Zu Nikolaus Blomes Kommentar bei SPON am 20.10.2025

Nikolaus Blome hat wieder einmal recht – und liegt zugleich völlig daneben.
In seinem neuen SPIEGEL-Kommentar über die unüberschaubare Vielfalt deutscher Sozialleistungen benennt er ein echtes Problem: den Dschungel aus Programmen, Anspruchsgrundlagen, Nachweispflichten und Förderinstrumenten unter dem Sammelbegriff „Sozialstaat“, der längst niemandem mehr so nützt, wie es erforderlich wäre – weder den Berechtigten noch denen, die ihn verwalten sollen.
Aber dann folgt der Fehltritt: Blome erklärt diesen Zustand mit dem gewohnten Seitenhieb auf „die Beamten“, die angeblich alles verkomplizieren.
Ein Griff ins Klischeeregal – und eine Verdrehung der Realität.
Denn kein Mensch stöhnt mehr unter dieser Vielfalt als die Beamtinnen und Beamten (die mindestens im gleichen Verhältnis Angestellte sind) selbst.
Wer einmal einen Tag in einer Arbeitsagentur oder einem Sozialamt verbringt, weiß, wovon die Rede ist: Täglich neue Weisungen, Rundschreiben, Gerichtsurteile, Auslegungshinweise, softwarebedingte Detailänderungen. In manchen Bereichen der Jobcenter landet tatsächlich jeden Tag eine Art „Rote-Hand-Brief“ aus der Zentrale in Nürnberg oder Berlin im digitalen Postfach – mit neuen Formulierungen zu Paragraf X, Voraussetzungen Y oder Berechnungsgrund Z. Ausfluss einer nicht abreißenden Flut von Neuregelungen, Gerichtsurteilen, Auflösung von Widersprüchlichkeiten und dergleichen noch viel mehr.
Das ist kein Ausdruck von Bürokratenwillkür.
Das ist die Konsequenz aus einem politischen Dauerreflex, für jedes erkannte Einzelschicksal eine neue, punktgenaue Regelung zu schaffen – statt das System in seiner Gesamtheit verständlich und tragfähig zu gestalten.
Wie grotesk das werden kann, zeigt das sogenannte „Teilhabepaket“:
Es sollte Kindern und Jugendlichen aus ALG-II-Haushalten ermöglichen, am kulturellen und sozialen Leben teilzunehmen – also etwa Sportvereine, Musikunterricht oder Ausflüge zu finanzieren.
Ein hehres Ziel.
Nun enthielt ja die Absicht, so etwas einzuführen, schon mal gleich ein fundamentales Eingeständnis: dass die Regelsätze allein eben nicht für eine menschenwürdige Teilhabe ausreichen. Das aber war weniger Gegenstand der Diskussion. Im Vordergrund stand vielmehr, wie man verhindern könne, dass „die Eltern sich davon Zigaretten und Bier kaufen“. Und so erfand man – innerhalb des ALG-II-Systems! – ein eigenes Antrags- und Nachweisverfahren. 
Für ein paar Euro.
Eine Mutter sagte mir einmal, halb lachend, halb verzweifelt:
„Bis ich das alles beantragt habe, sind die paar Euro für die Busfahrten zum Jobcenter längst weg.“
Bis heute haben die Jobcenter Mühe, die etatisierten Mittel für die Teilhabe überhaupt zu verausgaben, wie es so schön im Haushaltsdeutsch heißt. Warum wohl?
Solche Regelungen verschleißen nicht nur die Betroffenen – sie verschleißen auch die, die helfen wollen.
Ich habe in meiner aktiven Dienstzeit erlebt, wie der Idealismus der Beschäftigten in den Jobcentern langsam verbrannte.
Viele waren jung, engagiert, voller Überzeugung, als sie anfingen.
Jahre später sah man sie ausgelaugt, zynisch, mit leerem Blick – nicht, weil sie den Menschen nicht helfen wollten, sondern weil sie es im Korsett der Vorgaben oft nicht konnten.
Ein Kollege sagte mir einmal, er habe sich Empathie „abgewöhnt“, um überhaupt durchzuhalten.
Ein anderer sagte mir ehrlich erschrocken, er habe erkennen müssen, dass er sich zum Zyniker gewandelt habe. Er rettete sich in die Frühpensionierung, starb kurz darauf an einem Herzinfarkt.
So entstehen Opfer eines Systems, das seine eigenen Helfer zerreibt – und dann noch behauptet, sie seien das Problem.
Dass Blome mit der Diagnose recht hat, macht seine Erklärung nicht richtiger. Der Sozialstaat leidet nicht an „den Beamten“, sondern an politischer Kleinteiligkeit. An einem ständigen Nachsteuern, das sich für Gestaltung hält. Und an der Angst, einfache und verlässliche Regeln könnten als ungerecht empfunden werden.
Der Apparat funktioniert trotzdem – weil Menschen ihn tragen, die versuchen, Vernunft und Mitgefühl im Labyrinth der Vorschriften zu bewahren.
Diese Menschen verdienen Respekt.
Nicht Hohn aus der Kommentarspalte.
 
			
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