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Von der Warnung zur Werbung – und zurück

Es gibt Momente, in denen man als Leser innehalten muss, weil man nicht weiß, ob man über eine journalistische Reportage oder eine ironisch gefärbte Kolumne stolpert.
Der jüngste SPIEGEL-Artikel über die deutsche Winzerkrise (frei lesbarer Artikel) gehört in diese Kategorie.

Da beklagen Winzer, ihr Geschäft laufe schlechter – der Konsum gehe zurück, die jungen Leute tränken weniger, und überhaupt sei das Gerede über die Schädlichkeit von Alkohol „maßlos übertrieben“.
Ein paar Gläser Wein in der Woche seien schließlich kein Problem, das wisse man doch. Womöglich doch sogar gesund.

„Die Deutsche Weinakademie kritisiert Mediziner und Gesundheitsapostel: Die Gefahren durch Alkohol würden massiv übertrieben. Womöglich haben die Lobbyisten am Ende sogar recht.“

So der Spiegel-Teaser. Und der Reporter sekundiert mit der zarten Andeutung, die Winzer könnten da ja vielleicht gar nicht so Unrecht haben. So viel zur neuen Sachlichkeit im Journalismus.

Wenn Alkohol auf ein Wirtschaftsgut reduziert wird

Es steht außer Frage, dass viele Winzer wirtschaftlich unter Druck stehen.
Klimawandel, verändertes Konsumverhalten und Preisverfall sind Realität.
Aber strukturelle Krisen sind nichts Neues – sie gehören zum Wirtschaftskreislauf wie der Frost zum Rebstock.

Nur: Noch nie kam jemand auf die Idee, die Lösung in der staatlich geförderten Absatzsteigerung einer gesundheitsschädlichen Substanz zu suchen. Dass im neuen Bundeshaushalt nun tatsächlich Millionenbeträge für „Weinwerbung“ vorgesehen sind, wirkt wie aus der Zeit gefallen – als hätte man aus den Fehlern der Tabakpolitik nichts gelernt. Der Staat, der auf der einen Seite mit Präventionskampagnen gegen Alkoholkonsum wirbt, soll auf der anderen Seite den Absatz der Winzer stützen?

Das ist nicht Wirtschaftsförderung, das ist Schizophrenie.

Die Fakten sind eindeutig – nur der Wille fehlt

Während also in Deutschland über „die armen Winzer“ lamentiert wird, legt die medizinische Forschung seit Jahren unmissverständlich offen, was Sache ist. Laut einer aktuellen Analyse von Medscape sterben in Europa jedes Jahr Hunderttausende an den Folgen von Alkoholkonsum – mehr als durch illegale Drogen zusammen.

Alkohol ist die gesellschaftlich akzeptierte Lieblingsdroge – und zugleich die mit Abstand tödlichste.

Dabei geht es nicht um Verbote oder Moralismus. Niemand will jemandem das Glas Wein zum Essen verbieten. Aber man darf erwarten, dass der Staat keine finanziellen Anreize für schädliches Verhalten setzt – erst recht nicht in Zeiten, in denen die Krankenkassen ächzen, Prävention unterfinanziert ist und junge Menschen zunehmend abstinent leben, weil sie die Risiken kennen. Und denen, die die Risiken ignorieren, wird ein Alibi offeriert, wenn der Staat Alkoholkonsum fördert.

Und letztlich bürdet eine solche Strategie den öffentlichen Haushalten nur noch zusätzliche Lasten auf. Denn:

Auch ökonomisch ist die Belastung enorm: Allein die vorzeitigen Todesfälle durch alkoholbedingte Krebserkrankungen kosteten die EU 2018 rund 4,6 Milliarden Euro. Rechnet man Krankenhausaufenthalte, Unfälle, häusliche Gewalt und Produktivitätsverluste hinzu, summiert sich der Schaden auf Dutzende Milliarden Euro jährlich – Kosten, die letztlich alle Steuerzahler tragen.

Medscape, 15.10.2025

Wie nennt man sowas noch mal? Kontrproduktiv, glaube ich. Oder auch Eigentor.

Das strukturelle Problem ist nicht der Konsum, sondern die Orientierung

Ja, die Weinbranche steckt in einer Transformation. Aber das gilt auch für andere Wirtschaftszweige – und noch nie wurde ein Strukturwandel dadurch gemeistert, dass man die Nachfrage nach einem schädlichen Produkt künstlich stabilisiert.

