfen uns dabei nicht mit Begriffen wie ‚reduktionistischer Materialist‘ oder ‚Wissenschaftsdogmatiker‘ etikettieren lassen, wie es die Anwälte des Postfaktisch-Irrationalen gern und oft tun, um uns eine Ebene des Menschlichen abzusprechen. Aber das ist nichts anderes als Verleumdung in pseudophilosophischer Mimikry. Wir sind nicht Materialisten, sondern Naturalisten, was die Ehrfurcht vor dem gesamten Spektrum nicht nur menschlichen Daseins in der realen Welt einschließt, jedoch die Irrationalität und rein subjektive ‚Wahrheiten‘ als Nährboden für das Gegenteil dieser Ehrfurcht erkennt und ihnen widerstreitet.“
In diesem Sinne: Nicht trotz, sondern wegen unserer Endlichkeit und Fehlbarkeit brauchen wir eine Welt, in der man wieder wissen darf, was gilt – und warum.
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