Wie das Strafrecht gegen die Versuchung der Symbolpolitik verteidigt werden muss

I. Die Strafrechtsreformen: Abkehr von Rache, Hinwendung zu Maß
Das deutsche Strafrecht hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Die Reformen von 1969 und 1975 waren keine bloßen Modernisierungen, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels:
- Weg von der Vergeltungsidee,
- hin zu einem rationalen, schuldangemessenen, rechtsstaatlich kontrollierten Strafsystem.
Strafe sollte nicht länger Ausdruck moralischer Empörung sein, sondern Ergebnis eines strukturierten Verfahrens, das individuelle Schuld differenziert und Maß hält. Die Reformen waren eine Antwort auf autoritäre Straftraditionen – und ein Bekenntnis zur demokratischen Rechtskultur.
Doch diese Errungenschaft ist fragil. Sie lebt von der Bereitschaft, Maß zu halten – auch wenn die Öffentlichkeit nach Härte ruft. Und sie lebt von der Fähigkeit, zwischen Strafbedürfnis und Strafrecht zu unterscheiden. All das war seinerzeit Gegenstand einer durchaus intensiven öffentlichen Debatte, scheint aber heute nur noch wenig präsent zu sein. Auch deshalb ist dieser Beitrag notwendig.
II. Strafrecht als pädagogische Struktur – Maß schafft Respekt
Die Strafrechtsreformen haben nicht nur das Recht modernisiert – sie haben auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen neu geordnet. Wer versteht, dass Strafe nicht Rache ist, sondern strukturierte Antwort auf individuelle Schuld, beginnt, das Recht nicht als Machtmittel, sondern als Maßstab für Gerechtigkeit zu sehen.
In der Lehre – ob an Universitäten oder in der öffentlichen Bildung – zeigt sich immer wieder: Wenn man die drei Säulen des modernen Strafrechts erklärt, wächst der Respekt vor der Rechtsordnung:
- Individuelle Schuld: Niemand wird pauschal verurteilt. Die Tat wird im Kontext der Persönlichkeit, der Umstände, der inneren Haltung betrachtet.
- Resozialisierung: Strafe ist nicht ewige Stigmatisierung. Sie ist begrenzt, zielgerichtet, rückführend. Der Mensch bleibt entwicklungsfähig.
- Sühne: Ja, die Gesellschaft darf eine Antwort geben, ein spürbarer Sühneanteil im Strafrecht ist legitim – aber nicht aus Rache, sondern aus Verantwortung. Sühne ist eingebettet, nicht dominant.
Diese Struktur ist nicht nur juristisch klug – sie ist demokratiepädagogisch wirksam.
Denn wer sie versteht, erkennt: Das Recht schützt nicht nur vor dem Täter – es schützt auch den Täter vor der Willkür.
Und genau darin liegt seine Würde.
III. Die Grundspannung des Strafrechts: Schuld vs. Strafbedürfnis
Strafrecht ist kein moralisches Ventil. Es ist ein System zur Zurechnung individueller Schuld – nicht zur Befriedigung kollektiver Emotion. Doch gerade in medial aufgeladenen Fällen zeigt sich, wie schwer diese Trennung fällt.
Die Öffentlichkeit erwartet oft Strafe als Sühne. Medien verstärken diese Erwartung durch Dramatisierung. Und die Politik reagiert nicht selten mit Symbolgesetzgebung, die Härte demonstrieren soll – ohne strukturelle Notwendigkeit.
Das Strafrecht muss sich dagegen immunisieren. Es darf nicht zum Träger politischer Botschaften werden. Es muss Maß halten – auch gegen den Druck der Empörung. Die Rechtsordnung muss verteidigen, was sie in den großen Strafrechtsreformen unter dem Aspekt der Menschenwürde bewusst gesetzt hat.
