
Sabine Rennefanz hat im Spiegel einen jener seltenen Kommentare zum Wehrpflichtthema geschrieben, die über die Oberfläche der politischen Tagesrituale hinausgehen. Sie fragt, worüber in Berlin derzeit kaum jemand ernsthaft nachdenkt: Wozu überhaupt ein Massenheer in Zeiten des Hightech-Kriegs? Was soll ein halbes Jahr Grundausbildung gegen Drohnen, Cyberangriffe und ballistische Präzisionswaffen bewirken? Rennefanz benennt die Schieflage der Debatte – und zeigt damit, dass die geplante Reaktivierung der Wehrpflicht auf ein Prinzip hinausläuft, das in modernen Demokratien nichts mehr verloren hat: Symbolpolitik anstelle von Zweckrationalität.
Geeignetheit – das vergessene Kriterium
Bis 2011 galt: Die Wehrpflicht war – neben der Inhaftierung – einer der schwerwiegendsten Eingriffe in die Selbstbestimmung eines Bürgers. Entsprechend hoch war die verfassungsrechtliche Schwelle, sie zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht hielt über Jahrzehnte an dieser Logik fest: Ein solcher Eingriff ist nur zulässig, wenn er geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist – und wenn es keine mildere, ebenso effektive Maßnahme gibt. Und das Gericht tat sich in so mancher Entscheidung sichtlich schwer, diese Voraussetzungen als erfüllt anzuerkennen.
Die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 war im Grunde das Eingeständnis, dass diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt waren. Weder sicherheitspolitisch noch gesellschaftlich ließ sich damals noch begründen, warum eine Zwangsverpflichtung junger Männer – und nur dieser Gruppe – notwendig oder geeignet sein sollte, um die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu sichern. In der Praxis hatte sich die Wehrpflicht bereits überlebt; ihre Legitimation war faktisch erloschen.
Seitdem aber scheint die Erinnerung an diese Maßstäbe verloren gegangen zu sein. Heute wird über „Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit“ gesprochen, als ginge es um eine logistische Größe – nicht um einen Grundrechtseingriff. Von Geeignetheit, Verhältnismäßigkeit, gar vom Gebot des geringstmöglichen Eingriffs: keine Spur.
Verfassungsrechtliche Geeignetheit – zwei Gründe für ein Nein
Vor dem Bundesverfassungsgericht würde eine Reaktivierung der Wehrpflicht in der nun angedachten Form wohl schon an der Geeignetheit scheitern. Ein Grundrechtseingriff darf nur dann vorgenommen werden, wenn das gewählte Mittel tatsächlich geeignet ist, den verfolgten Zweck zu erreichen. Daran mangelt es hier in mehrfacher Hinsicht.
1. Strategische Untauglichkeit
Die Wehrpflicht war in der alten sicherheitspolitischen Welt des Kalten Krieges begründbar – als Instrument der Massenmobilisierung und der territorialen Verteidigung. Diese Welt existiert nicht mehr. Die heutige Bedrohungslage ist hybrid: Drohnen, Cyberattacken, Sabotage, Desinformation, Energieinfrastruktur. Die Schlagkraft moderner Streitkräfte entsteht durch Technologie, Ausbildungstiefe und Einsatzfähigkeit – nicht durch Kopfzahlen.
Ein kurzfristig ausgehobenes „Massenheer“ aus sechsmonatigen Rekruten wäre militärisch keine Antwort auf diese Realität. Es fehlte an jeder Kontinuität: kein Aufbau spezialisierter Fähigkeiten, keine Integration in komplexe Systeme, keine Erfahrung in digitaler oder taktischer Zusammenarbeit. Die Maßnahme wäre also – gemessen am Zweck der „Stärkung der Verteidigungsfähigkeit“ – von vornherein ungeeignet. Oder, juristisch schärfer formuliert: Sie stünde in keinem funktionalen Zusammenhang zu dem Ziel, das sie angeblich erfüllen soll.
2. Operative Nichtverfügbarkeit
Selbst wenn man eine gewisse symbolische Mobilisierungskraft zubilligte, bliebe das operative Problem: Eine halbjährige Wehrpflicht schafft keine zu jedem Zeitpunkt verfügbare, einsatzbereite Reserve. Rekruten, die nach wenigen Monaten wieder entlassen werden, bilden keine durchhaltefähige Struktur, sondern eine ständige Rotation. Sie müssen ausgebildet, versorgt und ersetzt werden – ein Aufwand, der Bindungskräfte und Ressourcen frisst, ohne den militärischen Nutzen zu erhöhen.
