Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

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Die Wurzeln des Relativismus IV – Das 20. Jahrhundert bis zur Postmoderne

Zwischen Wahrheitssuche und Wahrheitsverachtung

Es bleibt noch die Lücke zu schließen von Nietzsche über den Historismus und den Pragmatismus bis zum Durchbruch der radikalen Postmodernen in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Zu berichten gibt es genug.

Der Wiener Kreis – Wissenschaft als logische Konstruktion

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich mit dem Wiener Kreis eine Gruppe von Philosophen, Mathematikern und Wissenschaftstheoretikern, die versuchte, der Philosophie eine neue Grundlage zu geben. Ihre Antwort auf metaphysische Spekulation und erkenntnistheoretische Beliebigkeit war der logische Empirismus: Aussagen sollten nur dann als sinnvoll gelten, wenn sie entweder logisch beweisbar oder empirisch verifizierbar sind.

Rudolf Carnap, Moritz Schlick und andere wollten mit Hilfe der formalen Logik und einer streng empirischen Wissenschaftssprache eine objektive Erkenntnisbasis schaffen. Die Wahrheit sollte so weit wie möglich unabhängig vom Subjekt formuliert werden – intersubjektiv überprüfbar, rational prüfbar, frei von metaphysischer Überhöhung.

Diese Idee stellte eine der stärksten Gegenbewegungen zum Relativismus dar. Und doch bereitete der Wiener Kreis – paradoxerweise – auch ungewollt den Weg zur Kritik: Der Anspruch auf vollständige Verifizierbarkeit aller sinnvollen Aussagen erwies sich als zu streng, wie Karl Popper später betonte.

Karl Popper und die Falsifikation

Poppers Kritik an der Verifikationsthese war bahnbrechend: Wissenschaft, so Popper, könne nie endgültig verifizieren, sondern nur falsifizieren. Eine Theorie ist umso wissenschaftlicher, je mehr sie sich riskanten Tests aussetzt und prinzipiell widerlegbar ist.

Damit brachte Popper eine neue Klarheit in die Diskussion: Objektive Wahrheit bleibt das Ziel, aber der Zugang erfolgt durch vorläufige Annäherung – durch Theorien, die sich in kritischer Auseinandersetzung bewähren müssen.

Poppers Philosophie ist keine Einladung zum Relativismus, sondern im Gegenteil: ein Plädoyer für die Widerlegbarkeit als epistemisches Ethos. Doch auch hier schleicht sich ein Relativitätsmoment ein: Unsere Wahrheiten sind immer hypothetisch, nie absolut sicher – und das öffnet späteren Theorien, die aus dieser Vorläufigkeit ein Beliebigkeitsprinzip machen, eine Hintertür.

Die Dialektik der Aufklärung – Misstrauen gegenüber der Vernunft

Adorno und Horkheimer veröffentlichten 1947 ihre berühmte Dialektik der Aufklärung – eine Analyse, die mit dem Rationalitätsbegriff der Moderne hart ins Gericht geht. Ihr Grundgedanke: Die Aufklärung, angetreten, um die Menschheit von Mythen zu befreien, habe sich in ein System der Kontrolle und Herrschaft verkehrt. Instrumentelle Vernunft diene nicht mehr der Emanzipation, sondern der Effizienz, der Berechnung, der Machtsicherung.

Dieser Gedanke nährt ein tiefes Misstrauen gegen die Möglichkeit einer neutralen, objektiven Wahrheit. Auch wenn Adorno und Horkheimer nie explizit relativistisch argumentierten, stellten sie doch die zentralen erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Aufklärung infrage. Das Subjekt, das erkennt, ist bei ihnen immer schon ein Teil der Machtverhältnisse – eine Sichtweise, die Michel Foucault später radikal ausformulieren wird.

Thomas Kuhn und das Paradigma

Mit Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) kam ein weiteres Element ins Spiel, das den Glauben an linearen Fortschritt und objektive Wahrheit erschütterte. Kuhns These: Wissenschaft entwickelt sich nicht kontinuierlich, sondern in Paradigmenwechseln – und diese sind nicht nur durch rationale Gründe erklärbar, sondern auch durch soziologische, psychologische und institutionelle Faktoren.

Wahrheit wird so zu einem Produkt des jeweiligen Paradigmas. Was als wahr gilt, hängt von der wissenschaftlichen „Weltsicht“ ab, innerhalb derer geforscht wird. Auch Kuhn wollte keinen Relativismus vertreten – er sah seine Theorie als Beschreibung wissenschaftlicher Praxis. Doch seine Ideen wurden später von postmodernen Denkern als Beleg dafür aufgegriffen, dass Wahrheit nur ein Konstrukt der jeweiligen Zeit sei.

Paul Feyerabend – Anything goes?

Feyerabends Against Method (1975) war der wohl heftigste Frontalangriff auf das wissenschaftliche Selbstverständnis seit Nietzsche. Sein berühmter Satz „Anything goes“ wurde oft missverstanden: Feyerabend wollte nicht Anarchie, sondern warnte vor der Verabsolutierung einer einzigen Methode. Wissenschaft, so seine These, sei immer auch historisch gewachsen, geprägt von Machtverhältnissen, Interessen, Zufällen.

Dabei wollte Feyerabend nicht die Wahrheit abschaffen, sondern zeigen: Erkenntniswege sind vielfältig. Er war ein Gegner von Dogmatismus – nicht von Rationalität an sich. Doch viele Leser entnahmen seiner Kritik einen Freifahrtschein für Beliebigkeit. Und so wurde Against Method zu einem der Gründungsdokumente des postmodernen Denkens – wenn auch wider Willen.

Die Postmoderne: Von der Kritik zur Verachtung der Wahrheit

In den 1960er und 70er Jahren vollzieht sich dann ein Wandel: Die produktive Kritik an erkenntnistheoretischen Grenzen schlägt bei vielen Denkern in eine prinzipielle Infragestellung von Wahrheit um. Mit Foucault, Derrida, Lyotard und Butler beginnt die Zeit des starken Relativismus: Wahrheit wird als diskursive Konstruktion entlarvt, Objektivität als Herrschaftsinstrument enttarnt, wissenschaftliche Rationalität als kulturell überformt dekonstruiert. Diese wichtige Periode behandele ich im Detail in meiner neunteiligen Serie zum Erkenntnisrelativismus in der Moderne.

Diese Entwicklung hat tiefgreifende Konsequenzen – nicht nur in der Philosophie, sondern in Bildung, Gesellschaft und Wissenschaft. Wahrheit wird nicht mehr gesucht, sondern „verhandelt“. Es zählt nicht mehr, was stimmt – sondern, wer Deutungshoheit hat.


Epilog: Was auf dem Spiel steht

Wenn ich diese Serie über die Wurzeln des Relativismus schreibe, dann nicht, weil ich der Vergangenheit eine bloße historische Ehrenrunde gönnen will. Sondern weil mir immer deutlicher wird, worum es eigentlich geht: um das große Ringen des menschlichen Geistes mit sich selbst. Um Wahrheit – und um die Frage, ob und wie wir sie erkennen können.

Was sich über Jahrtausende zur Frage entfaltet hat, was wir wissen können und was Erkenntnis ist, stellt keinen bloßen Streit zwischen Meinungen dar, sondern einen geistigen Lehrweg. Einen, der zeigt: Erkenntnis ist nicht einfach da – sie entsteht, wächst, scheitert, steht wieder auf. Sie lebt von Reibung, von These und Antithese, von kritischer Prüfung, Rückschritt und Fortschritt. Und vor allem: Sie lebt davon, dass Menschen sich der Mühe unterziehen, über Wahrheit nachzudenken, anstatt sie entweder zu verordnen oder gleich ganz abzuschaffen.

Damit ist ein Punkt erreicht, an dem das erkenntnistheoretische Projekt der Moderne – die Suche nach gesichertem Wissen – ernsthaft in Gefahr gerät. Genau deshalb ist es so wichtig, die Geschichte dieses Projekts zu kennen – mit all ihren Brüchen, Fortschritten und Umwegen, wobei einmal die relativistischen Ideen fruchtbar waren, weil sie Dogmatismus entgegentraten und dann wieder die Positionen des Objektivismus, weil sie dem Einbruch von unreflektierter Beliebigkeit in den Erkenntnisprozess Grenzen setzten. Es ist auch das Ziel dieser kleinen historischen Serie, beiden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Dass ich mich in der ersten Artikelserie dezidiert gegen den Relativismus der Postmoderne gewandt habe, hat seinen Grund darin, dass dieser die Teilnahme am diskursiven Wechselspiel aufgekündigt hat. Er tritt nicht als zweifelnde Position auf, sondern als Usurpator, der selbst unhinterfragbare Gültigkeit beansprucht. Gerade wenn man die Geschichte kennt, die diese kleine Serie beschreibt, muss das inakzeptabel erscheinen.

Die Geschichte der Erkenntnistheorie ist daher mehr als ein Spezialdiskurs – sie ist ein kollektiver Erfahrungsprozess, wie wir mit uns und der Welt in Beziehung treten. Was wir heute als wissenschaftliche Methode, als kritisches Denken oder als rationale Debattenkultur begreifen, ist das Ergebnis eben jenes jahrhundertelangen Ringens – und damit zu wertvoll, um leichtfertig preisgegeben zu werden.

Radikaler Relativismus – wie ihn Teile der Postmoderne vertreten – bricht dieses Ringen ab. Er setzt sich ans Ende einer Entwicklung, die er weder zu würdigen noch fortzusetzen weiß. In der Behauptung, dass es keine objektive Erkenntnis mehr geben könne, steckt eine stille Verachtung für das, was Generationen gedacht, erprobt und errungen haben. Erkenntnis wird da zum Machtspiel, Wahrheit zur Behauptung, Wissenschaft zur Kulisse.

Dem möchte ich mich entschieden entgegenstellen. Nicht, weil ich naiv an eine „absolute“ Wahrheit glaube, sondern weil ich weiß, dass die Suche nach Wahrheit – in all ihrer Begrenztheit – zu den größten zivilisatorischen Errungenschaften gehört, die wir haben. Sie ist ein Bollwerk gegen Willkür, Manipulation und ideologische Erstarrung.

Die Wahrheit ist keine Murmel, die wir im Spiel verlieren oder gewinnen. Das Streben nach ihr ist eine Haltung – ein Ethos, das sich durch Zweifel und Disziplin hindurch behauptet. Und das wir heute nötiger brauchen denn je.


