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Einleitung: Die rhetorische Provokation

Es gibt Sätze, die tun weh. Nicht, weil sie klug sind, sondern weil sie die Wirklichkeit verzerren und dabei so selbstgewiss daherkommen, dass man sich fragt, ob ihre Urheber sie tatsächlich glauben. Der Satz „Links ist Geschichte“, öffentlich geäußert von Friedrich Merz und Markus Söder, gehört in diese Kategorie. Er ist nicht nur falsch – er ist demagogisch, geschichtsvergessen und ethisch verstörend.

Denn was hier als Diagnose verkauft wird, ist in Wahrheit eine Abwertung der Idee von Gerechtigkeit. Nicht einer Partei, nicht eines Lagers – sondern eines politischen Prinzips, das in der Bundesrepublik nie hegemonial war, sondern in seinen Ansätzen immer wieder gegen strukturelle Widerstände verteidigt werden musste.

Ich selbst habe mich nie als „links“ im Lagersinne verstanden. Vielleicht als linksliberal, sicher als Humanist. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: Ich denke nach, seit langem, in was für einem Land ich lebe, in was für einem ich leben möchte und was für ein Land einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung wie der unseres Grundgesetzes würdig wäre. Und aus diesem Nachdenken folgt für mich eine klare Einsicht:
Eine republikanisch-demokratische Gemeinschaft kann nur auf dem Prinzip von Gerechtigkeit aufgebaut sein.

Das wussten schon die klassischen Staatsrechtler – Montesquieu, Rousseau, später auch Kant. Ein republikanisch-demokratisches Gemeinwesen, das sich nicht einem umfassenden Gerechtigkeitsprinzip verpflichtet fühlt, wird in sich scheitern. Es verliert seine Legitimität, seine Bindekraft, seine Würde.

Und genau deshalb führen mich meine Überlegungen zu praktischen politischen Gerechtigkeitsfragen – Fragen, die mit „linken“ Positionen viel gemeinsam haben, ohne dass ich mich einem Lager zuordnen müsste. Denn Gerechtigkeit ist kein Etikett. Sie ist ein Maßstab. Und wer ihn verwirft, verwirft die Demokratie selbst.

Die Realität: Was nie war, kann nicht Geschichte sein

Wer behauptet, „Links sei Geschichte“, suggeriert, es habe eine Phase gegeben, in der linke Politik die Bundesrepublik geprägt habe – und diese sei nun vorbei. Doch das ist eine historische Fiktion. Die Bundesrepublik war von Beginn an ein Staat mit marktwirtschaftlicher Grundstruktur, getragen von konservativen Mehrheiten und einer Sozialdemokratie, die – wenn sie regierte – stets unter dem Druck stand, sich wirtschaftspolitisch anzupassen und sozialpolitisch zu mäßigen.

Willy Brandt war eine Ausnahme. Seine Kanzlerschaft brachte Reformimpulse, gesellschaftliche Öffnung, Bildungsexpansion. Aber selbst diese Phase war nicht einmal im Ansatz so etwas wie eine linke Systemtransformation, sondern ein vorsichtiger Modernisierungsschub innerhalb bestehender Strukturen.

Helmut Schmidt, oft als nüchterner Pragmatiker beschrieben, hatte klare Auffassungen zur sozialen Frage, er hielt deren Lösung im Sinne einer Gerechtigkeitspolitik für die Grundlage der Demokratie. Doch seine Kanzlerschaft war außen- und wirtschaftspolitisch geprägt – innenpolitisch blieb vieles liegen. Die SPD unter Schröder schließlich verabschiedete sich mit der Agenda 2010 von sozialstaatlichen Prinzipien und wurde zum Vollstrecker neoliberaler Reformen.

Die Union regierte in der Summe bei weitem am längsten – und prägte die Republik mit einer Politik, die Privateigentum, Marktlogik und Leistungsindividualismus zur Norm erhob. Linke Politik war nie hegemonial. Sie war Randerscheinung, Korrektiv, gelegentliches Aufbegehren – aber nie Struktur.

