Warum die neue Wehrpflichtdebatte verfassungsrechtlich fragwürdig und historisch selbstvergessen ist

Was derzeit in Berlin diskutiert wird, ist nicht nur politisch irritierend, sondern verfassungsrechtlich verstörend: Eine neue Wehrpflicht, bei der per Losverfahren entschieden werden soll, wer zur Musterung eingeladen wird – und bei Bedarf auch verpflichtet werden kann. Dass diese Idee ernsthaft in Koalitionsgesprächen erwogen wurde, lässt tief blicken. Was machen die da eigentlich?
Die Wehrpflicht ist – neben Inhaftierung – die größtmögliche staatliche Zumutung, die einem Bürger auferlegt werden kann. Sie greift tief in die persönliche Freiheit ein, verlangt Lebenszeit, Gehorsam, körperliche Präsenz, bringt Risiken für Leib und Leben mit sich. Und gerade deshalb verlangt sie höchste Maßstäbe: an ihre Notwendigkeit, ihre Rechtfertigung, ihre Umsetzung. Ein Losverfahren in diesem Zusammenhang ist eine Absurdität, und mehr als das: ein verfassungsrechtliches NoGo.
Die Verteidigung, es gehe ja „nur“ um die Auslosung der Musterungsteilnahme, ist winkeladvokatisch. Denn die Musterung ist kein harmloser Fragebogen, sondern der erste Schritt in ein Verfahren, das mit Zwang enden kann. Wer hier mit Zufall operiert, ersetzt Rechtsstaatlichkeit durch Lotterie.
Die historische Debatte um Wehrgerechtigkeit – einst lange und intensiv geführt mit Ernsthaftigkeit und juristischer Tiefe – wird hier zur Fußnote degradiert. Damals war Wehrgerechtigkeit ein normativer Anspruch, heute scheint sie zur Statistik zu verkommen. Die politische Selbstvergessenheit ist frappierend.
Rückblick: Warum die Wehrpflicht 2011 fiel – und was man daraus hätte lernen können
Die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 war weder ein Geschenk an die jüngere Generation noch ein sicherheitspolitischer Leichtsinn, sondern Ergebnis einer sachlich fundierten Entscheidung. Die damalige Praxis – de facto längst zum Freiwilligendienst mutiert durch einfache Selbsterklärung nach Art. 4 GG – war strukturell nicht mehr tragfähig. Die Bundeswehr konnte mit kurzzeitig ausgebildeten Rekruten keine moderne Einsatzfähigkeit gewährleisten. Fachkreise waren sich einig: Eine Wehrpflicht mit gewehrtragenden Rekruten war militärisch sinnlos. Sie war teuer, ineffizient und auch verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen. Zumal die Bundeswehr sich längst von einer reinen Verteidigungsarmee zumindest teilweise zu einer Interventionsarmee verwandelt hatte.
Statt dessen war geplant, die Truppe entsprechend zu modernisieren und als professionelle Berufsarmee auszurichten. Dazu gab es die Vision, die Bundeswehr zu einem attraktiven Arbeitgeber für qualifizierte Fachkräfte zu machen. Doch weder die Umstrukturierungspläne noch diese Vision wurden konsequent verfolgt. Hier liegt der Kern des Versäumnisses, das der Bundeswehr ihren – teils ungerechtfertigten – schlechten Ruf eingebracht hat. Nicht in der Aussetzung der Wehrpflicht als solcher.
Die Aussetzung war also kein leichtfertiger Rückzug in eine angebliche sicherheitspolitische Hängematte, sondern ein Versuch, die Bundeswehr zukunftsfähig und rechtsstaatlich legitimiert zu gestalten. Dass man heute wieder über eine Wehrpflicht spricht – und das mit Losverfahren und Symbolpolitik – zeigt, wie sehr sich die Debatte von ihrer fachlichen Grundlage entfernt hat. Und von den eigenen Absichten und Perspektiven, die seinerzeit eine Rolle bei der Abschaffung der Wehrpflicht eine Rolle spielten. Hier nun wieder mit einer Wehrpflicht dagegen halten zu wollen, mit einem alten Pflaster auf einer alten Wunde, ist schon seltsam. Letztlich ist es ein Zirkelschluss.
Hoffnungsschimmer: Widerstand aus der SPD
Dass Verteidigungsminister Pistorius die Notbremse gezogen hat, ist kein parteipolitischer Affront, sondern ein Akt der verfassungsrechtlichen Vernunft. Auch andere Stimmen aus der SPD halten das Losverfahren für „zu weitgehend“ – eine Formulierung, die man ruhig schärfer fassen darf: Es ist ein verfassungsrechtliches No-Go.
Pistorius kritisierte, dass zentrale Elemente seines Gesetzentwurfs verändert wurden, bevor dieser überhaupt offiziell eingebracht war. Er lehnt ein Verfahren ab, das „Eignung und Motivation außen vor lässt“ – und steht damit nicht allein. Vielleicht ist ihm wirklich bewusst, dass Wehrpflicht kein Symbol im politischen Alltagsgeschäft ist, sondern eine ernsthafte staatliche Maßnahme – und dass sie nur dann legitim gerechtfertigt werden kann, wenn sie gerecht, sinnvoll und notwendig ist.