Die Wurzeln des Relativismus III – Renaissance, Rationalismus und Empirie

Die Geburt der modernen Wahrheitssuche

Die Dinge ordnen sich (Microsoft Copilot)

Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wandelt sich auch die Vorstellung von Erkenntnis grundlegend. Die Renaissance steht nicht nur für ein Wiederaufleben antiker Bildungsideale, sondern auch für eine neue Zuversicht, dass der Mensch die Welt selbstständig erkennen kann – jenseits der kirchlichen Dogmen und der scholastischen Tradition.

Francis Bacon: Der optimistische Neubeginn

Mit Francis Bacon betritt der vielleicht wichtigste Prophet der empirischen Wissenschaftsbefähigung die Bühne. Ihm schwebte ein methodisch kontrolliertes Fortschreiten des Wissens vor, getragen von systematischer Beobachtung und Erfahrung. Bacons berühmter Leitsatz „Wissen ist Macht“ ist keine bloße Technikgläubigkeit, sondern Ausdruck eines tiefen Vertrauens in die menschliche Erkenntnisfähigkeit – wenn nur die „Idole“ des Denkens (Vorurteile, Autoritätsgläubigkeit, metaphysische Spekulation) erkannt und überwunden würden.

In seinem Novum Organon sah Bacon die Natur wie ein Buch, das durch genaue Beobachtung gelesen und durch induktive Verfahren verstanden werden könne. Wahrheit, so seine Überzeugung, ist nicht verborgen oder metaphysisch entrückt, sondern – wie er schrieb – „if truth is manifest, it is there to be seen“. Das ist der Ausdruck eines tiefen Erkenntnisoptimismus: Wahrheit existiert objektiv und ist dem Menschen prinzipiell zugänglich – wenn er nur bereit ist, methodisch und vernunftgeleitet zu arbeiten.

Genau darin aber liegt bereits ein entscheidender Unterschied zu späteren relativistischen Denkansätzen: Für Bacon war Wahrheit weder relativ noch unerreichbar – sie war das Ziel einer noch unvollkommenen, aber grundsätzlich befähigten Menschheit.

René Descartes: Der Zweifel als Methode

Descartes, der große Rationalist, steht zunächst für etwas ganz anderes: den methodischen Zweifel. Doch auch er war kein Skeptiker im heutigen Sinne – sein Zweifel sollte nicht zerstören, sondern sichern. Mit dem berühmten cogito, ergo sum suchte Descartes ein Fundament, das allen Zweifeln standhielt. Von dort aus wollte er Schritt für Schritt eine verlässliche Erkenntniswelt errichten.

Auch Descartes war überzeugt, dass es Wahrheit gibt – und dass sie für den Menschen prinzipiell erreichbar ist. Der methodische Zweifel ist bei ihm nicht das Tor zur Beliebigkeit, sondern ein Werkzeug, um auf sicheren Grund zu gelangen.

Der Skeptizismus und seine Konsequenzen: David Hume

Im 18. Jahrhundert tritt mit David Hume ein Denker auf, dessen Zweifel tiefer reichen als alle bisherigen. Während Bacon und Descartes noch überzeugt waren, dass sich Gewissheit durch Methode oder Vernunft herstellen lässt, zersetzt Hume genau diesen Glauben. Seine berühmteste These betrifft die Kausalität – das Herzstück wissenschaftlicher Erkenntnis:

Wir beobachten nur, dass Ereignis B regelmäßig auf Ereignis A folgt. Aber dass A die Ursache von B ist – das können wir nie wirklich „sehen“. Diese Verbindung sei nicht objektiv gegeben, sondern eine Gewohnheit unseres Geistes, die wir durch Erfahrung gebildet haben.

Das ist ein Sprengsatz – denn er bedeutet: Die Grundstrukturen unseres Denkens über die Welt (z. B. Ursache und Wirkung) beruhen nicht auf logischer Notwendigkeit oder empirischer Beweisbarkeit, sondern auf innerer Konstruktion. Hume öffnet damit – vermutlich ohne es zu wollen – ein Tor, durch das später der radikale Relativismus schreiten wird.

Dabei war Hume selbst kein Relativist im heutigen Sinn. Sein Anliegen war es, die Grenzen der Vernunft und der Erfahrung zu zeigen, nicht, jede Wahrheit zu leugnen. Doch seine skeptischen Argumente wirkten nach – und das nachhaltig.

Kants Antwort: Rettung durch die Subjektbedingungen der Erkenntnis

Die Herausforderung durch Hume nahm Immanuel Kant so ernst, dass er sie als „Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer“ bezeichnete. Kants Antwort auf Hume ist einer der großen Rettungsversuche der Aufklärung. Seine transzendentale Wende stellt das Erkenntnissubjekt in den Mittelpunkt:

Nicht die Dinge an sich (Ding an sich) erkennen wir – sondern nur die Erscheinungen, so wie sie unter den Bedingungen unseres Erkenntnisapparats möglich sind. Raum, Zeit, Kausalität – sie sind keine Eigenschaften der Welt, sondern Formen unseres Denkens über die Welt.

Kant zog damit einen doppelten Strich:

  • Er akzeptierte die Kritik an einer unmittelbaren, objektiven Erkenntnis der „Wirklichkeit an sich“.
  • Aber er bewahrte die Wissenschaft vor dem Absturz in die Beliebigkeit, indem er zeigte: Innerhalb der subjektiven Bedingungen ist objektive Erkenntnis möglich.

Gerade Kant wird in heutigen Debatten oft missverstanden. Er war kein Relativist. Er relativierte nicht die Wahrheit, sondern nur unsere Zugangsweise zur Welt. Wahrheit bleibt bei Kant prinzipiell erreichbar – nicht absolut im Sinne metaphysischer Durchsichtigkeit, aber verlässlich innerhalb der Grenzen der Vernunft.

In gewisser Weise war Kant die erste große Immunantwort der Philosophie gegen den erkenntnistheoretischen Relativismus. Doch seine Rettung war nicht von Dauer.

Der Relativismus nimmt Fahrt auf (19.–20. Jahrhundert)

Nietzsche: Wahrheit als Illusion des Nützlichen

Mit Friedrich Nietzsche betritt ein Denker die Bühne, der das Wahrheitskonzept selbst frontal angreift. Seine berühmte Formel – „Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen“ – ist nicht bloß Provokation, sondern Ausdruck eines radikalen Perspektivismus:

Wahrheiten seien keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern kulturell erzeugte Illusionen, entstanden aus Machtverhältnissen, biologischer Nützlichkeit und sprachlicher Konvention. Wahrheit – so Nietzsche – sei letztlich eine „Art von Irrtum, ohne die eine bestimmte Gattung von Lebewesen nicht leben könnte“.

Damit sprengt Nietzsche den letzten Rest des klassischen Wahrheitsideals. Für ihn ist Philosophie keine Suche nach objektiver Erkenntnis mehr, sondern ein Akt schöpferischer Interpretation. Wer interpretiert, herrscht – und umgekehrt.

Diese Idee wurde später zum Grundstein postmoderner und dekonstruktivistischer Theorien. Nietzsche ist so gesehen der prophetische Vater eines „starken Relativismus“, auch wenn er ihn selbst nie systematisch ausbuchstabiert hat. Trotzdem ist Nietzsches Werk nicht bloße Literatur oder philosophische Skurrilität – sondern wirkt bis heute auf die Epistemologie.

Historismus: Wahrheit im historischen Kontext

Parallel dazu entwickelt sich im 19. Jahrhundert der Historismus (u. a. Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband). Hier liegt der Fokus nicht auf subjektiver Interpretation, sondern auf der Einsicht:

Alle Erkenntnis ist geschichtlich bedingt.

Wissenschaftliche Begriffe, Methoden und Kategorien seien nicht zeitlos gültig, sondern Ausdruck einer bestimmten kulturellen Epoche. Wahrheit wird somit kontingent, also abhängig von den historischen Bedingungen ihres Entstehens. Ersichtlich nähern wir uns hier den aus der Retrospektive entwickelten Thesen Foucaults, Derridas und Lyotards. Dilthey und Co. entwickelten sich jedoch nicht in deren radikale Leugnung objektiver Wahrheiten, sondern legten den Grundstein für die geisteswissenschaftliche Hermeneutik (Gadamer, Habermas) und den dort entwickelten Unterschied zwischen Erklären und Verstehen als epistemologische Alternative zur Naturwissenschaft.

Der Historismus will allerdings nicht beliebig sein – er sucht die Wahrheit in der Tiefe historischer Kontexte, nicht in ewigen Prinzipien. Doch die Folge ist dieselbe: Der Glaube an eine universell gültige Erkenntnis wird weiter ausgehöhlt.

Pragmatismus: Wahrheit als das, was funktioniert

In den USA entwickelt sich um die Jahrhundertwende eine weitere erkenntnistheoretische Richtung, der Pragmatismus. Seine Hauptvertreter – Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey – wollten den Wahrheitsbegriff praktisch erden:

„Wahr ist das, was sich im praktischen Leben bewährt.“

Das bedeutet: Eine Aussage ist dann wahr, wenn sie funktioniert, wenn sie uns hilft, Probleme zu lösen, Orientierung zu finden oder erfolgreich zu handeln.

Was hier zunächst wie eine nützliche Operationalisierung klingt, birgt – bei unreflektierter Anwendung – die Gefahr: Wahrheit wird zur Funktion. Damit kann alles, was „wirkt“, auch als „wahr“ gelten – ein Einfallstor für Subjektivismus und instrumentelles Denken. Außerdem können wir meist gar nicht sicher sagen, was in einer Kausalkette wirklich „gewirkt“ hat – das hat uns schon Hume gelehrt. Ersichtlich wurde hier der Grundstein für viele heutige „Wirkungs- und Evidenzdiskurse“ gelegt – bis hin zu Pseudowissenschaften, die auf „Wirksamkeit“ pochen, ohne epistemische Substanz zu bieten. Diese problematische Gleichsetzung von „etwas wirkt“ mit „es ist wirksam“ hat Johannes Köbberling in seinem Buch Wirkung ohne Wirksamkeit treffend benannt – eine Differenz, die in der Pseudomedizin systematisch ignoriert wird.

Peirce selbst war sich dieser Gefahr bewusst. Er betonte die langfristige Übereinstimmung im rationalen Diskurs als Kriterium für Wahrheit – eine Idee, die Karl Popper später wieder aufnehmen sollte. Doch im Alltag wurde aus dem Pragmatismus oft eine Einladung zur Relativierung epistemischer Maßstäbe.