Und nun scheint eine Phase erreicht, in der konservative Kreise geradezu bejubeln, dass sie – unbehelligt von „links“, das mit der auch stets neoliberal ausgebremsten „Ampel“ angeblich vorbei ist – ihre „konservative“ Politik durchsetzen können. Eine Politik, die in Wahrheit Gerechtigkeitsprinzipien tief verletzt und systematisch zugunsten bestimmter Schichten wirkt. Das mit einem „Links ist Geschichte“ zu krönen, ist nicht nur eine rhetorische Setzung – es ist eine Verhöhnung. Und für mich persönlich: eine Provokation.

Konkrete Politik – und ihre Gerechtigkeitsvergessenheit

Die politische Realität der Bundesrepublik zeigt deutlich, dass linke Politik nie strukturell durchgesetzt wurde. Und die Folgen dieser strukturellen Nicht-Linken Politik sind sichtbar – in Entscheidungen, die das Prinzip der Gerechtigkeit nicht nur ignorieren, sondern systematisch unterlaufen.

Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die Privatisierung des Krankenhauswesens. Was einst als Entlastung öffentlicher Haushalte verkauft wurde, hat sich längst als Umverteilungsmechanismus etabliert. Heute fließen Versichertenbeiträge und Steuergelder nicht mehr primär in Versorgung und Personal, sondern in Renditen für Shareholder. Hätten damit nicht die öffentlichen Träger weitaus mehr für das System bewirken können? Pflegekräfte arbeiten unter Druck, Kliniken werden nach betriebswirtschaftlichen Kennzahlen geführt, und die öffentliche Daseinsvorsorge wird zur Ware. Eine Politik, die das zulässt, ist nicht „links“ – sie ist Ausdruck eines ökonomisierten Menschenbildes.

Auch im Bildungssystem zeigt sich die Erosion des Gerechtigkeitsprinzips. Ich selbst konnte als Arbeiterkind dank der Reformimpulse der ersten Großen Koalition das Gymnasium besuchen – ein seltener Moment der Öffnung. Heute hingegen gehört Deutschland laut OECD zu den Ländern mit der geringsten sozialen Durchlässigkeit. Der familiäre Hintergrund entscheidet maßgeblich über Bildungschancen, die Kompetenzunterschiede zwischen Hoch- und Geringqualifizierten sind extrem, und die Vorstellung von Bildung als Aufstiegschance ist für viele zur Illusion geworden. Das Versprechen von Chancengleichheit wurde nicht eingelöst – es wurde zurückgenommen.

Und schließlich die Steuerpolitik: Seit Jahrzehnten stagnieren die Masseneinkommen, während Vermögens- und Kapitaleinkommen wachsen. Die Steuerlast verlagert sich zunehmend auf indirekte Abgaben, während hohe Einkommen und Vermögen entlastet werden. Eine echte Umverteilung hat nie stattgefunden – weder in der Bundesrepublik noch im „New Deal“ der USA, wie selbst Henry Morgenthau Jr., Finanzminister unter Franklin D. Roosevelt, einräumte. Er erkannte, dass der von ihm mitverantwortete „New Deal“ wohl das Schlimmste, die komplette Verelendung der Working Class, verhindern konnte, aber mehr nicht: Der gesellschaftliche Transformationsprozess bleib aus. Bis heute. Die Reichen blieben reich, die Armen arm – weil das zentrale Instrument, die Steuergesetzgebung, unangetastet blieb.

Diese Beispiele sind keine Ausnahmen. Sie sind paradigmatische Symptome einer Politik, die sich vom Gedanken der Gerechtigkeit entfernt hat – und damit von ihrem demokratischen Fundament.

Vom Menschenbild zur Verwertungslogik – Die stille Konditionierung

Die politischen Entwicklungen, die ich hier skizziert habe, sind nicht nur Ausdruck einer bestimmten ökonomischen Ordnung. Sie sind Spiegel eines sich wandelnden Menschenbildes.

In meiner Arbeit über „Arbeit und Menschenbild“ habe ich bereits ausgeführt, wie sich das humanistisch geprägte Verständnis des Menschen als Subjekt mit Würde und Teilhaberecht schleichend verwandelt hat – hin zu einer Logik der Verwertbarkeit. Der Mensch wird nicht mehr als Träger von Rechten und Bedürfnissen gesehen, sondern als Kostenfaktor, als Effizienzgröße, als Ressource im System.

