Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat eine Stellungnahme zu ME/CFS veröffentlicht, die sich dem Titel nach als sachliche Information über den Forschungsstand ausgibt. Doch wer den Text mit aufmerksamem Blick liest – insbesondere vor dem Hintergrund der seit Jahren bestehenden systematischen Fehlwahrnehmungen in Teilen der neurologischen Fachwelt –, erkennt schnell: Hier wird nicht informiert, sondern verteidigt. Nämlich eine Position, die den ME/CFS-Betroffenen schon viel Unbill und Leid gebracht hat: dass es sich bei der Krankheit jedenfalls ganz überwiegend, wenn nicht ganz um eine psychosomatische Störung handelt.
Es ist ein wenig atemberaubend, wenn genau dies mit einem „Überblick über den Forschungsstand“ begründet werden soll. Denn im Grunde zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, dass die psychosomatische Deutung von ME/CFS immer obsoleter wird.
Was als Forschungsüberblick daherkommt, ist in Wahrheit ein rhetorischer Schutzschild. Ein Text, der durch seine Wortwahl, Struktur und selektive Darstellung signalisiert: „Wir halten an unserem Deutungsrahmen fest.“ Der Verweis auf die fehlenden Biomarker – eine immer brüchiger werdende Argumentationsfigur – und die Betonung der unspezifischen Symptomvielfalt dienen nicht der Differenzierung, sondern der Relativierung. Es ist ein bekanntes Muster: Wenn etwas komplex ist, kann es ja nur psychogen sein. Was nicht berichtet wird: Inzwischen 116 Blutmarker (Stand Juni 2025) zeigen klare Unterschiede zwischen Gesunden und Erkrankten (interessanterweise gleichermaßen bei Männern und Frauen, ungeachtet der geschlechterunterschiedlichen Inzidenz von ME/CFS), Darunter finden sich Indikatoren für chronische Entzündung und Stoffwechselstörungen, sie sprechen eine deutliche Sprache – ME/CFS ist somatisch zu erfassen, nicht psychisch (siehe Quellenabschnitt).
Diese Haltung der DGN ist nicht neu – sie wiederholt vielmehr einen historischen Fehler. Auch bei Parkinson wich die psychosomatische Lesart erst, als die Neurologie sich dem Druck harter Befunde nicht länger entziehen konnte. Und wo beispielsweise sind die Biomarker für Migräne?
Heute zeigt sich: Viele pathophysiologische Parallelen zwischen ME/CFS und Parkinson sind unübersehbar – etwa bei der zellulären Energieverwertung, mitochondrialer Dysfunktion oder neuroinflammatorischen Prozessen. Doch statt die eigenen Irrtümer zu reflektieren, ist das DGN-Statement völlig unbelastet von jeder kritischen Rückschau auf die eigene Historie.
So fordert der Text eine interdisziplinäre Zusammenarbeit „von Neurologie, Rheumatologie, Kardiologie und Psychosomatik“ – als stünden alle Disziplinen gleichwertig nebeneinander. Dabei ist es gerade die Psychosomatik, die bislang keinerlei empirisch tragfähige Erklärungs- oder Behandlungsmodelle für ME/CFS vorzuweisen hat. Dass sie trotzdem selbstverständlich auf Augenhöhe benannt wird, ist bezeichnend – und verräterisch. Hier geht es nicht um Erkenntnisfortschritt, sondern um disziplinäre Besitzstandswahrung.
Erschreckend auch: Die DGN würdigt das Selbsterleben der Betroffenen nicht einmal im Ansatz. Dabei ist gerade bei ME/CFS zentral, dass ME/CFS-Patient:innen sehr wohl dauerhaft über intakte psychische Antriebe verfügen – aber von ihrem eigenen Körper buchstäblich ausgebremst werden. „Mein größter Wunsch ist, in mein aktives Leben zurückzukehren“ ist dabei ein von Betroffenen oft gehörter Satz. Diese Diskrepanz zwischen Willen und Können ist das eigentliche Kerntrauma der Erkrankung. Das ist aber das genaue Gegenteil einer psychischen Störung, die mit Fehlverhalten, Vermeidung, Rückzug assoziiert ist. Wer das ignoriert, ignoriert die Lebensrealität von hunderttausenden Erkrankten – und fördert indirekt die fortgesetzte Psychologisierung eines körperlich bedingten Leidens.
Besonders irritierend ist der fast beiläufige Verweis auf erhöhte Suizidrisiken. Hier bleibt offen, wie dieser Befund gelesen werden soll: Ist das ein Ruf nach Hilfe – oder lediglich ein weiterer Versuch, psychische Ursachen zu insinuieren? Die Frage drängt sich auf, ob es nicht gerade die therapeutisch ausweglose Abwertung durch das Gesundheitssystem und die materielle durch das Sozialsystem sind, die Verzweiflung erzeugen – und nicht etwa eine psychische Grunderkrankung. Wer in dieser Situation eine rein psychosomatische Deutung nahelegt, ohne den institutionellen Anteil am Leid zu reflektieren, bewegt sich gefährlich nah an ethischer Fahrlässigkeit.
Im Hintergrund steht vielleicht ein strukturelles Problem: die zu enge, therapeutisch unreflektierte Verklammerung von Neurologie und Psychologie in vielen Versorgungsrealitäten. Denn dort, wo Diagnosen nicht eindeutig sind, wird häufig nicht geforscht, sondern „umgedeutet“. Die Grenzen zwischen Beobachtung und Erklärung verschwimmen – zulasten der Betroffenen.