Die Wurzeln des Relativismus II – Die Scholastik und der Aristoteles-Streit

Vernunftwahrheit und Offenbarungswahrheit als Elemente eines größeren Wahrheitsbegriffs nach Thomas von Aquin

Einleitung: Der große Sprung – und warum er Sinn ergibt

Zwischen dem antiken Streit über Wahrheit und der scholastischen Philosophie des Mittelalters liegen viele Jahrhunderte. Und doch ist unser Sprung bis ins Mittelalter gerechtfertigt, den wir hier vom ersten zum zweiten Teil unserer kleinen Serie wagen: Denn nach der Antike herrschte zunächst der nüchterne Pragmatismus der römischen Welt und danach wurde die Frage nach Wahrheit und Erkenntnis weitgehend theologisch überformt. Die aufkommende christliche Weltdeutung setzte transzendente Wahrheit als gegeben voraus. Sie war nicht mehr Gegenstand von Diskurs, sondern Ergebnis von Offenbarung. Philosophische Relativismusdebatten hatten in dieser Ordnung keinen Platz. Erst mit der Wiederentdeckung des Aristoteles entstand erneut ein Spannungsfeld: zwischen Glaube und Vernunft, Dogma und Logik, Offenbarung und Beobachtung. In diesem Konflikt formiert sich ein neues Nachdenken über Wahrheit – und damit ein neues Kapitel der Relativismusgeschichte. Eine, die insofern fruchtbar war, als sie die ein erster Einbruch in die christliche Ultradogmatik war.

Die Scholastik – Versuch einer Synthese

Die Scholastik war kein homogener Denkstil, sondern eine intellektuelle Bewegung, die im 12. und 13. Jahrhundert versuchte, antikes Wissen mit christlicher Lehre zu versöhnen. Zentraler Akteur: Thomas von Aquin. In seinem Werk findet sich ein bemerkenswerter Versuch, Vernunft und Glaube miteinander zu versöhnen. Die von Aristoteles geprägte Logik und Naturbetrachtung sollte nicht länger als Bedrohung, sondern als Stütze des Glaubens verstanden werden.

Thomas entwickelte die Idee zweier Wahrheitsbereiche: der Vernunftwahrheiten, etwa über die Natur, und der Offenbarungswahrheiten, wie die Trinität oder die Auferstehung. Beide sollten sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Die Scholastik wollte also keinen Relativismus, sondern eine geordnete Vielheit von Wahrheiten unter einem letzten Wahrheitsbegriff.

Albertus Magnus: Lehrer der Erfahrung

Ein weiterer zentraler Denker war Albertus Magnus, Lehrer des Thomas von Aquin. Albert betonte als einer der ersten mittelalterlichen Philosophen die Bedeutung von Beobachtung und Experiment. Für ihn war die Natur keine bloße Illustration heiliger Schriften, sondern ein Untersuchungsgegenstand eigener Art. Sein systematisches Interesse an Naturphänomenen, seine botanischen und zoologischen Studien, seine physikalischen Experimente: all das markiert einen bemerkenswert wissenschaftsnahen Ansatz für seine Zeit.

Zugleich war Albert ein Brückenbauer: Er übersetzte, kommentierte und systematisierte das Werk des Aristoteles, bemühte sich aber darum, dessen Philosophie nicht einfach in den Dienst der Theologie zu stellen. Vielmehr verstand er Naturwissenschaft als eigenständige Erkenntnisform, die sich mit der Offenbarung nicht notwendigerweise überschneiden muss. Das war ein vorsichtiger, aber klarer Schritt zur Entflechtung von Glaube und Wissen.

Der doppelte Wahrheitsbegriff – Provokation und Gefahr

Nicht alle Denker blieben so vorsichtig. In der Schule des radikalen Averroismus, etwa bei Siger von Brabant, tauchte eine provokante Idee auf: Es könne zwei Wahrheiten geben – eine theologische und eine philosophische. Was nach Vernunft als wahr gilt, müsse nicht notwendigerweise mit dem Glauben übereinstimmen. Dies war keine Synthese mehr wie beim Aquinaten, sondern ein Pluralismus der Wahrheiten.

Dieser doppelte Wahrheitsbegriff war ein epistemologischer Tabubruch. Denn wenn das, was in der Philosophie als wahr gelten darf, im Glauben falsch sein kann – dann wird Wahrheit selbst kontextabhängig. Und das ist die Kernidee eines Relativismus. Kein Wunder, dass die Kirche reagierte.

Die Verurteilung von 1277 – Wahrheit als Machtfrage

Die Pariser Theologiefakultät verurteilte 1277 219 aristotelische und averroistische Thesen. Offiziell ging es um Irrlehren. Inoffiziell war es ein politischer Akt zur Wahrung epistemischer Deutungshoheit. Der Gedanke, dass es mehrere Wahrheiten geben könnte, war unvereinbar mit dem kirchlichen Wahrheitsmonopol. Relativismus wurde nicht argumentativ widerlegt, sondern institutionell unterdrückt. Doch die Fragen blieben im Raum.

Langfristige Wirkung: Aristotelismus als Einfallstor des Denkens

Trotz der Verurteilungen setzte sich das aristotelische Denken durch. Die Universitäten griffen es auf, die Scholastik entwickelte sich weiter, und aus der Verbindung von Logik, Grammatik und Metaphysik entstand eine intellektuelle Infrastruktur, auf der später die Wissenschaften aufbauen konnten.

Die Scholastik hat den Relativismus nicht hervorgebracht, aber sie hat das epistemologische Denken differenziert. Sie zeigt, dass man um Wahrheit ringen kann, ohne sie zu relativieren – und dass dies manchmal der schwierigere Weg ist.

Brücke zur Gegenwart: Die postmoderne Umkehrung

Heute erleben wir eine seltsame Umkehrung: Was im Mittelalter als Provokation galt, ist heute intellektuelle Gewohnheit. Die Idee, dass jede Wahrheit kontext- und standpunktabhängig sei, wird nicht mehr bekämpft, sondern als Ausdruck pluralistischer Aufgeklärtheit verstanden.

Der „doppelte Wahrheitsbegriff“ ist zur Vielheit von Wahrheiten geworden. Doch je mehr Wahrheit relativiert wird, desto mehr wird sie ausgehöhlt. Was als Toleranz beginnt, endet nicht selten in Beliebigkeit. Die Scholastiker wussten: Ohne gemeinsame Kriterien verlieren wir den Begriff von Erkenntnis selbst.

Fazit: Eine Lektion in intellektueller Balance

Die Scholastik war weder Aufklärung noch Wissenschaft im modernen Sinn. Aber sie war ein historischer Versuch, die Vernunft nicht zu unterdrücken – sondern einzubinden. In diesem Versuch steckt eine Lektion, die bis heute gültig ist: Wahrheit braucht Offenheit, aber auch Ordnung. Wer der Vernunft zu viele Grenzen setzt, macht sie wirkungslos. Doch wer ihr gar keine setzt, verliert sie aus dem Blick.

Der Streit um Aristoteles war kein Nebenschauplatz der Philosophiegeschichte. Er war ein früher Kulminationspunkt der Relativismusdebatte – und ein Vorzeichen kommender Brückenbrände im Kampf um die Wahrheit.


Die Wurzeln des Relativismus I – Ein Blick in die Antike

Der Reiz des Relativismus

Warum hat der Relativismus einen so dauerhaften Reiz? Vielleicht, weil er dem subjektiven Empfinden des Menschen entgegenkommt. Wer kennt nicht das Gefühl: „Meine Wahrheit ist nicht deine Wahrheit“? Die Vorstellung, dass es keine objektive Wahrheit gebe, sondern jede Erkenntnis relativ zu Perspektive, Kultur oder Sprache sei, fasziniert und beunruhigt gleichermaßen. Dass diese Idee keineswegs neu ist, sondern ihre Wurzeln tief in der Antike hat, ist weniger bekannt.

Der Relativismus hat gedanliche Wurzeln bis zurück ihn die Antike (Microsoft Copilot)

Protagoras und der Homo-Mensura-Satz

Protagoras von Abdera (5. Jh. v. Chr.) formulierte mit seinem berühmten Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ einen frühen epistemischen Relativismus. Was mir erscheint, das ist für mich wahr; was dir erscheint, ist für dich wahr. Wahrheit wird zur Privatangelegenheit.

Diese Position ist jedoch nicht mit der eines modernen Humanismus zu verwechseln. Während dieser sich auf den Menschen auf ethischer Grundlage als vernunftbegabtes Wesen und Träger universeller Werte zentriert, meint Protagoras den Menschen als einzelnes, subjektives Erkenntnissubjekt.

Der Homo-Mensura-Satz ist keine Ethik, sondern eine erkenntnistheoretische Behauptung: Alle Erkenntnis ist relativ zur Wahrnehmung des Einzelnen. Der moderne Humanismus dagegen beruht auf der Idee einer überindividuellen Vernunftfähigkeit des Menschen. Protagoras relativiert Wahrheit; der Humanismus versucht, sie zu begründen. Die oberflächliche Ähnlichkeit der beiden Ansätze – der Mensch im Mittelpunkt – ist also trügerisch.

Platons Fundamentalkritik

Platon greift Protagoras in seinem Dialog Theaitetos frontal an. Sein Hauptargument: Der Satz „Alle Meinungen sind wahr“ widerspricht sich selbst. Wenn auch die Meinung wahr ist, dass nicht alle Meinungen wahr sind, dann hebt sich die Aussage selbst auf.

Platon kritisiert den Relativismus aber nicht nur logisch, sondern auch politisch. Wenn jede Meinung gleich wahr ist, wird rationale Debatte unmöglich. Wissenschaft und Politik geraten in die Beliebigkeit. Diese Argumente sind bis heute zentral in der Kritik am erkenntnistheoretischen Relativismus.

Wir finden in Platons Argumentation im Theaitetos gegen den Relativismus des Protagoras einem Gedanken, der fast 2.500 Jahre später von Paul Boghossian in Fear of Knowledge wieder aufgegriffen wird: Der Anspruch, dass ‚alle Wahrheit relativ sei‘, widerspricht sich selbst – denn auch diese Aussage müsste dann relativ sein und könnte keine Geltung über sich hinaus beanspruchen. Diese klassische Figur der Selbstwiderlegung ist bis heute eines der stärksten Argumente gegen erkenntnistheoretischen Relativismus.

Die Sophisten als erste postmoderne Denker?