Stattdessen wäre es Aufgabe der Politik, Innovationsanreize zu schaffen:

  • ökologische Umstellung,
  • alkoholfreie Produktlinien,
  • Diversifizierung regionaler Produktion,
  • und die Förderung neuer Geschäftsmodelle im Tourismus und in der Landwirtschaft.

Doch solche Ideen sind anstrengend. Ein Zuschuss zur Weinwerbung ist einfacher, schneller, symbolischer – und verantwortungsloser.

Die Politik hat die Pflicht, wirtschaftliche Realitäten zu gestalten – nicht, gesundheitliche Erkenntnisse zu verdrängen. Es ist legitim, Weinbau als Kulturerbe zu fördern. Aber es ist unverantwortlich, Alkoholkonsum als Wirtschaftsfaktor zu retten.

Ein Aspekt fehlt aber noch:

Medienkritik: Wenn Wissenschaft zur Meinungssache wird

Dass der Artikel über angeblich „übertriebene“ Warnungen vor Alkohol ausgerechnet aus der Wissenschaftsredaktion des SPIEGEL stammt, ist kein Nebenaspekt – es ist das eigentliche Problem. Denn hier wird ein medizinisches Thema mit hoher gesellschaftlicher Relevanz nicht auf der Basis von Evidenz vermittelt, sondern in eine Scheindebatte verwandelt.
Wissenschaftliche Erkenntnisse werden in den Raum der „Interpretationen“ verschoben, und wirtschaftliche Interessen erscheinen plötzlich als legitimer Gegenpol zur Forschung.

Dabei ist die Evidenzlage eindeutig:

Alkohol ist ein karzinogener, neurotoxischer und suchterzeugender Stoff, dessen Risiko keine unbedenkliche Dosis kennt.
Dass diese Erkenntnis in einem Wissenschaftsmedium relativiert wird – mit der impliziten Botschaft, die Gefahren seien „maßlos übertrieben“ – ist ein Rückschritt in der Gesundheitskommunikation.

Über weite Strecken präsentiert sich der Text des Spiegel mit ausgedehnten Passagen voller biochemischer Fachbegriffe, Stoffwechselpfade und epidemiologischer Anspielungen – alles beeindruckend, alles vordergründig wissenschaftlich. Nur: Relevante Erkenntnis entsteht daraus nicht.

Das erinnert fatal an Kommunikationsmuster, die man sonst eher aus pseudowissenschaftlichen Kontexten kennt: Komplexität ersetzt Argumentation, Fachsprache ersetzt Evidenz. So entsteht ein Tonfall, der Seriosität simuliert, wo eigentlich Klarheit gefragt wäre.

Dabei ist gute Wissenschaftskommunikation keine Geheimwissenschaft. Sie bedeutet, Evidenz so zu vermitteln, dass sie nachvollziehbar bleibt – verständlich, ohne vereinfachend zu werden.

Natürlich darf Journalismus Fragen stellen. Aber er darf nicht den epistemischen Boden verlassen, auf dem Wissenschaft überhaupt kommunizierbar ist. Wenn redaktionelle Verantwortung darin besteht, „beide Seiten“ zu zeigen, auch wenn eine davon wissenschaftlich längst widerlegt ist, wird Objektivität zur Pose. Das Ergebnis ist nicht Aufklärung, sondern Verunsicherung im Gewand der Ausgewogenheit.

Gerade die Wissenschaftsredaktion eines Leitmediums trägt die Pflicht, Differenzierung nicht mit Relativierung zu verwechseln. In Zeiten wachsender Desinformation ist das kein Detail – es ist eine Frage journalistischer Ethik.

Schlussgedanke

Dass Winzerinnen und Winzer wirtschaftlich unter Druck stehen, steht außer Frage – und das verdient Verständnis und auch Anteilnahme. Aber weder das eine noch das andere darf dazu führen, dass wissenschaftliche Erkenntnis in den Hintergrund rückt. Wenn Medien aus Empathie heraus unklare Botschaften senden, wird das Vertrauen in Wissenschaftskommunikation leise, aber wirksam untergraben.

Wahrhaftige Aufklärung ist selten bequem. Doch gerade deshalb bleibt sie unverzichtbar – besonders dann, wenn Emotion, Tradition und Wirtschaft aufeinanderprallen. Denn wer differenziert argumentiert, statt zu beschönigen, handelt nicht gegen die Gesellschaft, sondern in ihrem besten Interesse.