
Warum stellt sich die Gesundheitspolitik nicht konsequent gegen die Homöopathie (und andere Pseudomethoden) als Teil des öffentlichen Gesundheitswesens, obwohl nach der Expertise seriöser Wissenschaft kein medizinischer Nutzen davon zu erwarten ist – im Gegenteil? Warum nimmt sie eine Entwicklung in Kauf, die zu mehr und mehr Des- und Fehlinformation der Verbraucher / Konsumenten / Patienten führt und die ohnehin vorhandene Skepsis gegenüber der Wissenschaft befördert? Warum hofiert sie geradezu die Proponenten der Homöopathie, zudem bei Veranstaltungen, deren Inhalte und Vorgehensweisen jeglichen wissenschaftlichen Usancen Hohn sprechen, weil dort keine Hypothesen zur Überprüfung und Falsifikation vorgelegt werden, sondern nur Jubel in geschlossener Gesellschaft stattfindet? Wie z.B. der derzeitige Hömöopathische LMHI-Weltkongress in Leipzig statt (geschrieben 2017), der sich durchaus als Musterbeispiel für eine solche Jubelveranstaltung darstellt.
Warum?
Es sollte Konsens darüber bestehen, dass Sachfragen nach rationalen Kriterien von der Politik behandelt werden. Dass dies nicht für Richtungs- und Werteentscheidungen uneingeschränkt gilt, sollte ebenso klar sein. Um aber gleich Missverständnissen vorzubeugen: Ich lehne einen rein technokratisch-rationalen Begriff des politischen Entscheiders ab, weil es ihn schlicht nicht gibt. Natürlich ist die Anforderung, die Ratio zur Entscheidungsgrundlage in Angelegenheiten des Gemeinwesens zu machen, durchgängiges Muster bis zurück zur der griechischen politeia. In neuerer Zeit hat die soziologische Forschung dies als ihr Feld erkannt. Zu Recht. Es ist immer deutlicher geworden, dass es nicht möglich ist, bei menschlichen Entscheidungsprozessen Emotionalität auszublenden.
Seit dem 17. Jahrhundert richtete sich der Begriff der Ratio in der Politik nach dem Entwurf, den die ökonomischen Wissenschaften hervorgebracht haben (homo oeconomicus). Dieser zeichnet sich durch eine ausschließlich zweckrationale Ausrichtung aus, die bei einem Bestand gegebener Informationen zwingend zu einer Entscheidungsfolge kommt – im Idealfall der Verfügbarkeit aller relevanten Informationen zur zwingend richtigen Entscheidung. Inzwischen hat die ökonomische Wissenschaft selbst erfahren müssen, dass viele Entscheidungen mehr oder weniger trotz dieses rein zweckrationalen Ansatzes funktionieren. Warum? Diese Frage wurde von Verhaltensforschern in der Tat aufgegriffen und von der modernen Hirnforschung ebenfalls betrachtet.
Der aktuelle Stand hierzu ist eine Vorstellung vom Entscheidungsprozess, bei dem sich die Schlüsselelemente einer Entscheidung sehr schnell und praktisch gleichzeitig im Bewusstsein entfalten, und zwar zunächst als untrennbares Konglomerat. Hier wirkt die Summe aller Erfahrungen, Urteile, Vorurteile, die das Bewusstsein bereitstellen kann. Schon bevor eine bewusste rationale Überlegung beginnt und die Prämissen einer Analyse aufgestellt werden, geschieht bereits etwas im Gehirn: Sobald die nicht erwünschten Möglichkeiten, die mit einer gegebenen Reaktionsmöglichkeit verknüpft sind, in unserer Vorstellung auftauchen, reagiert das Bewusstsein, wenn auch nur ganz kurz, mit einer „Bremse“ – der Empfindung des Unangenehmen, des „schlechten Gefühls im Bauch“. Für die weitere rationale Überlegung verstärkt dies die Aufmerksamkeit für die negativen Folgen, die eine bestimmte Handlung / Entscheidung nach sich ziehen würde. Diese „Warnfunktion“ auf der Grundlage unserer Erfahrungssumme ist evolutionär leicht als Schutzmechanismus zu erklären, die uns eine dadurch determinierte Denkrichtung nahelegt. Es braucht also keine hochschlagenden Wellen einer sich ungehemmt Raum verschaffenden Emotion – eine leise Umsteuerung des rein rationalen Prozesses aufgrund persönlicher Disposition reicht oft aus. (1)
In der Entwicklung zu unserer modernen Staatsform haben Emotionen immer eine Rolle gespielt, wenn auch eine sehr wechselhafte. Noch Thomas Hobbes sah die Beweggründe menschlichen Handelns in dem Wechselverhältnis von Angst und Selbsterhaltungstrieb, also eher bedrohlichen Emotionen, die es im Zaum zu halten galt (pessimistische Anthropologie). Erst seine (frühliberalen) Nachfolger wendeten sich optimistischeren Sichtweisen zu: Dem Wohlergehen und der Zufriedenheit des Individuums im Gemeinschaftsverband. Locke, Montesqieu und Kant erweiterten das liberale Portfolio um den bald beherrschenden Freiheits- und Gleichheitsgedanken. Niemand wird bezweifeln, dass dieser erheblich emotional besetzt ist. Diese Besetzung ermöglichte erst den aufklärerischen Kampf, der genau diese Positionen von der Freiheit und Gleichheit aller Individuen zur modernen Staatsraison auf Verfassungsebene erhob.