Die Sophisten wie Gorgias oder Thrasymachos vertraten oft Positionen, die an moderne Dekonstruktionen erinnern. Gorgias‘ radikale Dreifachthese lautete:

  • Es gibt nichts.
  • Wenn es etwas gibt, kann man es nicht erkennen.
  • Und selbst wenn man es erkennen kann, kann man es nicht mitteilen.

Diese Position, die Sprache, Erkenntnis und Wirklichkeit voneinander trennt, findet sich ähnlich in Derridas Sprachskepsis oder Foucaults Machtbegriff. Der Gedanke, dass Wahrheit konstruiert sei, hat hier seinen historischen Vorläufer.

Die antiken Skeptiker: Wahrheit als unerreichbares Ideal

Anders als die Sophisten bezweifelten die pyrrhonischen Skeptiker nicht die Existenz von Wahrheit, sondern unsere Möglichkeit, sie zu erkennen. Sie propagierten „Epoché“ – das Urteilsenthalten –, weil jeder Aussage eine gleich starke Gegenposition entgegengesetzt werden könne (Isosthenie). Ihr Einfluss reicht bis zu Descartes‘ methodischem Zweifel und zur modernen erkenntnistheoretischen Skepsis.

Aristoteles: Ein alternatives Fundament

Aristoteles stellte dem Relativismus ein rationales Fundament entgegen. Mit seinem Satz vom Widerspruch – dass eine Aussage nicht zugleich wahr und falsch sein kann – legte er die Grundlage für logisches Denken und empirische Wissenschaft und trat relativistischen Gedanken direkt entgegen. Seine Philosophie betont die Möglichkeit objektiver Erkenntnis durch Vernunft und Erfahrung.

Fazit: Die Antike als Spiegel der Gegenwart

Die Relativismus-Debatte ist so alt wie die Philosophie selbst. Schon die Antike kannte die Argumente, die heute in Diskussionen um „alternative Fakten“ und „gefühlte Wahrheiten“ wiederkehren. Protagoras, Gorgias und die Skeptiker auf der einen Seite, Platon und Aristoteles auf der anderen, markieren die großen Linien eines Streits, der bis heute andauert.

Wer den modernen Relativismus verstehen will, sollte wissen, woher er kommt.


Judith Butlers Performativität: Die Ontologie aller Ontologien? Ein Schwerpunktartikel

Die Singularität der performativen Sprache verschlingt das Reich des Objektiven und Rationalen (Microsoft Copilot)
Hinweis (Juli 2025): Dieser Artikel wurde im Rückblick noch einmal überarbeitet und sprachlich präzisiert. Einige zu absolute Formulierungen wurden entschärft, um den kritischen Gehalt des Textes besser mit der komplexen Denkfigur Judith Butlers in Einklang zu bringen. Die grundsätzliche Kritik bleibt bestehen – aber sie soll nun klarer zwischen theoretischer Analyse und politischer Rezeption unterscheiden. Einzelne Formulierungen zur „ontologischen Setzung“ wurden abgeschwächt oder präzisiert, da sich Butlers Ansatz eher als sprach- und gesellschaftstheoretische Modellbildung denn als systematische Ontologie begreifen lässt. Die überarbeitete Fassung berücksichtigt diese Differenzierungen.

Die neue Macht der Sprache

Judith Butler radikalisiert den sprachzentrierten Ansatz der Postmoderne, indem sie Sprache nicht mehr nur als Medium der Welterschließung versteht, sondern als konstitutive Kraft sozialer Wirklichkeit. In ihren Schriften wird Realität nicht vorausgesetzt, sondern erscheint als Effekt diskursiver Praktiken – vor allem jener Performanzen, die sich in Wiederholungen sozialer Normen verfestigen. Was daraus entsteht, ist keine Ontologie im klassischen Sinne, sondern ein Modell von Realität, das die Vorstellung stabiler Identitäten und körperlicher Gegebenheiten zugunsten einer situativ erzeugten und sprachlich codierten Wirklichkeit auflöst.

Butlers Theorie der Performativität will nicht bloß beschreiben, wie Geschlechtsidentitäten gesellschaftlich entstehen, sondern zugleich die epistemologischen und politischen Voraussetzungen dieser Prozesse offenlegen. In diesem Sinne ist ihre Theorie sowohl erkenntniskritisch als auch emanzipatorisch motiviert. Doch je stärker die performative Konstitution von Wirklichkeit als alleinige Erklärung beansprucht wird, desto näher rückt sie an das, was sie selbst nicht sein will: eine neue Ontologie – allerdings ohne deren klassisch-philosophische Fundierung. Hier liegt ein innerer Widerspruch, der die politische Wirkungskraft ihrer Theorie in eine dogmatische Richtung verschieben kann.

Denn wer Performativität als alleinigen Schlüssel zur Wirklichkeit versteht, setzt faktisch doch wieder eine neue Wirklichkeitsstruktur – nur dass diese nicht mehr naturhaft oder metaphysisch begründet ist, sondern diskursiv erzeugt und sprachlich kontrolliert. Die Folge ist ein Denken, das sich jeder übergeordneten Normativität entzieht, zugleich aber eine neue, schwer kritisierbare Praxisnorm etabliert: Wer sich dieser Logik widersetzt, gilt als Teil eines repressiven Diskurses und wird moralisch delegitimiert.

Gerade darin liegt das Risiko: Aus einer dekonstruktiven Theorie wird eine neue Form epistemischer Orthodoxie. Die einst kritische Haltung gegenüber normativen Zuschreibungen kippt um in eine neue normative Erwartung, die nicht mehr diskutiert, sondern sanktioniert. Damit wird aus einem emanzipatorischen Ansatz eine epistemologisch instabile Ideologie – eine „Ontologie aller Ontologien“, nicht im philosophischen, sondern im politischen Sinne.

Diese Entwicklung zu reflektieren und zu kritisieren heißt nicht, die berechtigten Anliegen der Queer-Theorie oder die analytische Schärfe Butlers zurückzuweisen. Es heißt, zwischen erkenntnistheoretischem Zweifel und dogmatischem Absolutheitsanspruch zu unterscheiden – und zu verhindern, dass eine Theorie, die das Feste in Frage stellen wollte, selbst zum neuen Dogma wird.

„Performativität“ – kurz erklärt:

Wenn etwas performativ ist, bedeutet das: Es passiert nicht nur etwas im Sprechen, sondern durch das Sprechen. Sprache ist dann nicht bloß Beschreibung, sondern Handlung.
Ein berühmtes Beispiel: Wenn jemand sagt „Ich erkläre euch zu Mann und Frau“, dann geschieht durch diesen Satz etwas Reales – es ist eine Handlung in sprachlicher Form.
Judith Butler hat dieses Prinzip auf Geschlecht und Identität übertragen: Auch sie entstehen (mit), weil sie immer wieder sprachlich und sozial „vollzogen“ werden.

Butlers Sprachtheorie: Bedingung der Realität

Judith Butler treibt den sprachzentrierten Ansatz der Postmoderne dabei auf die Spitze – nicht, indem sie eine neue Ontologie entwirft, sondern indem sie die Geltung des Realen selbst an sprachlich vermittelte Praktiken koppelt. Was als kritische Analyse sozialer Zuschreibungen beginnt, wird zur These, dass Identität überhaupt erst durch sprachlich wiederholte Performanz entsteht. Der Körper ist dann nicht mehr vorausgesetzter Träger von Geschlecht, sondern Resultat diskursiver Codierungen. Sprache wird so nicht bloß Medium der Bedeutungszuschreibung, sondern Bedingung der Sichtbarkeit, der Anerkennung und letztlich der Realität selbst. Ohne dies je ontologisch durchzubuchstabieren, entsteht ein Denken, das das Soziale zur einzigen Bühne des Wirklichen macht – und auf dieser Bühne wird Identität nicht entdeckt, sondern inszeniert.

Doch Sprache ist kein geschlossener Erkenntnisraum. Sie ist Werkzeug, nicht Welt. Eine Voraussetzung des Realen, die sich aus Sprache allein ableitet, bleibt zwangsläufig zirkulär – und läuft Gefahr, jede außersprachliche Wirklichkeit zu negieren oder unter Generalverdacht zu stellen. Das aber ist nicht fortschrittlich, sondern erkenntnistheoretisch regressiv: Ein Rückfall in eine Weltdeutung, in der am Ende nicht mehr zählt, was ist – sondern nur noch, was sagbar erscheint.

Hier fällt die postmoderne Kritik in einen Regress:

Was ursprünglich als Befreiung von hegemonialen Wahrheiten gedacht war,
führt zur Ersetzung des Wahrheitsbegriffs durch diskursive Geltung. Wohlgemerkt: Die Relevanz von Wahrheit wird nicht widerlegt, sondern ersetzt – durch Deutungshegemonie, durch Betroffenheit, durch Sprechpositionen.
Und genau das ist eine neue Machtordnung, nur nicht mehr epistemisch, sondern sozial kodiert.

Was nicht sagbar ist, gilt nicht.
Was nicht performativ anerkannt wird, existiert nicht
.

Das ist nicht Dekonstruktion von Macht – das ist Reproduktion von Macht durch Diskursbarrieren.

Dies markiert den erkenntnistheoretischen Nullpunkt der Postmoderne, an dem Wahrheit durch Diskurs ersetzt und Diskurs durch Macht strukturiert wird – oft unter dem Vorwand, genau das zu verhindern.

Die postmoderne Kritik wollte Wahrheit entmachten – und hat dabei vergessen, dass auch das Sagbare eine Herrschaft kennt.-

Zur Redlichkeit im philosophischen Sinne

Daraus ergibt sich eine sehr berechtigte Frage, die sich bei der Lektüre von Butlers Werk – insbesondere Gender Trouble und Bodies That Matter – vielen früher oder später aufdrängt. Man könnte sie so formulieren:

Ist Judith Butler eine radikale Denkerin mit hoher Konsequenz – oder eine brillante Konstrukteurin intellektueller Nebelmaschinen, die eine ideologisch anschlussfähige Lehre geschaffen hat, deren Popularität auf performativer Unangreifbarkeit beruht?

