Analog meets digital (Bild von Gerd Altmann auf Pixabay)

Wunschzettel an die Bürokratiefee

Man möchte beinahe lachen, wenn man das Bild zum Ende der Regierungs-Klausurtagung sieht, mit dem die ZEIT ihren Fazitartikel schmückt: Die Spitzen der Regierung schreiten entschlossen durch den Garten, als hätten sie gerade die Republik neu verkabelt. Dabei haben sie bislang nur einen 80 Punkte langen Wunschzeittel mit Terminvorgaben verabschiedet, der „Modernisierungsagenda“ heißt. Darauf stehen Dinge wie „digitale KFZ-Anmeldung“, „KI-gestützte Bürgerdienste“ und „Bürokratiemeldeportal“. Man hat sich viel vorgenommen. Man glaubt, viel erreicht zu haben. Man hat sogar Fristen gesetzt. Das klingt nach Fortschritt – wäre da nicht die Mechanik.

Denn die Mechanik, das sind die Schnittstellen, die Zuständigkeiten, die föderalen Verästelungen, die kommunalen Eigenheiten, die Legacy-Systeme und die Datenschutzbeauftragten mit Hang zur Paragrafenlyrik. Wer glaubt, man könne all das mit einem Wunschzettel überwinden, glaubt auch an die Bürokratiefee.

Die Fachleute wissen es besser. Sie wissen, dass man keine Prozesse digitalisieren kann, die analog nicht funktionieren – dazu braucht es Umstrukturierung der Vorgaben. Sie wissen, dass man keine Kfz-Zulassungsplakette aus dem Browser bekommt. Und die Unternehmen wissen all das auch. Sie wissen, dass man in Deutschland keine gordischen Knoten durchschlägt – man dokumentiert sie, reicht sie zur Prüfung ein und wartet auf die Genehmigung zur Entwirrung. Was sich dabei auch zeigt: Entbürokratisierung und Digitalisierung sind in gewissem Maße die zwei Seiten der gleichen Medaille.

Vielleicht fangen wir hierzulande doch langsam an, uns zu fragen, ob Digitalisierung vielleicht doch mehr ist als ein PDF im Netz, womöglich sogar am Bildschirm ausfüllbar und mit Upload-Funktion.

„Sie haben jetzt einen PC am Arbeitsplatz. Nun machen Sie mal!“

So klang es Mitte der 1990er Jahre, als „der Computer“ in Behörden Einzug hielt. Ein Satz, der bis heute nachhallt — nicht als Fortschritt, sondern als Symptom. Denn er zeigt, wie tief das Missverständnis sitzt: Man glaubt, mit Technik allein ließe sich Wandel erzwingen. Als sei Digitalisierung ein Gerät, kein Prozess. Ein Bildschirm, kein Systemumbau.

Diese Haltung prägt bis heute die großen politischen Klausuren. Man versammelt sich, formuliert hehre Ziele, verteilt Hebelprojekte und setzt Fristen. Aber die Tiefenstruktur — die Mechanik der Verwaltung, das Geflecht von Gesetzen, Verordnungen und Ausführungsbstimmungen, die föderalen Schnittstellen, die vertraglichen Bindungen an Softwarehäuser — bleibt außen vor. Sie ist zu sperrig, zu komplex, zu unbequem für die Inszenierung von Tatkraft.

Und ja, es gibt sie: diejenigen, die darum wissen. Die Fachleute, die Verwaltungspraktiker, die Realisten in den Ministerien. Aber sie werden den Teufel tun, die Reformeuphorie zu bremsen. Denn wer in der Klausur den Finger hebt und sagt: „Das geht so nicht“, wird schnell zum Spielverderber. Also nickt man, schreibt Wunschzettel, und hofft, dass die Realität sich schon irgendwie fügt.

Doch genau hier muss die Kritik ansetzen. Nicht um zu resignieren, sondern um aufzurütteln. Um die Betulichkeit zu vertreiben, die sich hinter wohlklingenden Agenden versteckt. Digitalisierung ist kein Sammeln von Daten in Online-Formularen. Sie ist Prozessgestaltung. Und wer Prozesse gestalten will, muss die Mechanik kennen — nicht nur die Vision.

