Australien hat 2024 ein Gesetz verabschiedet, das die Nutzung sozialer Medien für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren faktisch verbieten soll. Plattformen müssen künftig „vernünftige Schritte“ unternehmen, um Minderjährigen den Zugang zu verwehren. Wer sich dem nicht fügt, riskiert empfindliche Geldstrafen. So weit, so populär.

Juristisch betrachtet aber ist das Gesetz ein Paradebeispiel für symbolische Gesetzgebung – also Normsetzung, die Handlungsfähigkeit simuliert, aber rechtsstaatliche Standards missachtet. Was in Australien Gesetz wird, taucht hierzulande bereits als Petition auf – ohne jede rechtsstaatliche Reflexion.

Unbestimmtheit als Prinzip

Schon der zentrale Maßstab – „reasonable steps“ – ist ein klassischer unbestimmter Rechtsbegriff ohne inhaltliche Füllung. Welche Maßnahmen sind gemeint? Altersverifikation per Ausweis? Gesichtserkennung? Verhaltenserkennung?

Der Gesetzgeber lässt all das offen. Damit delegiert er die eigentliche Regelungsarbeit an Plattformbetreiber und Behörden (einen sogenannten eSafety Commissioner) – eine Aushöhlung des Bestimmtheitsgebots, das in jedem funktionierenden Rechtsstaat elementar ist. Wer Pflichten begründet und Sanktionen androht, muss auch sagen, was genau verlangt wird. Selbst die Plattformen, um die es gehen soll, werden lediglich abstrakt umschrieben und nicht genannt.

Ein Gesetz, das sich mit bloßen Absichtserklärungen begnügt und sich zentral auf einen unbestimmten Rechtsbegriff stützt, ist keine Rechtsnorm, sondern politische Rhetorik in Paragrafenform.

Verhältnismäßigkeit und Wirklichkeit

Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz steht Kopf:

Das Ziel – Schutz Minderjähriger – ist legitim. Doch das gewählte Mittel ist weder geeignet noch erforderlich, um diesen Schutz zu gewährleisten.

Geeignetheit? Fraglich, denn jede technische Alterskontrolle lässt sich leicht umgehen. Erforderlichkeit? Nein, weil alternative, mildere Mittel – Aufklärung, verpflichtende Jugendschutzstandards, algorithmische Transparenz – längst auf dem Tisch liegen. Angemessenheit? Kaum. Die drohenden Eingriffe in Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und digitale Teilhabe wiegen deutlich schwerer als der hypothetische Nutzen.

Paternalismus statt Politik

Was als Kinderschutz verkauft wird, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als autoritäres Reflexhandeln: der Versuch, gesellschaftliche Komplexität durch Kontrolle zu zähmen. Doch soziale Medien sind heute Teil der Lebenswirklichkeit junger Menschen – Bildungsraum, öffentlicher Raum, sozialer Raum.

Ihnen den Zugang gesetzlich zu verwehren, ist nicht Schutz, sondern staatliche Entmündigung.

Dass es auch anders geht, zeigt sich im Alltag vieler Familien, in denen Mediennutzung nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen geregelt wird. Ich habe es selbst erlebt: Kinder, die ihre Handyzeiten kennen, die offen zeigen, was sie tun, und die wissen, dass Besuch Vorrang vor dem Smartphone hat. Nicht, weil sie müssen – sondern weil sie es als selbstverständlich empfinden. Medienkompetenz beginnt nicht mit Verboten, sondern mit Beziehung. Lernen ist die Orientierung an Vorbildern, das sollte man auch bei diesem Thema nicht vergessen.

Rechtsstaatlichkeit im digitalen Raum

Australien zeigt, wohin die politische Ungeduld mit dem Digitalen führen kann: zu Gesetzen, die technisch kaum umsetzbar, juristisch fragwürdig und gesellschaftlich rückwärtsgewandt sind. In gewisser Weise macht man damit das Internet erst zu einem „rechtsfreien Raum“. Durch unbestimmte Normen, die niemand klar auslegen kann, technische Anforderungen, die weder überprüfbar noch verhältnismäßig sind, delegierte Verantwortung, die demokratische Kontrolle unterläuft und Sanktionsdrohungen ohne klare Pflichten, die Willkür ermöglichen.