Philosophisch redlich ist, wer seine Prämissen offenlegt, seine Begriffe klärt, Gegenpositionen ernsthaft reflektiert und zu zeigen versucht, wie und warum er zu einer bestimmten These gelangt ist. Genau das wird Butler häufig abgesprochen – und das nicht nur von „kritischen Konservativen“, sondern auch von namhaften Philosophen wie:

  • Martha Nussbaum, die Butler in The Professor of Parody (1999) vorwirft, Sprache zur Ausübung intellektueller Macht zu missbrauchen, statt zu klären.
  • John Searle, der Butlers Sprachverwendung als „bewusst obskur“ kritisiert und sie beschuldigt, Wittgenstein und Austin zu verfälschen.
  • Noam Chomsky, der – sinngemäß – sagt, dass es sich bei solchen Texten um „Hochstapelei mit französischer Lizenz“ handele.

Diese Kritiker sprechen Butler nicht ab, dass sie etwas denkt – wohl aber, wie sie es darstellt, nämlich als ein absichtsvoll undurchsichtiges Konstrukt, das sich dem rationalen Diskurs systematisch entzieht.

Performativität: Sprechen als Wirklichkeitsvollzug

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Butlers zentraler Begriff – Performativität – selbst performativ wirkt: Ihre Texte sind oft derart formuliert, dass der Eindruck entsteht, sie vollziehen bereits jene Komplexität, die sie behaupten. Das wirkt intellektuell souverän, ist aber schwer überprüfbar – und genau das schützt vor Kritik. Was man nicht nachvollziehen kann, kann man schwerlich falsifizieren.

Diese Undurchdringlichkeit ist Teil des Phänomens Butler. Viele Anhänger nehmen ihre Texte nicht als nachvollziehbare Theorie, sondern als intellektuelle Stimulanz – sie wirken, statt erklärt zu werden. Die Folge: Es entsteht eine Art Deutungselite, eine hermeneutische Priesterschaft, die den Text auslegt. So entstehen religiöse Bewegungen.

Manipulation oder Ausdruck intellektueller Konsequenz?

Hier scheiden sich die Geister. Es wäre voreilig, Butler absichtsvoll manipulative Absichten zu unterstellen. Vielmehr lässt sich ihr Zugang als konsequente Fortführung eines erkenntnistheoretischen Strangs verstehen, der tief in der französischen Postmoderne wurzelt. Aber sie verzichtet – und das kann man ihr vorwerfen – weitgehend auf metatheoretische Reflexion, auf die Auseinandersetzung mit den methodischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ihrer eigenen Theorie. Auch kühne und konsequente Theorien bedürfen einer selbstkritischen metatheoretischen Prüfung, die Butler nicht leistet. Das ist unredlich im wissenschaftlichen Sinne – auch wenn es wohl aus einem radikalen Anspruch an Kritik als Dekonstruktion motiviert ist.

Butler als Autorin eines Dogmas mit Charisma

Butler ist zu einer Art Wahrheitsinstanz geworden – nicht durch Verständlichkeit, sondern durch die Verbindung von:

  • moralischem Anspruch,
  • sprachlicher Abstraktion,
  • institutioneller Rückendeckung.

Man könnte sagen: Sie hat nicht die Wahrheit geschrieben, aber den Mythos eines neuen Wahrheitsbegriffs geschaffen – und das mit erheblichem charismatischem Kapital. Das wiederum wirft die Frage auf, ob und wie in der Wissenschaft charismatische Autorität wirken darf – ein Thema, das wieder an Foucaults Machttheorie anschließt.


Fazit

Judith Butler bleibt eine faszinierende Figur – weniger wegen der theoretischen Tiefe ihrer Werke als wegen der Wirkungsmacht, die sie durch eine Mischung aus sprachlicher Undurchdringlichkeit, moralischem Anspruch und philosophischer Anschlussfähigkeit entfaltet hat. Ob sie intellektuell redlich ist, darüber kann man streiten. Was aber sicher ist: Sie hat die Grenzen zwischen Erkenntnis und Deutung, zwischen Philosophie und Performanz, zwischen Wissenschaft und Weltanschauung bewusst verwischt – und genau darin liegt ihr Einfluss. Man kann Butlers Performativität eine „dekonstruierende Hermeneutik“ nennen, wenn man betonen will, dass Sinn in ihr nie stabil, sondern immer unter Verdacht steht.

Anders als Hans-Georg Gadamers Hermeneutik, die sich ausdrücklich auf die Geisteswissenschaften beschränkt und dort Verstehen und Verständigung als Ziel verfolgt, kennt Butlers sprachzentrierte Ontologie der Performativität keine solche Selbstbegrenzung.

Zwar reklamiert sie nicht explizit Geltung im naturwissenschaftlichen Bereich, schließt diesen aber – etwa in der Gendertheorie – auch nicht aus. Mehr noch: Sie entzieht sich der Verantwortung, dort, wo ihre Theorie als Deutungsmacht in Realwissenschaften eingreift, Korrekturen oder Differenzierungen einzufordern. Gadamers Hermeneutik bleibt trotz ihres anti-naturwissenschaftlichen Gestus epistemisch bescheiden, während Butlers sprachzentrierte Performativität sich implizit zur universalen Weltdeutungsform aufschwingt – ohne Begrenzung, ohne Selbstrelativierung. Das ist kein Zufall, sondern ein offenes Fluchttor für jegliche Art von identitärer Weltumdeutung, bis hinein in medizinische, biologische, physikalische Diskurse – dort, wo es eben nicht um Deutung, sondern um Struktur und Replizierbarkeit geht.

Judith Butler bleibt einflussreich – weniger durch die Klarheit ihrer Theorie als durch ihre Wirkungsmacht. Diese gründet nicht auf Verständlichkeit, sondern auf einer Mischung aus moralischem Anspruch, sprachlicher Abstraktion und institutioneller Resonanz. Ihr Werk verwischt bewusst die Grenzen zwischen Erkenntnis und Deutung, zwischen Philosophie und Performanz. Genau darin liegt seine Kraft – und seine Problematik.


Kleiner Hinweis in eigener Sache:

Ich habe diesen Text mit großem Respekt, aber auch mit kritischer Distanz geschrieben. Judith Butlers Werk hat ohne Zweifel eine immense Wirkung entfaltet – nicht nur in der akademischen Welt, sondern weit darüber hinaus. Gerade deshalb war es mir wichtig, nicht vorschnell zu urteilen, sondern ihre Überlegungen ernsthaft zu rekonstruieren und die eigentümliche Rezeptionsgeschichte in den Blick zu nehmen.

Meine kritischen Anmerkungen richten sich daher nicht auf eine Person oder ein Lebenswerk, sondern auf bestimmte theoretische Zuspitzungen und auf die Folgen, die sich aus ihrer Deutung und Weiterverwendung ergeben haben. Wer pauschale Ablehnung oder persönliche Abrechnung erwartet, wird in diesem Text nicht fündig.


Sprache als Realitätssurrogat? (Ein Schwerpunktartikel)

Sprache als Realitätssurrogat (Microsoft Copilot)

Der zweite der Schwerpunktartikel in der Nachfolge meiner Artikelserie zur Erkenntnisrelativieriung widmet sich einem zentralen Missverständnis der postmodernen Theorieentwicklung – nämlich der Vorstellung, Sprache sei nicht nur Medium, sondern Ursprung von Wirklichkeit. Eine Annahme, die weitreichende – und vielfach verheerende – Auswirkungen auf unser heutiges Verständnis von Erkenntnis, Kommunikation und Realität hat.

Der Hebel fehlt – oder: Warum Sprache allein die Welt nicht aus den Angeln hebt

Wenn Archimedes wirklich gesagt hat, er brauche nur einen festen Punkt und einen ausreichend langen Hebel, um die Welt aus den Angeln zu heben, dann lässt sich das Verhältnis der französischen Postmoderne zur Sprache mit einem leichten Kopfschütteln kommentieren: Sie glaubten, diesen Hebel bereits in Händen zu halten – und merkten nicht, dass ihnen der feste Punkt fehlte.

Derrida, Butler und andere Apostel einer radikal sprachzentrierten Weltsicht wollten das Denken befreien – und verwechselten dabei das Werkzeug mit dem Universum. In ihrer Lesart wird Sprache nicht länger als Medium der Beschreibung verstanden, sondern als Ursprung von Wirklichkeit selbst: Realität wird zur grammatikalischen Option, Bedeutung zum Spiel der Zeichen. Doch wer Sprache zur Gottheit erhebt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er auf dem Marktplatz der Begriffe nur noch Priester und Gläubige antrifft – aber keine Analytiker mehr.

Was dabei übersehen wird: Sprache ist keine Allmacht, sondern ein Werkzeug. Sie hilft, Welt zu ordnen – sie ersetzt sie nicht. Der Gedanke, dass ein System von Zeichen, so brillant es sich selbst dekonstruiert, die Wirklichkeit konstituieren könne, ist nicht nur ein erkenntnistheoretischer Kurzschluss – er steht auch im offenen Widerspruch zu allem, was die Sprachwissenschaft seit einem Jahrhundert herausgearbeitet hat.Die extreme Sprachzentriertheit der Postmodernen – insbesondere bei Derrida und Butler – operiert erstaunlich oft im luftleeren Raum, als gäbe es keine historische, anthropologische oder strukturelle Realität von Sprache jenseits ihrer Rolle als Trägerin von Macht und Bedeutung.

In der Rezeption postmoderner Theorien – besonders bei Butler – zeigt sich ein oft unbeachteter Übergang: Was ursprünglich als methodischer Zugriff gedacht war, wird zunehmend ontologisiert.
Sprache ist dann nicht mehr Mittel der Beschreibung oder Intervention, sondern Quelle von Realität selbst – ein Missverständnis, das der Theorie mehr zuschreibt, als sie offen zugibt, und mehr Wirkung entfaltet, als ihr viele ihrer Verteidiger zuschreiben wollen.

Was sagt die „klassische“ Sprachwissenschaft?

Sprachwissenschaft im engeren Sinne – also Linguistik, vergleichende Sprachforschung, Kognitionslinguistik oder Semantik – hat mit poststrukturalistischer Sprachphilosophie oft nur wenig zu tun. Viele Sprachwissenschaftler sehen die Postmodernen daher mit einer gewissen Skepsis:

  • Sprachentwicklung ist kein dekonstruktives Spiel, sondern ein evolutionärer, oft funktionaler Prozess. Strukturen entstehen aus Gebrauch, aus kognitiver Effizienz, aus sozialen Interaktionen – nicht primär aus Machtdiskursen.
  • Semantische Stabilität ist real, zumindest funktional: Worte mögen kulturell kodiert sein, aber sie funktionieren innerhalb von Sprachgemeinschaften ziemlich zuverlässig – sonst wäre Kommunikation nicht möglich. Für Butler hingegen ist selbst das ein Problem, weil Stabilität „Normierung“ impliziert.
  • Die Pluralität der Sprachen widerlegt stillschweigend das universalistische Geltungsbedürfnis vieler postmoderner Sprachmodelle. Denn die These, dass etwa „Sprache Realität erschafft“, kann nur metaphorisch gemeint sein – denn welche Realität genau? Die französischsprachige? Die sinotibetische? Die arabische? Die mit 4 Kasui oder die mit 15?
  • Sprachursprungsforschung, etwa in der Evolutionsbiologie oder der Archäolinguistik, betrachtet Sprache als eine adaptive Fähigkeit – nicht als Textstruktur oder Diskursraum. Das ist für postmoderne Theorien kaum anschlussfähig.