Vielleicht ist es Zeit, den Top-Down-Wunschzettel zu zerreißen und stattdessen eine Gebrauchsanleitung für föderale Realität zu schreiben. Oder besser noch: die Fachleute einfach machen zu lassen und ihnen top-down zu vermitteln, dass man auch bereit sein würde, heilige Kühe zu schlachten und Tabus über Bord zu werfen. Denn wer die Mechanik nicht kennt, sollte besser nicht am Motor schrauben.

Wunschprojekte im Realitätscheck

Die Online-KFZ-Anmeldung ist das Paradebeispiel. Sie steht auf der Reformagenda wie ein Leuchtturm der Digitalisierung. Doch wer genauer hinschaut, erkennt: Der Leuchtturm steht auf zwei Inseln. Die Anmeldung erfolgt beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg. Das Kennzeichen samt Plakette gibt’s bei der kommunalen Zulassungsstelle. Zwei Systeme, zwei Zuständigkeiten, keine Schnittstelle. Digitalisierung? Ja. Prozessgestaltung? Nein. Hier wäre mal ein Punkt, an dem man heilige Kühe in den Fokus nehmen könnte: Muss die Plakette am Kennzeichenschild äußerlich sichtbar sein? Gehts auch mit einer Windschutzscheiben-Plakette? Braucht es überhaupt eine Plakette oder reicht ein Vermerk in den Fahrzeugpapieren? DIe Diskussionen dazu würden bestimmt interessant … und das ist nur ein ziemlich kleines Beispiel.

Und das ist kein Einzelfall. Die Agenda verspricht auch:

  • KI-gestützte Bürgerportale – als ob künstliche Intelligenz die föderale Komplexität einfach wegmoderieren könnte.
  • Direktauszahlungen für Bürger – ohne zu klären, wie die Daten zwischen Bund, Ländern und Kommunen fließen sollen. Es bedurfte schon einer früheren Grundgesetzänderung, um Mittel aus Invesitionsprogrammen auch nur über die Länder an die Kommunen weiterleiten zu können. Hier müsste man tief in die föderale Struktur eingreifen, um nicht noch mehr heilloses Flickwerk zu schaffen – und das gabs noch nie.
  • Work-and-Stay-Agenturen für Fachkräfte – als ob man mit einer Agentur die strukturellen Hindernisse der Anerkennung und Integration beseitigen könnte.
  • Bürokratiemeldeportale – damit Bürger ihre Frustration direkt ins System einspeisen können, das sie verursacht hat. Man traut offenbar den Mitarbeitern an der Front nichts zu – aber genau da sitzt das Fachwissen. Es wird nur nie sinnvoll abgefragt.

All diese Projekte eint ein Muster: Sie klingen modern, sind aber nicht anschlussfähig. Sie ignorieren die Mechanik, das Zusammenwirken der realen Voraussetzungen und Hindernisse. Sie tun so, als könne man mit einem politischen Federstrich Prozesse umgestalten, die über Jahrzehnte in föderalen, technischen und vertraglichen Strukturen verkrustet sind.

Gerade im Ruhrgebiet, meiner persönlichen und beruflichen Heimat, zeigt sich das exemplarisch. Dort hat man es nicht einmal geschafft, unter Großstädten wie Essen, Dortmund und Bochum analoge oder digitale Verfahren zu vereinheitlichen. Warum? Weil jede Kommune eigene Ablaufstrukturen hat, andere Softwarelösungen nutzt, eigene Dienstleister bindet, eigene Investitionen schützen muss. Digitalisierung wird zur Frage der Lizenzmodelle, nicht der Bürgerfreundlichkeit.