Trotzdem entsprach es wohl abendländischer Denktradition, nach der grundsätzlichen Festigung dieser Positionen aus dem praktischen Handeln Emotionen wieder eher auszuklammern und ihre konstitutive Rolle für den modernen Verfassungsstaat zu „vergessen“. Traditionell wurden ja Emotionen hauptsächlich als Störfaktoren im Denken und Handeln des Menschen betrachtet. So war beispielsweise die Adenauer-Ära von einer regelrecht zur Schau getragenen Rationalität getragen, die nur der „Alte“ persönlich einmal unterbrechen durfte.
Nun gibt es aber in unserer Zeit einen Faktor, der die Emotionalität bei der Entscheidungsfindung, die Bedeutung des „Bauchgefühls“, gerade in der Politik ungeheuer verstärkt: Die Entwicklung zur Mediendemokratie, vielfach auch Mediokratie genannt. Je näher (scheinbar) der Politiker seinem „Publikum“ kommt, desto mehr gewinnt die emotionale Übertragung an Bedeutung. Mit anderen Worten, es kommt mehr und mehr zu „Inszenierungen“. Die Medienwelt folgt anderen als Rationalitätskriterien. Und die Politik folgt dieser Ausrichtung hin zu Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung. Die Medien als die mit Abstand wichtigste Informationsquelle gestalten Stimmungen und Einstellungen der Bürger – und zunehmend der Politiker. Beobachten wir in letzter Zeit nicht in Übereinstimmung damit überall eine zunehmende Geringschätzung der Rationalität? Ich kann dies bestätigen – zu meinen Blogartikeln mit den Plädoyers für die Ratio habe ich viele kritische und auch offen ablehnende Zuschriften erhalten. Wobei ich das Prädikat des harten klassischen Rationalisten, mit dem ich immer wieder etikettiert werden soll, gar nicht für mich in Anspruch nehme – es passt überhaupt nicht zu mir. Ich plädiere nur für angemessene Rationalität im öffentlichen Diskurs, was mir als dringende Notwendigkeit erscheint..
Der „Cicero“ greift interessanterweise das Thema aktuell ebenfalls auf und stellt die Frage, ob nicht vielmehr einer stärkeren Emotionalisierung entgegengetreten und der Rationalität wieder ein angemessener Platz eingeräumt werden müsste. Ein durchaus bemerkenswerter Beitrag.
Immer noch gilt zwar „offiziell“ als Legitimation demokratischer Systeme der rationale Prozess der Willensbildung mit Hilfe (Mitwirkung) der politischen Parteien, die -bei durchaus vorhandenen Interessengegensätzen- eine faire Auseinandersetzung mit der Sache garantieren. Auf der anderen Seite wird der rational denkende und handelnde Bürger erwartet, der sich am öffentlichen Diskurs beteiligt und sich eine weitgehend unabhängige Meinung bildet. Diese Idealvorstellung dürfte in Anbetracht der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Verhaltens- und der Hirnforschung allerdings mehr oder weniger genauso obsolet sein wie die des homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften. Doch es bleibt dabei – Demokratie ist das Ermöglichen eines freien, ungehinderten Diskurses mit dem Ziel des Findens der besten Lösung. Weder Mehrheitsdiktatur noch uneingeschränkt mandatierte Herrschaft.