In der Bilanz bedeutet das: Statt die Bundeswehr zu stärken, würde eine derartige Pflichtarmee die Professionalisierung weiter schwächen, weil Ausbilder, Material und Infrastruktur in endlosen Anlernzyklen gebunden wären. Eine „Soldatenschleuse“ ist keine Armee.
Fazit
Damit fehlt es gleich in zweifacher Hinsicht an der verfassungsrechtlichen Geeignetheit:
– strategisch, weil das Mittel den Zweck nicht erreicht,
– operativ, weil es in sich widersprüchlich ist.
Was bleibt, ist Symbolpolitik mit Uniform. Und ein Staat, der in Grundrechte eingreift, ohne dass sein Eingriff auch nur theoretisch wirksam sein kann, verfehlt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kern.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon in früheren Entscheidungen die Wehrpflicht nur unter Mühen mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht – unter Bedingungen, die heute nicht mehr bestehen. Heute wäre dieses Kunststück kaum mehr möglich. Ich wage deshalb zu pronostizieren: In Karlsruhe würde eine solche Mini-Wehrpflicht scheitern – an der Realität.
Ergänzung, 17.10.2025:
Wie weit dieser Verlust an politischer Reflexion inzwischen gediehen ist, zeigte jüngst ein Interview des CDU-Abgeordneten Thomas Röwekamp in der Bundestagszeitung Das Parlament. Darin wird das geplante Losverfahren zur Musterung und Wehrpflicht nicht etwa als Ausnahme, sondern als gerechteste Lösung verteidigt – mit einer Argumentation, die weniger von Überzeugung als von intellektueller Müdigkeit zeugt. Was hier als Pragmatismus verkauft wird, ist in Wahrheit die Weigerung, politische Verantwortung noch als Denkaufgabe zu begreifen.
„Das einzig zuverlässige und am Ende auch gerechteste Verfahren ist … eine gewisse per Zufallsprinzip ermittelte Anzahl.“
– Thomas Röwekamp (CDU), Interview für Das Parlament, 17. 10. 2025
Diese Sätze markieren den Punkt, an dem politische Verantwortung in sprachliche Bequemlichkeit umschlägt. Das Losverfahren wird hier nicht argumentativ begründet, sondern als Fluchtweg aus der eigenen Entscheidungsverantwortung dargestellt. Statt zu erklären, wie man Gerechtigkeit herstellen will, erklärt man den Zufall selbst zur Gerechtigkeit. Das ist nicht politisches Denken, sondern die Kapitulation vor ihm.
„Egal, welches Verfahren Sie nehmen, es wird am Ende immer jemanden geben, der sich ungerecht behandelt fühlt.“
Hier spricht der Fatalismus der Gegenwart. Anstatt das Ziel zu verfolgen, Fehlentscheidungen zu vermeiden, wird ihr Auftreten als naturgesetzlich hingestellt. Doch wer Grundrechte einschränkt, darf sich nicht mit der Behauptung entschuldigen, Perfektion sei ohnehin unmöglich. Er muss sich gerade dann an die strengsten Maßstäbe binden – nicht an die bequemsten.
„Wir können ja nicht an Russland und Putin die Botschaft richten, bitte greift uns nicht an, wir haben nicht genügend Soldaten.“
Auch das ist ein rhetorisches Muster: Angst als Argument. Ein militärstrategisch unsinniger Vergleich ersetzt eine sachliche Begründung. Wer so spricht, verlagert die Debatte von der Frage nach der Eignung des Mittels zur Verpflichtung des Gefühls. Angst ist aber kein politisches Kriterium, und Überforderung kein Konzept.
Am Ende bleibt die bittere Einsicht: Was hier als Realismus verkauft wird, ist die Ästhetik des Rückzugs – ein Versuch, Unschlüssigkeit als Gerechtigkeit zu tarnen. Der Zufall wird zur Tugend erhoben, weil man den Mut zur Entscheidung verloren hat. Das ist kein politischer Pragmatismus, das ist die geistige Selbstaufgabe des Denkens.
Ergänzung Ende
Professionalisierung statt Zwang
Die Tatsache, dass sich hierzulande offenbar nicht die Voraussetzungen finden, die in Großbritannien und Frankreich vorliegen, um eine moderne Berufsarmee zu unterhalten, sollte zu denken geben. Offenbar fehlt es nicht an Willen junger Menschen, sondern an Vertrauen – in die Planung, die Führung, die Sinnhaftigkeit. Die über Jahre politisch vernachlässigte Professionalisierung der Bundeswehr darf nicht zur Begründung eines Rückfalls in alte Muster werden.