Die Bundesregierung träumt von Hebelprojekten. Die Fachleute träumen von Zuständigkeitsklärung und Entflechtung von Regelungssystemen. Und die Bürger? Die träumen von einem Portal, das nicht schon bei der Eingabe der Postleitzahl kapituliert. Wer wirklich etwas ändern will, müsste sich fragen, ob die föderale Struktur überhaupt digitalisierungsfähig ist. Aber das wäre ja ernsthaft. Und ernsthaft ist gerade nicht en vogue.

In Estland hat man die Fachleute machen lassen. In Deutschland lässt man die Fachleute erklären, warum es nicht geht. Und dann beschließt man trotzdem etwas. Mit Plakette. Ohne Ahnung.


Gesetzblatt mit Quelltext – eine Anekdote

Ein älterer Kollege, von IT zumindest gestreift, schlug Anfang der 2000er Jahre in einem Arbeitskreis beim NRW-Innenministerium vor, man möge doch künftig mit jedem neuen Gesetz gleich den nötigen Programmcode im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlichen. Der Saal kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.

Und doch war der Vorschlag seiner Zeit voraus. Denn er berührte etwas, das bis heute fehlt: die Vorstellung, dass Digitalisierung nicht nur eine technische, sondern eine strukturelle Herausforderung ist. Und umgekehrt: dass Rechtsetzung in Zeiten der Digitalisierung die Operationalisierung der Vorschrift mitdenken muss. Dass man nicht einfach neue Regeln formulieren kann, ohne zu bedenken, wie sie in Software, Schnittstellen und Verwaltungsprozesse übersetzt werden sollen. Viele Bürger — und wohl auch viele Politiker — stellen sich Digitalisierung immer noch genau so vor: Man beschließt etwas, und irgendwo wird es schon programmiert.

Aber so funktioniert es nicht mehr. Wer Digitalisierung ernst meint, muss die Prozesse mitdenken. Muss wissen, wie Daten fließen, wer zuständig ist, welche Systeme miteinander sprechen können — und welche nicht. Muss verstehen, dass föderale Strukturen, vertragliche Bindungen und technische Altlasten nicht durch politische Willensbekundung verschwinden.

Was zu tun wäre

Was also müsste die Absichten zu Entbürokratisierung und Digitalisierung (die, daran zweifle ich nicht, ernst gemeint sind), auf der Metaebene zunächst stützen? Vor allem dies:

  • Prozesse zuerst: Digitalisierung beginnt nicht mit dem Formular, sondern mit der Frage: Wie läuft der Vorgang? Wer ist beteiligt? Wo sind die Brüche?
  • Föderale Architektur überdenken: Nicht abschaffen, aber neu ordnen. Zuständigkeiten müssen klar, Schnittstellen verbindlich, Standards einheitlich sein.
  • Fachleute aus der IT zuammen mit denen der Verwaltungspraxis entscheiden lassen: Nicht als Alibi, sondern als Taktgeber. Wer die Mechanik kennt, muss die Richtung vorgeben — nicht die PR-Abteilung.
  • Technik als Folge, nicht als Anfang: Erst wenn klar ist, was geschehen soll, kann man entscheiden, wie es technisch umgesetzt wird. Nicht umgekehrt. Eine jahrzehntealte Selbstverständlichkeit, ja, aber nach wie vor viel zu oft nicht gelebt.
  • Verträge und Systeme entflechten: Kommunen brauchen Spielräume, um sich aus veralteten IT-Strukturen zu lösen und gemeinsam Standards zu entwickeln.

Baltikum: Kein Wunschzettel, sondern Architekturplan

Natürlich, die baltischen Staaten, die heute – allen voran Estland – als Wunderland der Digitalisierung gelten, hatten einen Vorteil: Sie konnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei Null anfangen. Keine Altlasten, keine föderalen Verästelungen, keine jahrzehntelangen IT-Verträge mit proprietären Systemen. Aber sie haben diesen Vorteil nicht verspielt — sie haben ihn genutzt. Und es sind nicht nur die baltischen Staaten – auch Kasachstan in Zentralasien hat eine beeindruckende Digitalisierungsstrategie umgesetzt.