IV. Gerechtigkeit – und was das Strafrecht dazu leisten kann
„Das ist doch ungerecht!“ – kaum ein Satz fällt häufiger, wenn es um Strafverfahren geht. Und kaum ein Begriff wird so oft bemüht wie die „Gerechtigkeit“, wenn die Öffentlichkeit Urteile kommentiert, Täter verurteilt oder Opfer stilisiert. Doch was ist Gerechtigkeit – und was kann das Strafrecht dazu beitragen?
Gerechtigkeit ist kein einheitlicher Begriff, sondern ein komplexes Spannungsfeld aus:
- Vergeltung (im Sinne der moralischen Wiedergutmachung),
- Ausgleich (im Sinne der sozialen Ordnung),
- Verfahrensgerechtigkeit (im Sinne der rechtsstaatlichen Struktur).
Das Strafrecht kann nicht alle diese Dimensionen erfüllen – und es darf es auch nicht. Sein Auftrag ist nicht moralische Genugtuung, sondern strukturierte Schuldzurechnung. Es kann:
- die Tat bewerten,
- die individuelle Verantwortung feststellen,
- eine angemessene Sanktion verhängen.
Aber es kann keine emotionale Gerechtigkeit herstellen.
Es kann nicht das Leid ungeschehen machen, nicht die Empörung befrieden, nicht die moralische Ordnung wiederherstellen. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass das Strafrecht nicht dem Ruf der Straße folgt, sondern seiner eigenen Struktur treu bleibt. Denn wenn das Strafrecht von seinem Selbstverständnis abweicht, delegitimiert es sich selbst. Es hat kein Mandat, als Vergeltungsrecht aufzutreten.
Denn „Volkes Stimme“ meint oft, auf der Seite der Gerechtigkeit zu stehen – aber sie meint damit meist emotionale Vergeltung, nicht rechtsstaatliche Differenzierung. Und wenn Gerichte beginnen, sich dieser Stimme zu beugen, dann wird das Strafrecht verbogen, nicht gerecht.
Gerechtigkeit im Strafrecht bedeutet:
- Maß statt Moral,
- Struktur statt Stimmung,
- Verantwortung statt Rache.
Und das ist nicht Schwäche – das ist Stärke im Dienst der Demokratie.
V. Die Rückkehr der Symbolpolitik: Femizid als warnendes Beispiel
Der Begriff „Femizid“ ist ein Beispiel für die Rückkehr der Symbolpolitik ins Strafrecht. Ursprünglich als kriminologische Kategorie gedacht – zur Beschreibung geschlechtsspezifischer Gewalt – wird er zunehmend als strafrechtlicher Begriff diskutiert. Doch das ist problematisch.
Thomas Fischer, ehemaliger BGH-Richter, hat in seiner Stellungnahme zum Bundestag klargestellt:
„Eine abgrenzbare Definition des damit gemeinten Phänomens [Femizid] existiert nicht.“
„Die Zahl der Tötungsdelikte gegen Frauen sagt nichts darüber aus, ob sie aus geschlechtsspezifischen Motiven begangen wurden.“
Die populäre Definition – Tötung einer Frau weil sie eine Frau ist – setzt einen intentionalen Frauenhass voraus. Doch in der Praxis sind die Tatmotive oft komplex:
- Beziehungskonflikte in gegenseitiger Dynamik,
- psychische Erkrankungen,
- situative Eskalationen.
Ein bloßer Kausalzusammenhang – Täter männlich, Opfer weiblich – reicht nicht aus. Und doch wird genau dieser Zusammenhang von vielen Aktivist:innen als hinreichend angesehen. Das ist nicht nur analytisch fragwürdig, sondern rechtsdogmatisch gefährlich.
Denn wenn ein unklarer Begriff gesetzlich verankert wird, droht die richterliche Differenzierung zu verschwinden. Die individuelle Schuldzuschreibung wird durch eine kollektive Zuschreibung ersetzt. Das Strafrecht wird zum Träger politischer Symbolik – und verliert seine Struktur.