Die Verantwortung für diese Versäumnisse liegt bei der Politik, nicht bei der jungen Generation. Es wäre fatal, diese Generation nun in die Pflicht zu nehmen, um Fehler der Vergangenheit auszubügeln – oder so zu tun. Umso mehr Respekt verdienen all jene jungen Menschen, die sich trotz dieser Skepsis freiwillig zum Dienst bereitfinden würden – was jedoch kein Ersatz für die verfassungsrechtliche Legitimation einer Wiedereinführung der Wehrpflicht ist.
Zwischen Professionalität und politischer Vernachlässigung
Man kann über vieles streiten – nicht aber darüber, dass die Bundeswehr seit Jahren versucht, aus den Trümmern politischer Versäumnisse das Beste zu machen. Wer mit Angehörigen der Truppe spricht, hört selten Klagen, aber oft stille Verzweiflung: über fehlende Planung, über Bürokratie, über das Gefühl, dass man an vorderster Front die Konsequenzen einer Politik ausbaden muss, die sich nach 2011 schlicht vom Thema Verteidigung abgewandt hat.
Gerade die altgedienten Stabsoffiziere, die die Armee von innen kennen, wissen, dass Kompetenz nicht im Schnellverfahren entsteht – und dass eine halbjährige Zwangsausbildung keine Antwort auf den Mangel an Professionalität ist, sondern eine zusätzliche Belastung.
An den Einrichtungen der Bundeswehr, an denen mit hoher fachlicher Qualität Führungskräfte und Spezialisten ausgebildet werden, fürchtet man längst den Verlust an Bedeutung und Niveau, sollte aus diesen Ausbildungsstätten ein „Durchlauferhitzer“ für Sechsmonatsrekruten werden. Damit würden nicht nur Institutionen entwertet, sondern auch das, was sie symbolisieren: der Anspruch, dass militärische Verantwortung auf Wissen, Können und Haltung beruhen muss – nicht auf Zwang und Zufall.
Politisches Vergessen – und der Zorn der Vernunft
Je länger man über diese Pläne nachdenkt, desto klarer wird, woran sie kranken: an Erinnerungslosigkeit. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht hat sich der Staat nicht von Verantwortung befreit, sondern sich eine neue auferlegt: Er wollte und sollte die Bundeswehr als moderne, professionelle Berufsarmee weiterentwickeln. Doch anstatt das zu tun, hat man sich abgewandt – bequem, schweigend, selbstzufrieden.
2007, bei Putins Ausfälligkeiten bei der Sicherheitskonferenz in München, war man verwundert. 2014, als mit der Annexion der Krim durch Russland die militärische Konfrontation mit der Ukraine begann, legte man eine Nachdenkpause ein. Als 2022 die sicherheitspolitische Wirklichkeit mit voller Härte zurückkehrte, trat das Versäumnis offen zutage. Plötzlich wurde sichtbar, was jahrelang verdrängt worden war: dass man in Berlin nicht vorbereitet, sondern vertröstet hatte. Und nun soll ausgerechnet die Wiedereinführung der Wehrpflicht die Antwort auf dieses eigene Versagen sein? Die Wehrpflicht als Fortsetzung einer gescheiterten Politik mit anderen Mitteln, um einmal Clausewitz zu verballhornen?
Das ist kein sicherheitspolitischer Realismus, das ist eine Bankrotterklärung politischer Vernunft. Man reagiert auf den Mangel an Konzept, indem man alte Pflichten wiederbelebt. Man ersetzt Planung durch Symbolik, Freiheit durch Zwang – und nennt das dann Handlungsfähigkeit. Doch Zwang heilt keine strukturellen Fehler. Und eine Generation, die seit Jahren die politische Stümperei der Erwachsenen miterlebt, wird sehr genau erkennen, dass man hier nicht verteidigt, sondern kaschiert.
Wer Verantwortung in Pflicht verwandelt, verwechselt Stärke mit Druck. Wer Reformunfähigkeit mit Zwang beantwortet, bekräftigt den moralischen Bankrott des Systems, das er zu schützen vorgibt. Es mag gut gemeint sein – aber gut gemeint ist nicht redlich.
Verantwortung und Vernunft sind die eigentlichen Grundlagen jeder Verteidigungsfähigkeit. Und in diesem Sinne ist die Wehrpflicht keine Frage des Patriotismus, sondern eine Frage der politischen Redlichkeit – und damit, wenn man so will, eine zutiefst humanistische Frage. Was sonst.
 
			
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