Die Wahrheit ist: Ausgerechnet jene Fachrichtungen, die ME/CFS hartnäckig psychologisieren, haben bislang keine tragfähigen Therapieansätze vorzuweisen. Weder Kognitive Verhaltenstherapie noch Graded Exercise Therapy haben die versprochene Wirkung gezeigt – im Gegenteil (in neueren Leitlinien, z. B. NICE 2021, wird GET für ME/CFS nicht mehr empfohlen, da die Evidenzlage unzureichend und die Intervention potenziell schädlich ist. siehe Quellenabschnitt). Die internationale Kritik an diesen Konzepten wächst, nicht zuletzt auf Basis massiver methodischer Mängel in den zugrundeliegenden Studien. Gleichzeitig mehren sich Hinweise auf immunologische, metabolische und zelluläre Auffälligkeiten – Hinweise, die eine rein psychosomatische Einordnung immer weniger plausibel erscheinen lassen.
Doch bei der DGN scheint man nicht willens, aus dem eigenen Schatten zu treten. Statt selbstkritisch innezuhalten und anzuerkennen, dass man einer ganzen Patientengruppe über Jahre hinweg Unrecht getan haben könnte, verfestigt man durch wohlgesetzte Formulierungen und suggestive Schwerpunktsetzung eine Haltung, die längst überholt sein sollte. Der Ton bleibt kühl, Ansätze zur Differenzierung reines Alibi, der Text bleibt hermetisch – und der Mensch dahinter verschwindet.
Es ist Zeit, diese Sprachspiele als das zu benennen, was sie sind: Mechanismen der Immunisierung. Wer sich auf fehlende Biomarker beruft, ohne die existierenden Hinweise auch nur zu würdigen, wer Komplexität als Beleg für Psychogenese verkauft und dabei reale somatische Hinweise systematisch ausblendet, handelt nicht im Sinne der Patienten – sondern im Sinne der eigenen Deutungshoheit.
Was es jetzt bräuchte, wäre ein echtes Umdenken: eine Hinwendung zur gelebten Realität der Betroffenen, eine Öffnung für neue Forschungsansätze – und ein klarer Bruch mit der Tradition vorschneller Pathologisierung. ME/CFS ist keine Einbildung. Es ist eine schwerwiegende, körperlich reale Erkrankung – und sie verdient mehr als ein Statement, das wie eine Ehrenrettung eigener Irrtümer klingt.
Ich bin kein Mediziner, sondern medizinischer Laie – gut, vielleicht am oberen Ende des Spektrums, nachdem ich über Jahre hinweg kritisch, sorgfältig und mit einem tiefen Respekt für medizinische Wissenschaft und Ethik für Aufklärung und Patientenschutz gearbeitet habe. Seit über einem Jahrzehnt befasse ich mich intensiv mit Fragen der Evidenz, mit den Grenzen ärztlicher Deutungshoheit, mit der Verantwortung von Wissenschaft im Umgang mit vulnerablen Patientengruppen. Mein besonderes Interesse an ME/CFS ist durch persönliche Erfahrungen im engeren Umfeld motiviert – durch Menschen, deren Leben durch diese Krankheit dramatisch eingeschränkt wurde, durch die Art, wie sie mit teils unglaublicher mentaler Stärke damit umgehen und durch das, was das Gesundheitssystem ihnen seither nicht zu geben vermag.
Ich habe die Entwicklung von ME/CFS in der wissenschaftlichen Literatur und in der Betroffenenrealität über Jahre hinweg verfolgt – von den frühen Versuchen, das Leiden zu bagatellisieren, bis zu den wegweisenden Studien der letzten Jahre, die die körperlichen Ursachen immer klarer herausarbeiten. Wenn ich mir als Nichtmediziner erlaube, eine so deutliche Replik auf ein offizielles DGN-Statement zu schreiben, dann nicht aus Anmaßung. Sondern aus der Hoffnung heraus, dass auch verantwortungsvolle Stimmen innerhalb der Neurologie selbst erkennen, wie viel Schaden ein solcher Text anrichtet – und dass sie Einfluss nehmen, bevor sich die Geschichte ein weiteres Mal wiederholt.
Denn was die DGN hier veröffentlicht hat, ist keine nüchterne Information, sondern ein Manifest struktureller Voreingenommenheit. Es spricht nicht mit, sondern über die Betroffenen. Und es blendet genau jene Entwicklungen aus, die einem aufgeschlossenen Fachverband Anlass zur Selbstkorrektur geben sollten. Der Schaden, den solche Sprachregelungen anrichten, ist nicht theoretisch – er betrifft reale Menschen, reale Biografien, reale medizinische Versorgung. Und genau deshalb sollten wir alle, auch als Laien, nicht schweigen.
Updatehinweis, 26.07.2025: Inzwischen auch liegt eine Stellungnahme von Fatigatio, dem Bundesverband ME/CFS, zur Publikation der DNG vor:
https://www.fatigatio.de/aktuelles/detail/forschungsstand-zu-me-cfs-fatigatio-widerspruch-zur-stellungnahme-dgn
Fundstellen, die die DGN offenbar nicht kennt:
Somatische Biomarker & immuno-metabolische Dysfunktionen
Mitochondriale Dysfunktion & Parallelen zu Parkinson
Kritik an Kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) und Gestufter Bewegungstherapie (GET)
Hintergrundberichte & politische Kontextualisierung