Überall dort wurde Digitalisierung nicht als politisches Prestigeprojekt gedacht, sondern als prozessuale Verwaltungsreform. Man hat die Fachleute machen lassen. Die Priorisierung, die technische Umsetzung, die Prozessgestaltung — all das lag in den Händen derjenigen, die wussten, wie Verwaltung funktioniert. Und siehe da: Es klappt.

In Deutschland hingegen glaubt man immer noch irgendwie, mit einem Wunschzettel und ein paar Klausurtagungen könne man die Republik modernisieren. Man denkt in Projektzielen, nicht in Strukturen. Man delegiert nicht, sondern inszeniert. Und so bleibt die Digitalisierung ein Versprechen, das an der Realität zerschellt — während Estland längst zeigt, wie es gehen kann.

Keine Resignation, sondern ein Plädoyer für Aufbruch

Bei all der Kritik an den digitalen Wunschzetteln und der föderalen Mauer möchte ich eines ganz klarstellen: Dies ist kein Aufruf zur Resignation. Ganz im Gegenteil. Es geht darum, die allzu betuliche Euphorie aus den Klausurtagungen zu vertreiben — jene Veranstaltungen, in denen man sich an hehren Zielen festklammert, während der Blick auf die Wege dorthin schmerzlich fehlt.

Wir brauchen Mut zur Radikalität — Mut, bestehende Strukturen zu hinterfragen, über Zuständigkeiten und Machtverhältnisse zu debattieren, technische und administrative Realitäten ernst zu nehmen. Entbürokratisierung und Digitalisierung dürfen nicht zum Ritual verkommen, bei dem man Symbole tauscht und Formulare digitalisiert, ohne die zugrundeliegenden Prozesse zu gestalten.
Stattdessen sollten wir den Sachverstand der Fachleute respektieren und Raum geben. Wir müssen die Prozesse so umbauen, dass sie wirklich funktionieren — nicht nur digital aussehen. Nur so können wir die Bürokratie endlich mit ihrer eigenen Logik konfrontieren und das verstaubte Muster aus Routine und Placebo durchbrechen.


Postscriptum: Bürokratie hat Gründe – nicht nur Symptome

Bei aller berechtigten Kritik an überkomplexen Abläufen und dysfunktionalen Schnittstellen sei angemerkt: Bürokratie ist ja nicht per se Unsinn. Viele Regelungen haben Schutzfunktionen, die man ungern missen würde — etwa in der Lebensmittelaufsicht, im Arbeitsschutz oder bei der Arzneimittelzulassung. Andere dienen der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit: Die amtliche Meldepflicht, der Personalausweis, das Katasterwesen – sie sind keine Schikanen, sondern strukturierende Elemente eines modernen Gemeinwesens.
Was in der Debatte um Entbürokratisierung oft untergeht, ist die Unterscheidung zwischen Regelungsinhalt und Regelungsablauf.

Es geht seltener um die Inhalte. Es geht um die Prozesse, mit denen sie abgebildet werden. Um die Schnittstellen, die sie verkomplizieren. Und um die digitale Architektur, die sie entweder entlastet oder weiter verheddert.

Und nicht jeder Ruf nach Bürokratieabbau ist ein Ruf nach besserer Verwaltung. Der Begriff vom „schlanken Staat“ wird gern bemüht — doch oft nicht im Sinne effizienter Abläufe, sondern im Sinne der Abschaffung von Regeln, die zwar dem Gemeinwohl dienen, aber partikularen Interessen im Weg stehen. Der „schlanke Staat“ ist zumeist ein neoliberales Schlagwort.

Wer Lebensmittelaufsicht, Umweltstandards oder soziale Meldepflichten als „bürokratisch“ diffamiert, meint nicht selten: „Ich möchte weniger Kontrolle, nicht mehr Effizienz.“

Bürokratiekritik braucht also Unterscheidungskraft: zwischen überflüssiger Prozesslast und notwendiger Regelstruktur. Zwischen digitaler Vereinfachung und politischer Deregulierung. Denn ein Staat, der sich nur „schlank“ macht, verliert schnell seine Standfestigkeit.