Was aber bedeutet das nun für unsere Ausgangsfrage, für die Problematik der grundsätzlich zu erwartenden sachrationalen Entscheidung unter der Annahme, dass die entscheidungsrelevanten Informationen zu einer Sachfrage vorliegen? Es gibt im Grunde nur eine Erklärung für unseren Beispielsfall, die Homöopathie: Konfrontiert mit der Forderung nach einem Bann gegen die Homöopathie im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens (nachdem man sie ja einmal bewusst dort installiert hat) lenken spontan negative „Störfeuer“ die Überlegung des erfahrenen politischen Entscheiders in die Richtung „Finger weg!“. Diese Störfeuer kommen einmal aus der Infragestellung früherer Entscheidungen, an denen man womöglich selbst irgendwie beteiligt war und zum anderen aus dem Wissen, dass „die Leute das ja wollen“ – was in der Tat durch mehr als geschickte Lobbyarbeit im Bewusstsein verankert wird. Unruhe stiften, mit einer im Gesamtzusammenhang eher marginalen Sache? Mit den Medien im Hintergrund? Lieber nicht. Dass sich so etwas bis zu einer regelrechten Verdrängung eines Problems entwickeln kann, liegt nahe. Außerdem müsste man ja die Sachlage zu einem entscheidungsrelevanten Problem auch erst einmal selbst, als Person, zur Kenntnis nehmen – das Problem des eigenen Fehlurteils. Und dafür gibt es auch keine Garantie, wie das kaum anders erklärbare dienstfertige Abliefern von Grußworten und guten Wünschen für pseudomedizinische Veranstaltungen zeigt.
Damit wir uns richtig verstehen – das ist ein Erklärungsversuch, keine Apologie. Trotz des Verständnisses für den unvermeidbaren „emotionalen“ Anteil an Entscheidungsprozessen, trotz der Verstärkung dieses Gesichtspunktes durch die vielfältigen und zweifellos starken Einwirkungen durch die Mediengesellschaft: Von hochrangigen Verantwortungsträgern muss man einfach erwarten können, dass der Vernunft ihr Recht gegeben wird, wenn diese regelrecht danach schreit. Feigheit verboten. Ganz persönliche Vorlieben außen vor. Aber womöglich unterschätze ich doch die Macht des sozialen Drucks, der von einer Mauer der öffentlichen Meinung, einem allgemeinen „wir wollen das aber“ ausgeht, auch, wenn dies alles auf potemkinschen Dörfern beruht…
Woraus letztlich folgt: Eine Befassung mit dem Problempatienten Homöopathie (und ganz grundsätzlich mit einem verbesserten Verbraucherschutz im gesundheitlichen Bereich, was auch die Heilpraktikerproblematik umfasst) wird erst gelingen, wenn das derzeit positive Image der Methode in der Öffentlichkeit schwindet. Dazu bedarf es der Medien, ohne Zweifel. Dazu wiederum bedarf es der Aufklärung und Information. Das ist unter anderem eine Aufgabe für den beschriebenen mündigen und gut informierten Bürger, der sich auf dieser Grundlage am demokratischen Diskurs beteiligt. Womit sich der Kreis der demokratischen Willensbildung doch wieder schließt. Skeptiker sind ein wichtiger Teil der demokratischen Zivilgesellschaft, keine Nestbeschmutzer.
Das musste auch einmal gesagt werden.
Nachtrag, Oktober 2022
Sollte sich gegenüber der obigen, 2017 verfassten Analyse (die durchaus nicht pessimistisch, sondern eher zuversichtlich gemeint war) tatsächlich ein Sinneswandel eingetreten sein, der einen Bifurkationspunkt im Denken von Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern bewirkt? Vielleicht ist es noch zu früh für ein uneingeschränktes Ja zu dieser Frage. Nachdem aber endlich die zentralen Anliegen der wissenschaftsbasierten Homöopathiekritik richtig rezipiert werden (d.h. nicht überdeckt von Scheinargumenten wie den „marginalen Kosten im Gesundheitssystem“), scheinen jahrzehntelange Beharrungstendenzen endlich zu schwinden. Spiegelt dieser Medienbeitrag die aktuelle Lage richtig wider, geht die Ära der Homöopathie als Teil des Gesundheitssystems bald zu Ende.
(1) António R. Damásio: Der Spinoza-Effekt – Wie Gefühle unser Leben bestimmen.List, München, ISBN 3-471-77352-5
Bildnachweis: Fotolia_151316411_XS
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