Es gibt gewichtige kritische Stimmen:

  • Steven Pinker, selbst Sprachforscher, hat in The Language Instinct (1994) und The Blank Slate (2002) die postmoderne Sprachtheorie ziemlich scharf kritisiert. Für ihn ignorieren Butler & Co. völlig, dass Sprache in unserem Gehirn verankert ist – als kognitive Fähigkeit, nicht bloß als kulturelle Konstruktion.
  • John Searle (u.a. Speech Acts und seine Debatten mit Derrida) hat sehr pointiert erklärt, dass Dekonstruktion kein sprachphilosophisch tragfähiges Konzept sei, weil sie die Pragmatik der Sprache, ihre Konventionalität und Funktionalität ignoriert.
  • Noam Chomsky hat zwar selbst politische Kritik geübt, aber die französischen Intellektuellen als erkenntnistheoretisch „unernst“ bezeichnet. Für ihn war der Mangel an empirischer Fundierung schlicht inakzeptabel.

Interessant: Chomsky war – wie Pinker – davon überzeugt, dass es eine angeborene Sprachfähigkeit gibt. Das passt überhaupt nicht zu der Idee, dass Sprache vollständig sozial erzeugt oder beliebig konstruierbar sei.

Die Welt ist kein Text – und Sprache kein Ersatz für Erkenntnis

Wer meint, die Welt sei ein Text, wird am Ende wohl auch glauben, dass ein Wörterbuch eine Landkarte ersetzen könne. Doch Sprache ist nicht der Ursprung der Wirklichkeit, sondern ihre Spur – ein feines, oft irreführendes Netz aus Zeichen, das uns Orientierung bietet, solange wir nicht vergessen, dass es nur ein Netz ist und kein Boden.

Die französischen Postmodernen haben vieles in Bewegung gesetzt, nicht zuletzt durch ihre sprachmächtige Skepsis gegenüber allem Festgefügten. Aber wer den Boden unter den Füßen zersägt, sollte sich nicht wundern, wenn er bald nicht mehr weiß, wo oben und unten ist.

Noam Chomsky – nicht eben bekannt für diplomatische Zurückhaltung – nannte das, was Derrida und Kollegen betrieben, schlicht „linke Obskurantismus-Tradition“. Für ihn ist Sprache kein diskursives Nebelwerk, sondern ein biologisch fundiertes, kognitives Werkzeug mit universalen Strukturen. Und es gibt für ihn keinen Zweifel daran, dass es eine objektive Realität gibt, auf die Sprache sich bezieht – ob Derrida das nun gefällt oder nicht.

Auch John Searle, ein anderer Schwergewichtsdenker der Sprachphilosophie, wies mehrfach darauf hin, dass Derridas Theorien zwar elegant klingen mögen, aber bei näherer Betrachtung schlicht nicht funktionieren. Wenn jede Bedeutung nur ein Spiel aus Differenzen ist, so Searle sinngemäß, dann bleibt von Bedeutung am Ende nichts übrig – außer bedeutungsvoller Beliebigkeit.

Und Steven Pinker, mit seinem ganzen Elan als Sprachpsychologe und Aufklärer, ließ ohnehin nie einen Zweifel daran, dass postmoderne Sprachtheorien in erster Linie eines sind: empirisch unhaltbar. Für ihn ist Sprache evolutionär entstanden, ein mentales Organ, das sich entlang universeller kognitiver Muster entfaltet hat – nicht eine politische Waffe in einem endlosen Spiel der Diskurse.

Kurz: Die Sprachwissenschaft hat längst gezeigt, dass Sprache nicht alles ist – sondern etwas. Ein Teil unseres Zugriffs auf die Welt, aber eben nicht die Welt selbst. Wer das verwechselt, mag sich für radikal halten – verliert aber aus dem Blick, was die Aufklärung stets zu retten versuchte: die Unterscheidung zwischen Wort und Wirklichkeit, zwischen Beschreibung und Wahrheit.

In einem Zeitalter, das dringend auf Orientierung, Verständigung und überprüfbares Wissen angewiesen ist, ist es Zeit, die Sprache wieder als das zu begreifen, was sie ist: ein Werkzeug der Kommunikation, nicht der Ontologie. Ohne ein Außen zur Sprache, ohne ein Bezugssystem jenseits von Zeichen und Diskurs, bleibt uns nur ein endloser Dialog im Spiegelsaal – und das war, mit Verlaub, nie der Sinn von Erkenntnis.


Wer wissen möchte, was geschieht, wenn der Glaube an sprachlich konstruierte Wirklichkeit zur letzten Wahrheit wird, sollte weiterlesen: Der nächste Beitrag widmet sich Judith Butlers Versuch, Sprache zur Ontologie aller Ontologien zu machen.

Kuhn und Feyerabend: Epistemologischer Relativismus in der Wissenschaft? (Ein Schwerpunktartikel)

In einer Gesamtbetrachtung zum epistemologischen Relativismus ist es angezeigt, sich auch mit zwei Wissenschaftsphilosophen zu befassen, deren Arbeiten gemeinhin – oder allzu leichtfertig – mit einer Relativierung strenger erkenntnistheoretischer Prinzipien in Verbindung gebracht werden.

Dieser Beitrag ist Teil einer kleinen Reihe von Ergänzungen zur neunteiligen Serie über epistemologischen Relativismus. In diesen „Schwerpunktartikeln“ greife ich einzelne Themenaspekte auf, die in der Hauptreihe bereits angeklungen sind, dort aber nicht in der nötigen Tiefe behandelt werden konnten – sei es aus Gründen der Stringenz, der Dramaturgie oder des Umfangs. Die nun folgenden Texte sind als eigenständige Vertiefungen gedacht und sollen helfen, die erkenntnistheoretischen Zusammenhänge und Begriffsverschiebungen noch klarer herauszuarbeiten.

Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend haben mit ihren jeweiligen Ansätzen – dem Paradigmenwechsel (Kuhn) und dem methodologischen Anarchismus (Feyerabend) – die Wahrnehmung von Wissenschaft tiefgreifend beeinflusst. Ihr Einfluss auf den epistemologischen Relativismus ist jedoch unterschiedlich ausgeprägt und bedarf einer differenzierten Betrachtung. Diese ist umso bedeutungsvoller, als beide insbesondere im pseudomedizinischen Spektrum immer wieder als Kronzeugen für einen angeblich beliebigen Wahrheitsbegriff bemüht werden – zu Unrecht. Besonders Paul Feyerabends „anything goes“ wird gern als Beleg dafür genommen, dass er außerhalb der Idee vom objektiven Wissen zu verorten sei.


Thomas S. Kuhn: Paradigmen als erkenntnistheoretische Rahmen

Kuhns „The Structure of Scientific Revolutions“ (1962) gehört zu den einflussreichsten wissenschaftstheoretischen Werken des 20. Jahrhunderts. Seine zentrale These ist, dass Wissenschaft nicht linear-kumulativ verläuft, sondern durch diskontinuierliche Paradigmenwechsel geprägt ist. Ein Paradigma umfasst dabei nicht nur Theorien und Methoden, sondern eine spezifische wissenschaftliche Weltsicht, innerhalb derer Forschung betrieben wird.

Kuhns Modell stellt die Vorstellung eines stetig fortschreitenden Erkenntnisgewinns infrage, da Paradigmenwechsel nicht allein durch rationale Kriterien entschieden werden, sondern häufig durch soziologische und psychologische Faktoren beeinflusst sind. Kritiker werfen Kuhn daher vor, mit seiner Betonung der Inkommensurabilität von Paradigmen eine Tür zum epistemologischen Relativismus geöffnet zu haben: Wenn Paradigmen nicht objektiv vergleichbar sind, erscheint Wissenschaft als historisch-kulturelles Produkt ohne universal gültige Kriterien.

Hier liegt eine Schwäche seines Modells: Es historisiert. Ähnlich wie Foucault betrachtet Kuhn Wissenschaft primär im Rückblick auf große Umbrüche, etwa die kopernikanische Wende, und unterschätzt die kleinteilige, kontinuierliche Akkumulation von Wissen in den „normalwissenschaftlichen“ Phasen – die er nur innerhalb bestehender Paradigmen verortet. Wissenschaftliches Wissen wird heute insgesamt inkrementeller, empirisch stringenter und universalistischer produziert als in den historischen Brüchen, auf die Kuhn fokussiert. Das macht seine Vorstellung eines radikalen Paradigmenwechsels zunehmend unplausibel.

Wissenschaft ist heute so modular und interdisziplinär, dass selbst größere theoretische Umbrüche bestehende Erkenntnisse integrieren müssen. Selbst Einstein hat Newton nicht „gestürzt“, sondern dessen Theorie in einem präziseren Rahmen verortet. Der heutige Wissensstand ist so stark verflochten, dass Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne kaum mehr als realistische Beschreibung wissenschaftlicher Entwicklung gelten können. Wenn überhaupt, erleben wir eher „Paradigmenverdichtungen“: Theorien werden erweitert, präzisiert und methodisch besser abgesichert.

Allerdings wollte Kuhn selbst nie als Relativist verstanden werden. In späteren Schriften betonte er, dass Wissenschaft trotz Paradigmenwechsel progressiv sei und spätere Theorien größere Erklärungskraft besäßen. Dennoch bleibt sein Werk eine der am häufigsten missverstandenen Quellen für erkenntnistheoretischen Relativismus.

Kuhn hat eher eine narrative Rekonstruktion vergangener Wissenschaftsdynamiken geliefert als eine methodologische Anleitung. Sein Modell wirkt fast geologisch: stille Akkumulation von Spannungskräften, gefolgt von tektonischen Verschiebungen. Doch dies ist eine post hoc-Erzählung – keine vorausblickende oder steuerbare Erkenntnistheorie.