VI. Exkurs: Selbstjustiz und die Verteidigung des staatlichen Gewaltmonopols
Der Fall Marianne Bachmeier (1981) zeigt, wie stark die emotionale Logik der Öffentlichkeit auf die juristische Bewertung durchschlagen kann. Eine Mutter erschießt den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal – und wird milde verurteilt. Das Gericht verkennt den offensichtlichen Vorsatz und das Mordmerkmal der Heimtücke und fällt nach heute einhelliger Fachmeinung ein eklatantes Fehlurteil. Die Tat wird zur Tragödie stilisiert, das Gericht zeigt „Verständnis“, die Öffentlichkeit jubelt.
Doch juristisch war sie ein Angriff auf die staatliche Ordnung.
Der Gerichtssaal ist der Ort, an dem das Gewaltmonopol des Staates seine Form findet. Wer dort zur Waffe greift, greift nicht nur den Menschen, sondern die Ordnung an, die ihn schützen und zugleich zur Rechenschaft ziehen soll. 
Die Strafrechtsreformen wollten genau solche Grenzverwischungen verhindern. Sie wollten Strafe entmoralisieren, Schuld individuell bestimmen, das Strafrecht gegen die Stimme des Volkes immunisieren – wenn diese nach Rache ruft.
Der Fall Bachmeier zeigt, wie schwer das ist – und wie wichtig es bleibt.
VI. Fazit: Die Verteidigung des Strafrechts als Verteidigung der Demokratie
Das Strafrecht ist kein Ort für symbolische Kämpfe. Es ist ein Ort für Maß, für Differenzierung, für rechtsstaatliche Verantwortung. Die Reformen haben das Fundament gelegt – aber es muss immer wieder verteidigt werden.
Begriffe wie „Femizid“ mögen kriminologisch sinnvoll sein. Aber als strafrechtliche Kategorie sind sie nicht tragfähig. Ihre pauschale Verwendung droht, die Struktur des Strafrechts zu unterlaufen – und die Errungenschaften der Reformen zu gefährden.
Was wir brauchen, ist keine neue Strafsymbolik – sondern eine Rückbesinnung auf das, was Strafrecht leisten soll:
- Schutz durch Maß,
- Zurechnung durch Struktur,
- Gerechtigkeit durch Differenzierung.
Denn wer das Strafrecht populistisch überformt, gefährdet nicht nur die Rechtsordnung – sondern auch das Vertrauen in die Demokratie selbst.
Strafrechtsreformen 1969 & 1975 – Literaturübersicht
Nur frei zugängliche Quellen.
Deutsche Straftheorie, Band 3
Diverse Autoren / FU Berlin, Refubium Universitätsverlag
Dogmatischer Hintergrund: Schuldprinzip, Verhältnis von Rechtswidrigkeit & Schuld, Bedeutung der Sühne.
https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/22237/Deutsche%20Straftheorie_%203_%20Aufl.pdf
Mohr; N. – Die Entwicklung des Sanktionenrechts im deutschen Strafrecht.  
Forum Verlag Godesberg, 2020.
Untersucht die Entwicklung des Sanktionen- und Vollzugsrechts; relevant für ’niemand soll ewig Strafe tragen‘.
Kriminalwissenschaften – Kapitel: Strafrechtsreform nach 1975
Diverse Autoren / Beck eLibrary
Beschreibt die Phase nach 1975, mit juristischen und gesellschaftlichen Einflüssen.
https://www.beck-elibrary.de/10.17104/9783406731181-767.pdf
Die Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen
Dessecker A. et al. / Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KrimZ) 2017
Analysiert den Vollzug lebenslanger Strafen und deren Entwicklung nach den Reformen. https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/51850/ssoar-2017-dessecker-Die_Vollstreckung_lebenslanger_Freiheitsstrafen_Dauer.pdf
 
			
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