Wenn Kinderschutz zum Einfallstor für Überwachungsinfrastruktur wird, ist Wachsamkeit geboten. Rechtsstaatlichkeit beginnt dort, wo der Staat auch im digitalen Raum Maß hält – und endet dort, wo er Kontrolle mit Fürsorge verwechselt.

Nachsatz: Der Reflex des Rechtsstaats

Beim Lesen mancher Petitionen, die gerade hierzulande im Umlauf sind, spürt man, wie die juristische Vernunft innerlich zusammenzuckt.

Da werden Gesetze gefordert, als wären sie Zaubersprüche – man spricht sie aus, und das Problem verschwindet. Kein Gedanke an Durchsetzbarkeit, an Rechtsfolgen, an Freiheitsrechte. Hauptsache, das Signal stimmt.

Ich gestehe: Mein rechtsstaatlicher Sensor schlägt da sofort aus.

Ein Gesetz, das nicht definiert, was es verlangt, das keine Machbarkeits- oder Folgenabschätzung kennt, wäre in jedem anderen Kontext undenkbar. Nur beim Thema „Internet“ scheint alles erlaubt: Überwachung wird zur Fürsorge erklärt, Kontrolle zur Verantwortung, Freiheitsverzicht zum Fortschritt.

So etwas wie dieses allein von Absichten getragene australische Gesetz würde hierzulande keiner verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten.

Was sich viele offenbar nicht klar machen: Wer eine Infrastruktur schafft, um Alterskontrollen durchzusetzen, schafft zugleich ein Werkzeug zur Identitätsprüfung im gesamten digitalen Raum. Heute für Kinder – morgen für alle.

Man fragt sich, ob sich die Befürworter einer solchen Regelung wirklich vorstellen, was sie da fordern. Bei anderen Eingriffen in ihre Lebenswirklichkeit würden dieselben Menschen vermutlich laut schreien. Hier aber herrscht Schweigen, weil es ja „um das Gute“ geht. Womöglich sind es sogar die gleichen Leute, die gerade erleichtert aufatmen, dass auf EU-Ebene der dritte Anlauf zu einer anlasslosen digitalen Kommunikationskontrolle wohl gescheitert ist – und nicht merken, dass sie hier das gleiche Tor zu öffnen bereit sind. Für die „gute Sache“. Und siehe da: In Australien ist offenbar beabsichtigt, dass die „Plattformen“ die Altersverifizierung auf Sicht auf ALLE Bestandskonten ausdehnen sollen.

Doch das ist der Punkt, an dem Rechtsstaatlichkeit aufhört – wenn die guten Absichten die rechtlichen Prinzipien überrollen. Bei allem Verständnis für die „gute Sache“. Es ist kein Zufall, dass gerade beim Thema Kinderschutz die rechtsstaatliche Vernunft oft ins Hintertreffen gerät. Die moralische Aufladung ist so stark, dass Differenzierung kaum noch möglich scheint. Doch genau hier muss sie beginnen – denn wer im Namen des Guten Maß und Ziel verliert, öffnet Türen, die sich später nicht mehr schließen lassen.

Übrigens – es sind die Konservativen, die auch in diesem Fall wieder Interesse bekunden und den Petitionen wohlwollend gegenüber stehen. Die Ergebnisse der aktuellsten Petition werden niemand anderem als Ursula von der Leyen und Jens Spahn überreicht. Ob es hier darum geht, gescheiterten früheren Plänen wieder ein Hintertörchen zu öffnen? Man weiß es nicht …


Zum Weiterlesen bei ABC News: Australiens Verbot sozialer Medien für Kinder unter 16 Jahren ist gerade in Kraft getreten. Wie es funktionieren wird, bleibt ein Rätsel (englisch).