Dass Kuhns Theorie dennoch so wirkmächtig wurde, liegt vor allem an drei Faktoren:

  1. Narrative Kraft: Sein Modell der wissenschaftlichen Revolutionen ist eingängig, erzählbar und intuitiv anschlussfähig – vor allem für die Geisteswissenschaften.
  2. Anschlussfähigkeit an postmoderne Kritik: Auch wenn Kuhn kein Relativist war, wurde er so gelesen. Seine Theorie wurde zur Projektionsfläche für soziale Konstruktionismen.
  3. Wissenschaftshistorische Plausibilität: Für große historische Brüche bietet Kuhn ein durchaus brauchbares Deutungsmodell.

Ironischerweise hat Kuhn also selbst ein Paradigma geschaffen – das des nicht-linearen Wissenschaftsfortschritts –, das bis heute nachwirkt, auch wenn es epistemologisch überholt ist.


Paul Feyerabend: „Anything Goes“ als Provokation

Anders als Kuhn, der eher unfreiwillig relativistisch gelesen wurde, war Paul Feyerabend ein offener Kritiker normativer Wissenschaftstheorie. In „Against Method“ (1975) formulierte er seinen berühmten methodologischen Anarchismus: Es gebe keine universell gültige wissenschaftliche Methode. Erkenntnisfortschritt sei oft nur möglich, wenn man bestehende Methoden durchbricht.

Feyerabends Duktus war provokativ, ironisch, polemisch – seine Formulierungen bewusst zugespitzt. „Anything goes“ war aber keine Einladung zur Beliebigkeit, sondern eine Kritik an dogmatischer Methodengläubigkeit. Seine Sichtweise war eine radikale Antwort auf den Logischen Positivismus des Wiener Kreises, dessen formalistische Engführung von Wissenschaft ihm ebenso suspekt war wie autoritäre Deutungsmacht.

Gegen Methodenpluralismus ist wissenschaftlich nichts einzuwenden – im Gegenteil: Unterschiedliche Fragestellungen erfordern unterschiedliche methodische Zugänge. Aber: Methodenpluralismus ist kein erkenntnistheoretischer Freibrief. Jede Methode muss sich messen lassen an den Grundsätzen wissenschaftlicher Rationalität: Nachvollziehbarkeit, Prüfbarkeit, Replizierbarkeit, Transparenz.

Feyerabends Kritik wurde häufig vereinnahmt – von Pseudowissenschaften, Esoterikern und postmodernen Relativisten. Doch er war kein Gegner von Erkenntnis. Sein Briefwechsel mit Hans Albert zeigt deutlich: Beide teilten die Sorge um Offenheit, Rationalität und Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaft. Sie stritten über Wege, nicht über Ziele.

Albert und Feyerabend diskutieren auf einer gemeinsamen Bühne, uneins über Dramaturgie: Der eine fürchtet Erstarrung, der andere Beliebigkeit. Beide aber wollten das Erkenntnisprojekt erhalten – gegen die Zumutungen von Dogma, Macht und Diskurskult.


Fazit: Zwischen Inspiration und Gefahr

Kuhn und Feyerabend sind keine epistemologischen Relativisten. Sie fordern Zweifel, Offenheit und Pluralität – nicht Beliebigkeit. Ihre Ideen wurden häufig missverstanden oder ideologisch überhöht. Aber sie waren keine Wegbereiter des erkenntnistheoretischen Nihilismus. Beide anerkannten die Möglichkeit von Erkenntnis – auch wenn sie deren Wege unterschiedlich sahen.

Dass ihre Theorien zur Relativierung von Rationalität instrumentalisiert wurden, ist eher ein Symptom der Rezeptionsgeschichte als ihrer Intention. Gerade in Zeiten alternativer Fakten und Wissenschaftsskepsis ist eine präzise Einordnung ihres Werks daher wichtiger denn je.


Epilog – Plädoyer für die Unparteilichkeit der Vernunft (Erkenntnisrelativismus Teil 9)

Das Gebäude der Vernunft gilt es zu erhalten (Microsoft Copilot)

Von der Theorie zur Identität: Wie postmoderner Relativismus die Grundlage für aktivistische Absolutismen legte

Die späten Ausläufer des erkenntnistheoretischen Relativismus, wie er von Foucault, Lyotard und Derrida geprägt wurde, leben in gegenwärtigen identitätspolitischen Bewegungen weiter – oft ohne, dass deren Protagonisten sich dieser Abstammungslinie bewusst wären. Besonders Judith Butler hat mit ihrer radikal konstruktivistischen Theorie von Geschlecht und Identität – als reiner gesellschaftlicher Zuschreibung – einen Brückenschlag vollzogen: von der postmodernen Erkenntnisskepsis zu einem aktivistischen Weltbild, das objektive Beschreibungen der Realität systematisch durch moralisch-politische Deutungsmacht ersetzt.

Dieser Übergang ist von entscheidender Bedeutung: Was einst als kritische Reflexion gegenüber epistemischen Machtverhältnissen gedacht war, wird nun zu einem neuen Dogma – mit umgekehrten Vorzeichen. Der Zweifel an „Wahrheit“ ist nicht verschwunden, aber er richtet sich nicht mehr auf die eigenen Prämissen, sondern allein auf vermeintlich hegemoniale Positionen: Wissenschaft, Biologie, Rationalität. Sie gelten nicht mehr als Mittel zur Erkenntnis, sondern als Instrumente der Normierung.

Was sich als moralischer Fortschritt inszeniert, folgt in Wahrheit einem strukturell anti-aufklärerischen Impuls. Der Bezug zur Welt – überprüfbar, intersubjektiv, empirisch – wird ersetzt durch den Bezug zur Betroffenheit, zur Deutungshoheit der Identität, zur diskursiven Macht. Wahrheit wird durch Position ersetzt. Und in dieser Verwechslung liegt die eigentliche Problematik.

Wer also postmodernen Relativismus und gegenwärtige identitätspolitische Bewegungen in Zusammenhang bringt, muss keine Verschwörung konstruieren – es genügt, die ideengeschichtliche Linie nachzuzeichnen. Dass man dabei auf heftigen Widerstand stößt, liegt nicht an der Unangemessenheit des Arguments, sondern an der epistemologischen Unhinterfragbarkeit, die in Teilen dieser Bewegung zur Norm geworden ist.


„Woke“ als moralischer Absolutismus mit relativistischer Legitimation

Oder: Wie aus der Leugnung objektiver Wahrheit die moralische Unwiderlegbarkeit wird

Was zunächst wie ein Gegensatz erscheint – erkenntnistheoretischer Relativismus auf der einen, moralisch identitätspolitische Absolutismen auf der anderen Seite –, ist in Wahrheit eine ideengeschichtliche Folgeerscheinung. Denn gerade der Verlust an epistemischer Orientierung, wie er durch Foucault, Lyotard, Derrida und Butler befördert wurde, hat ein Vakuum hinterlassen, das nun nicht etwa durch neue Aufklärung, sondern durch moralische Unbedingtheiten gefüllt wird.

Die Postmoderne hat das Vertrauen in objektive Erkenntnis und überindividuelle Wahrheit untergraben – und damit jenen Möglichkeitsraum geöffnet, in dem heute moralische Narrative den Platz rationaler Urteilsbildung einnehmen. Wenn alles Wissen nur noch Perspektive ist, dann entscheidet nicht mehr die Stärke des Arguments, sondern die Identität des Sprechenden. Der Maßstab wechselt: von der Nachvollziehbarkeit zur Betroffenheit, vom Beweis zur Deutungshoheit.

„Woke“ im engeren Sinn meint heute oft nicht mehr bloß ein waches Bewusstsein für Ungerechtigkeiten – sondern die moralische Lizenz, Wahrheitsansprüche durch Gesinnung zu ersetzen. Wer widerspricht, steht nicht mehr auf der anderen Seite des Arguments, sondern auf der falschen Seite der Geschichte, womöglich macht er sich auch gleich gemein mit den „falschen Leuten“. Der Relativismus, der einst mit dem Ziel antrat, hegemoniale Wahrheiten zu entlarven, hat in seinen späten Ausformungen Platz gemacht für eine neue Hegemonie: jene der moralisch immunisierten Positionen. Was nicht angezweifelt werden darf, muss nicht mehr begründet werden.

Insofern ist die gegenwärtige „Woke“-Bewegung nicht das Gegenteil des Relativismus – sondern seine ideologische Erbin. Sie führt ihn fort, indem sie das Kriterium der Wahrheit durch das der moralischen Zugehörigkeit ersetzt. So wird aus dem Anything goes der postmodernen Epistemologie ein Only this goes der identitätspolitischen Orthodoxie. Der Weg von Foucault zu X (vormals Twitter) war kürzer als gedacht.

Man könnte die Beziehung zwischen Erkenntnisrelativismus und moralischem Rigorismus fast als symbiotisch bezeichnen: Der Relativismus delegitimiert objektive Maßstäbe, zersetzt die Idee von allgemeingültiger Wahrheit – und schafft damit eine epistemische Leerstelle. In genau dieses Vakuum tritt der moralische Absolutismus, wie er sich in vielen Ausprägungen identitätspolitischer oder aktivistischer Bewegungen zeigt: Die Unsicherheit über Wahrheit wird ersetzt durch Sicherheit im Urteil.

Doch das Verhältnis geht noch weiter: Der neue Moralismus schützt den Relativismus zugleich. Denn wer die Relativität von Wahrheit in Frage stellt, gilt schnell als Feind der Gerechtigkeit, als Reaktionär oder als Verfechter einer „veralteten“ Objektivität. So entsteht ein selbststabilisierender Kreislauf: Der erkenntnistheoretische Relativismus öffnet die Tür für moralisch-politische Absolutheiten – und diese wiederum verhindern, dass die erkenntnistheoretische Grundannahme je kritisch überprüft wird.

Die epistemische Unsicherheit wird durch moralische Unangreifbarkeit kompensiert – und beide bedingen sich wechselseitig. Das ist die paradoxe „Win-Win-Situation“ dieser ideologischen Allianz.


Zum Skeptizismus – Eine Positionsbestimmung

Skeptizismus beginnt nicht mit dem Zweifel an fremden Positionen, sondern mit der Bereitschaft, auch die eigenen Grundüberzeugungen der Prüfung zu unterziehen. Er ist, wenn man so will, eine Haltung methodischer Demut – und als solche hat er keine Freunde. Denn diese Demut macht misstrauisch gegenüber ideologischen Gewissheiten, auch und gerade gegenüber jenen, die sich als moralisch überlegen inszenieren.