Fazit: Wenn die CDU den Kompass verliert
Dass ausgerechnet die CDU – einst stolz auf ihr Selbstverständnis als Rechtsstaats- und Verfassungspartei – nun ein Modell vorschlägt und etablieren will, das Freiheitsrechte per Losverfahren einschränken will, ist mehr als irritierend. Es ist ein Zeichen dafür, dass maßstabstreues Denken zunehmend politischem Opportunismus zum Opfer fällt.
Schon im Fall Brosius-Gersdorf offenbarte sich eine bedenkliche Auffassung von Gewaltenteilung und dem Verhältnis zwischen Legislative und Judikative. Ich hatte das schon damals als „staatspolitische Unreife“ bezeichnet. Doch was jetzt diskutiert wird, geht noch tiefer: Es betrifft den Kern rechtsstaatlicher Demokratie, nämlich den Umgang mit individuellen Freiheitsrechten und staatlicher Zwangsgewalt.
Wer ernsthaft erwägt, Bürgerrechte per Zufallsprinzip zu suspendieren, hat den Begriff der Rechtsstaatlichkeit offenbar nicht mehr als normative Leitlinie, sondern nur noch als rhetorische Kulisse verstanden. Die CDU, die sich einst auf das Grundgesetz berief, scheint heute bereit, dessen Prinzipien pragmatisch verfügbar zu machen.
Es ist höchste Zeit, dass sich jene Kräfte zu Wort melden, die wissen, was auf dem Spiel steht: Nicht die Wehrpflicht, sondern die Verfassungsbindung staatlichen Handelns. Man darf dankbar sein, dass in der SPD wenigstens noch ein rudimentärer Rest von verfassungskonformem Bewusstsein vorhanden zu sein scheint. Und die Diskussion, was denn nun konkret mit der Bundeswehr weiter geschehen soll und muss, ist ohne Zweifel dringlich geworden – was aber gerade keinen Aktionismus rechtfertigt.
Quellen: Zum Thema Wehrgerechtigkeit und den Gründen der damaligen Abschaffung der Wehrpflicht
Es gibt mehrere fundierte Quellen zur Wehrgerechtigkeitsdebatte und den fachlichen Hintergründen der Wehrpflicht-Aussetzung 2011. Sie zeigen, dass die Entscheidung keineswegs leichtfertig war, sondern aus sicherheits-, rechts- und personalpolitischen Gründen getroffen wurde.
Offizielle Dokumentation und Parlamentsdebatte
Bundestag (2011): Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht beschlossen
Webarchiv des Bundestags
Enthält die Debatte vom 24. März 2011 zur Wehrrechtsänderung. Verteidigungsminister Thomas de Maizière betonte, die Wehrpflicht sei „sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen“. Die Reform war Teil der Streitkräftereform und führte zur Einführung eines auch de jure freiwilligen Wehrdienstes.
Wikipedia-Artikel: Wehrgerechtigkeit
Bietet eine juristisch fundierte Übersicht zur Wehrgerechtigkeit als Ausprägung des Gleichheitssatzes (Art. 3 GG). Diskutiert die Innen- und Außenwirkung des Gebots und die historische Praxis, etwa frühere Losverfahren bei Überhang.
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): Wehrgerechtigkeit in der Verteidigungspolitik
Analysiert die strukturellen Probleme der Wehrpflicht, etwa den personellen Überhang durch geburtenstarke Jahrgänge und die faktische Ungleichbehandlung. Zeigt, wie diese Missstände zur Aussetzung der Wehrpflicht beitrugen.
Fachliche Argumente für die Aussetzung
Sicherheits- und Einsatzrealität: Die Bundeswehr konnte mit kurzzeitig ausgebildeten Rekruten keine einsatzfähige Truppe stellen. Die Anforderungen moderner Konflikte erforderten Spezialisierung und längere Ausbildungszeiten.
Personalstruktur: Es gab dauerhaft mehr Wehrpflichtige als benötigt. Die Auswahlpraxis führte zu Ungleichbehandlung und Kritik an der Wehrgerechtigkeit. Jedenfalls ist damals niemand auf die Idee eines Losverfahrens gekommen …
Rechtsstaatliche Bedenken: Die faktische Freiwilligkeit durch Art. 4 GG (Kriegsdienstverweigerung) untergrub die allgemeine Wehrpflicht. Die Einberufungspraxis wurde zunehmend als willkürlich empfunden.
Alles vergessen heute? Ganz offensichtlich bedarf es inzwischen mehr als einer Wiedereinführung einer Wehrpflicht, in welcher Gestalt auch immer.
„Wehrgerechtigkeit gibt es nicht, solange bei der Wehrpflicht geblieben wird.“ (Adalbert Weinstein in der FAZ schon am 15.03.1970)
 
			
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