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Wunschdenken mit Gütesiegel – Strukturwandel auf Bestellung

Man fühlt die Absicht – und ist verstimmt. Das neue Wirtschaftsgutachten der von Ministerin Katherina Reiche handverlesenen Expertengruppe fordert, was in Sonntagsreden nie fehlt: Strukturwandel, Deregulierung, höhere Produktivität, längeres Arbeiten. Es klingt nach Tatkraft, nach Zukunft, nach ökonomischer Vernunft. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Hier wird nicht analysiert, sondern bestellt. Die Forderungen passen exakt zu den politischen Vorlieben der Auftraggeberin – und blenden systematisch aus, was unbequem wäre. Man macht keine Politik, man lässt machen.

Der Ruf nach Strukturwandel wirkt dabei fast zynisch. Denn gerade dort, wo er dringend nötig wäre – in der Energiepolitik und der Mobilitätswende – wird er politisch blockiert oder verschleppt. Die Ministerin selbst steht für eine Energiepolitik, die sich eher durch Besitzstandswahrung als durch Transformationsbereitschaft auszeichnet. Und die Autoindustrie, deren strategische Zögerlichkeit beim E-Antrieb längst zur Krise geführt hat, wird im Gutachten nicht einmal erwähnt. Stattdessen wird der Verbrenner in der politischen Debatte inzwischen fast unter Naturschutz gestellt – als wäre das Festhalten am Alten ein Beitrag zur Zukunft.

Der Binnenmarkt? Kein Thema. Die Kaufkraft? Keine Zeile. Die Stagnation der deutschen Wirtschaft wird nicht etwa mit der Austeritätspolitik der „schwarzen Null“ und der Schuldenbremse in Verbindung gebracht, sondern mit einem Mangel an „Flexibilität“ und „Innovationsfreude“. Es ist die alte Leier: Wenn es nicht läuft, sollen die Menschen länger arbeiten, weniger erwarten und sich mit weniger absichern. Dass die Menschen sich inzwischen fragen, wozu das gut sein soll, wenn ihr Realeinkommen auf dem Niveau von 2019 verharrt, wird offenbar nicht registriert. Dass die Globalisierung längst an ihre Grenzen stößt und die Außenwirtschaft kein verlässlicher Wachstumsmotor mehr ist – auch das bleibt außen vor.

Es wird Zeit, vom Fetisch des Exportweltmeisters Abschied zu nehmen. Das ist kein Drama, sondern eine überfällige Einsicht. In der gegenwärtigen Lage (und eigentlich schon sehr lange) wäre es geradezu wünschenswert, den Binnenmarkt gezielt zu stärken und die Produktivitätsgewinne im Land zu halten – statt sie in weltrekordverdächtiger Manier als Kredit an die Außenhandelspartner zu transferieren. Die Zeiten ungebremster Globalisierung sind vorbei, und mit ihnen die Illusion, dass außenwirtschaftliche Erfolge soziale Stabilität im Inneren garantieren.

Der Binnenkonsum ist gefragt. Und den stärkt man nur durch mehr Netto in der Tasche. Steigende Kaufkraft würde zudem die Investitionsbereitschaft im Lande ankurbeln, denn – o Wunder! – Unternehmen investieren dort, wo sie Absatzmärkte sehen. Nicht wegen irgendwelcher Steuervorteile, die höchstens ihren CFOs Kopfschmerzen machen, weil sie nicht mehr wissen wohin mit der Liquidität.

Statt dessen. sprechen wir es mal offen aus, scheinen wir uns in Richtung eines ausgesprochenen Neofeudalismus zu bewegen.

Gutachten als politische Architektur – Die Funktion hinter der Fassade

Was als Expertise daherkommt, ist oft nichts anderes als ein rhetorisches Bauwerk zur Stabilisierung politischer Vorhaben. Das Gutachten der Reiche-Kommission ist ein Paradebeispiel: Es formuliert keine neuen Einsichten, sondern bestätigt das Erwartbare. Die Forderungen – Deregulierung, längeres Arbeiten, weniger Staat – sind keine analytischen Schlussfolgerungen, sondern ideologische Setzungen, die durch den Anschein wissenschaftlicher Objektivität geadelt werden.

Die Funktion solcher Gutachten liegt nicht in der Erkenntnis, sondern in der Legitimation. Sie sollen nicht debattieren, sondern absichern. Die Ministerin muss nicht argumentieren, sie kann verweisen: auf die „Experten“, auf die „Daten“, auf die „Sachzwänge“. Und weil die Kommission handverlesen ist, wird auch das Ergebnis erwartungsgemäß ausfallen. Es ist ein geschlossener Kreislauf: Die Politik bestellt, die Expertise liefert, die Öffentlichkeit soll glauben.

Dabei ist die rhetorische Konstruktion besonders perfide: Die Empfehlungen erscheinen als alternativlos, weil sie aus einem scheinbar neutralen Raum kommen. Doch dieser Raum ist politisch vorstrukturiert. Die Auslassungen – etwa zur Binnenwirtschaft, zur Industriepolitik, zur sozialen Verteilung – sind keine Zufälle, sondern gezielte Leerstellen, die das gewünschte Bild nicht stören sollen.

Und so wird aus einem Gutachten ein Instrument der politischen Architektur: Es schafft nicht Klarheit, sondern Kulisse. Es dient nicht der Analyse, sondern der Absicherung. Und es erlaubt der Ministerin, das hineinzulesen, was sie ohnehin vertreten will – ganz wie beim Energiememorandum.

Fazit: Analyse ist kein Alibi

Was als Expertise präsentiert wird, ist in Wahrheit ein rhetorisches Instrument zur Stabilisierung politischer Vorhaben. Die Forderungen des Gutachtens sind nicht das Ergebnis offener Analyse, sondern die Bestätigung ideologischer Vorannahmen. Strukturwandel wird gefordert, aber dort blockiert, wo er unbequem wäre. Die Autoindustrie wird geschont, die Binnenwirtschaft ignoriert, die Rentendebatte reflexhaft geöffnet.

Es ist die alte Technik: Man kleidet Wunschdenken in das Gewand der Wissenschaft, um es unangreifbar zu machen. Doch wer die Leerstellen sieht, erkennt die Absicht – und ist verstimmt. Denn echte Analyse benennt auch das Unbequeme. Sie fragt nicht nur, was passt, sondern was fehlt.

Der Fetisch des Exportweltmeisters, die Ausblendung der sozialen Dimension, die rhetorische Freistellung politischer Verantwortung – all das zeigt: Dieses Gutachten ist kein Beitrag zur Erkenntnis, sondern zur Erzählung. Und wer sich darauf verlässt, wird nicht klüger, sondern nur bestätigter.