Diese Transformation geschieht nicht abrupt. Sie geschieht durch Konditionierung:

  • durch die ständige Wiederholung von Sachzwangrhetorik,
  • durch die Normalisierung von Ungleichheit,
  • durch die Entwertung politischer Gerechtigkeitsforderungen als „ideologisch“ oder „überholt“.

Die Menschen gewöhnen sich daran. Sie akzeptieren, dass Pflegekräfte überlastet sind, dass Bildungschancen ungleich verteilt sind, dass Reichtum sich konzentriert. Nicht, weil sie es gutheißen – sondern weil ihnen die Vorstellung einer Alternative abtrainiert wurde.

Und genau hier wird die Parole „Links ist Geschichte“ zur anthropologischen Provokation. Sie sagt nicht nur: „Diese Politik ist vorbei.“ Sie sagt: „Diese Vorstellung vom Menschen ist vorbei.“ Und das ist für mich – als Humanist – nicht hinnehmbar.

Die schiefe Ebene – Von der Verdrängung der Gerechtigkeit zur Akzeptanz der Ungleichheit

Wer den Gedanken der Gerechtigkeit aus dem demokratischen Diskurs verdrängt, öffnet nicht nur ökonomischen Ungleichheiten Tür und Tor – er entkernt das republikanische Versprechen selbst. Denn Gerechtigkeit ist nicht Beiwerk, sondern konstitutives Prinzip jeder Demokratie. Sie ist das, was die Schwachen schützt, die Teilhabe sichert, die Macht begrenzt.

Wenn nun öffentlich behauptet wird, „Links sei Geschichte“, dann ist das mehr als eine politische Positionsbestimmung. Es ist eine kulturelle Konditionierung: Ausdruck einer schleichende Gewöhnung daran, dass soziale Ungleichheit normal, ja notwendig sei. Dass Umverteilung nicht mehr diskutiert, sondern als Zumutung empfunden wird. Dass Solidarität durch Standortlogik ersetzt wird. Dass der Grundgedanke der Demokratie unter „Sozialromantik“ abgelegt wird.

Diese Konditionierung ist gefährlich. Denn sie bereitet den Boden für rechte bis rechtsextreme Ideologien, die definitionsgemäß elitär sind – nicht im Sinne von Bildung oder Verantwortung, sondern im Sinne einer Ideologie der Ungleichheit. Wer Menschen darauf vorbereitet, dass Gerechtigkeit passé ist, bereitet sie auch darauf vor, Ungleichheit zu akzeptieren – als Naturgesetz, als Leistungsgerechtigkeit, als Ordnung der Dinge.

Das ist die schiefe Ebene. Und sie führt – historisch wie aktuell – nicht zur Stabilität, sondern zur Radikalisierung. Wer das nicht sehen will, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Und wer es sieht, darf nicht schweigen.

Ein Appell an die Bürgerlichkeit des Denkens

Was bleibt, ist ein Appell. Nicht an ein Lager, nicht an eine Ideologie – sondern an die Bürgerlichkeit des Denkens, an die Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Erinnerung, zur Verantwortung.

Wir müssen uns nicht konditionieren lassen. Nicht auf Verwertungslogik. Nicht auf die schleichende Akzeptanz von nicht zu rechtfertigender Ungleichheit. Nicht auf die Vorstellung, dass Gerechtigkeit ein Relikt sei, das man sich in besseren Zeiten vielleicht leisten konnte, heute aber nicht mehr „vermitteln“ könne.

Demokratie lebt nicht von Sachzwängen, sondern von Haltung. Und sie stirbt nicht an Streit, sondern an Gleichgültigkeit. Wer sich heute einreden lässt, dass „links“ vorbei sei, lässt sich einreden, dass Gerechtigkeit verzichtbar sei. Und bereitet damit – oft ungewollt – den Boden für Ideologien, die den Menschen nicht als gleichwertiges Subjekt, sondern als Glied einer Hierarchie betrachten.

Deshalb: Widerspruch ist Bürgerpflicht. Nicht laut, nicht schrill, aber klar. Wer denkt, wer fühlt, wer Verantwortung kennt, darf nicht schweigen, wenn Sprache zur Vernebelung wird und Politik zur Verwaltung von Ungerechtigkeit.

Und deshalb erhebe ich meine Stimme. Nicht weil ich muss. Sondern weil ich es mir – und dieser Republik – schuldig bin.