In den letzten Jahren hat sich in vielen gesellschaftlichen Debatten ein seltsames Phänomen verfestigt: Bestimmte Themenfelder gelten nicht mehr als kritisierbar, weil sie als Ausdruck von Emanzipation, sozialem Fortschritt oder identitätspolitischer Gerechtigkeit verstanden werden. Kritik an diesen Diskursen – sei sie noch so sachlich, rational oder empirisch fundiert – wird schnell moralisch abgewertet: als „rechts“, als „reaktionär“, als „wissenschaftsdogmatisch“. Die Folge: Die Rationalität wird selektiv – und verliert damit ihren Status als universelles Prüfverfahren.

Wenn man sich jedoch auf den Weg gemacht hat, erkenntnistheoretischen Relativismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu analysieren, dann kommt man an diesem Punkt nicht vorbei. Denn der gegenwärtige Verlust an epistemischer Orientierung in der Gesellschaft wird nicht allein durch klassische Autoritätskritik oder durch technologisch beschleunigte Informationsfluten verursacht – sondern auch durch einen Kulturwandel, der die Kriterien von Wahrheit, Begründung und Erkenntnis an identitäre Zugehörigkeiten koppelt.

Dass sich dieser Kulturwandel in Teilen der akademischen Welt vollzieht, wäre für sich genommen noch kein Grund zur Sorge, wenn auch bedenklich – doch seine diffuse Ausstrahlung in Bildungswesen, Politik, Journalismus und Aktivismus hat Folgen, denen sich ein humanistisch geerdeter Skeptizismus nicht entziehen darf.

Die Philosophen dieser Serie – von Foucault über Lyotard bis Derrida – haben mit ihren Arbeiten zum Teil historische Einsichten geliefert, die man nicht vom Tisch wischen darf. Ihre Kritik an Machtstrukturen, an erkenntnisleitenden Interessen, an hegemonialen Diskursen war wichtig. Aber ihr Einfluss hat – vor allem durch populärphilosophische Vereinfachung – auch eine normative Verwahrlosung nach sich gezogen: Wenn jede Wahrheit nur noch eine Perspektive, jede Wissenschaft ein Machtspiel, jede Kritik ein Akt kultureller Gewalt und jede Erkenntnis bloß ein Ausdruck kultureller Hegemonie ist, dann zerfällt der Begriff der Vernunft selbst.


Und genau das ist der Punkt, an dem sich heutige Skeptiker, Humanisten und Aufklärer entscheiden müssen: Will man selbst in den Strom identitätspolitischer und relativistischer Erzählungen einsickern – oder steht man für etwas, das sich gerade durch seine Parteilichkeit für die Unparteilichkeit auszeichnet?

Die Frage, wie wir Wahrheit, Wissen und Wissenschaft denken, ist nicht neutral, aber sie muss unabhängig bleiben von parteilicher Vereinnahmung. Deshalb endet eine erkenntnistheoretische Serie wie diese nicht im Abstrakten – sondern landet notwendigerweise im Realen: Dort, wo Begriffe wie „Wissenschaft“, „Fakt“, „Begründung“ nicht nur Gegenstand akademischer Diskussionen sind, sondern Kampfvokabular in einer zerrissenen Gegenwart.

In diesem Sinne ist die Kritik an Relativismus nicht rückwärtsgewandt – sie ist ein Plädoyer für ein Erkenntnisethos, das nicht mit dem moralischen Strom schwimmt, sondern die Tiefe des Flusses auslotet. Und dabei darf die Vernunft sich nicht unter das Diktat von Moralismen, Moden oder Milieus beugen. Sie ist kein Machtinstrument – sie ist der einzige Kompass, den wir haben, wenn wir den Weg aus der Beliebigkeit suchen.


Noch ein Wort zur Verortung

Kritik am erkenntnistheoretischen Relativismus ist in den letzten Jahren zunehmend unter Generalverdacht geraten – als wäre jeder, der Objektivität verteidigt, bereits ein Apologet starrer Wahrheitsregime. Doch es ist möglich – und aus meiner Sicht notwendig –, zwischen einem dogmatischen Wahrheitsanspruch und dem völligen Verlust epistemischer Maßstäbe klar zu unterscheiden.

Ich vertrete keine Rückkehr zu metaphysischen Gewissheiten, wohl aber das Recht, zwischen besser und schlechter begründeten Aussagen unterscheiden zu dürfen – und die Verpflichtung, diese Unterscheidung nicht dem Gefühl, sondern der Prüfung zu überlassen.

Wer in dieser Haltung eine ideologische Nähe zu autoritärem Denken irgendwelcher Richtungen erkennen will, verwechselt Kritik an Beliebigkeit mit Bekenntnis zu Starrheit.

Die Texte dieser Reihe entstehen aus dem Bemühen, begründbar und nachvollziehbar zu denken – und aus dem Vertrauen darauf, dass Aufklärung auch ohne Lautstärke wirken kann.


Warum Erkenntnisrelativismus ein falscher Weg ist (Erkenntnisrelativismus Teil 8)

Kritischer Blick auf den relativistischen Kosmos (Microsoft Copilot)

Was mit Foucault als Kritik an der institutionellen Erzeugung von Wahrheit begann, wurde bei Lyotard zur Erosion des gemeinsamen Bezugsrahmens – und bei Derrida zur Demontage der sprachlichen Grundpfeiler jeglicher Objektivität. Mit Butler erreicht diese Linie ihren politisch wirkmächtigsten Punkt: Sprache, Macht und Identität verschmelzen zur performativen Realität – und der erkenntnistheoretische Relativismus wird zur sozialen Norm. Dies stellt die Möglichkeit objektiver Wahrheit ganz grundsätzlich in Frage, indem sie ihn dadurch ersetzen will, dass Wissen immer sozial konstruiert und damit kontingent sei.

Demgegenüber stehen zwei herausragende Vertreter einer strikten Ablehnung des Relativismus: Karl Popper und Paul Boghossian. Während Popper den Relativismus durch eine systematische Weiterentwicklung der Erkenntnistheorie obsolet machte, lieferte Boghossian eine direkte und analytische Widerlegung der zentralen relativistischen Argumente. Wobei, es sei angemerkt, sich hierbei nicht um die einzigen, aber die herausragenden Kritiker des Relativismus der Postmoderne handelt. Vielleicht komme ich in einem späteren Artikel noch einmal auf andere wichtige Kritikansätze zurück.

Karl Popper: Kritischer Rationalismus als Widerlegung des Relativismus

Karl Popper (1902–1994) entwickelte mit dem Kritischen Rationalismus eine Erkenntnistheorie, die auf Falsifikation und fallibilistischer Erkenntnisgewinnung basiert. Seine zentrale These ist, dass Wissen nicht durch induktive Verallgemeinerung oder soziale Konstruktion entsteht, sondern durch eine fortlaufende Korrektur von Irrtümern. Damit untergräbt Popper die relativistische Vorstellung, dass es keine objektiven Maßstäbe für Wahrheit gebe.

  • Das Abgrenzungskriterium und die Falsifikation: Popper zeigte, dass wissenschaftliche Theorien nicht durch Bestätigung bewiesen (Verifizierung), sondern nur durch empirische Tests widerlegt werden können. Die jeweilige Erkenntnislage zu einem Problem zeigt also den derzeitigen Stand des nicht widerlegten Wissens, was auf einen hohen Objektivierungsgrad schließen lässt. Dieses Prinzip steht im Widerspruch zu konstruktivistischen Theorien, die Wissenschaft als bloßes Narrativ oder Machtdiskurs sehen.
  • Objektive Wahrheit als regulative Idee: Popper vertrat einen kritischen Realismus, in dem es eine objektive Wahrheit gibt, die im Erkenntnisprozess zwar nicht vollständig erreichbar ist, aber als Ziel wissenschaftlicher Bemühungen dient. Der Relativismus hingegen negiert dieses Ziel von vornherein zugunsten eines pluralistischen Wahrheitsbegriffs.
  • Der Selbstwiderspruch des Relativismus: Ein zentrales Argument Poppers gegen den Relativismus ist dessen performative Selbstwidersprüchlichkeit: Wenn alle Wahrheiten gleichwertig sind, ist auch die Aussage, dass es objektive Wahrheit gibt, wahr – was den Relativismus selbst aufhebt.

Paul Boghossian: Logische und analytische Widerlegung des Relativismus

Paul Boghossian (*1957) nimmt eine noch direktere Position gegen den Erkenntnisrelativismus ein. In seinem Buch Fear of Knowledge: Against Relativism and Constructivism (2006) zerlegt er die zentralen Argumente postmoderner Philosophen und zeigt, dass sie sowohl logisch als auch methodologisch unhaltbar sind.

  • Widerspruch im epistemischen Relativismus: Boghossian weist nach, dass der Relativismus, wenn er behauptet, dass alle Wissensansprüche sozial konstruiert sind, sich selbst unterminiert. Denn wenn das Konzept der sozialen Konstruktion selbst nur eine soziale Konstruktion ist, fehlt ihm jegliche argumentative Basis.
  • Unmöglichkeit eines gleichwertigen Wahrheitspluralismus: Er argumentiert, dass es unmöglich ist, widersprüchliche Wahrheitsansprüche (z. B. „Die Erde ist eine Kugel“ vs. „Die Erde ist eine Scheibe“) gleichzeitig als gültig anzuerkennen, ohne das Konzept von Wahrheit völlig ad absurdum zu führen.
  • Realismus als die einzige konsistente Position: Boghossian plädiert für eine Rückkehr zu einer objektiven, erkenntnistheoretisch abgesicherten Realität. Er zeigt auf, dass viele relativistische Positionen auf einem Missverständnis oder einer fehlerhaften Anwendung von Sprachspielen, Pragmatismus und Kuhns Paradigmentheorie basieren.

Wenn Dekonstruktion zur Methode ohne Prüfung wird

Ein weiteres Problem dieser rückwärtsgewandten Bestätigungslogik liegt darin, dass sie sich von jeder empirischen Rückbindung befreit. Während naturwissenschaftliche oder evidenzbasierte Forschungsansätze sich dem Ideal der Falsifizierbarkeit stellen, operiert das postmoderne Denken – zumindest in seiner radikalisierten Spielart – auf einer Ebene der reinen Textualität. Thesen über Gesellschaft, Diskurs, Identität oder Macht müssen nicht mehr durch Daten oder überprüfbare Beobachtungen gestützt werden. Es genügt, dass sie sich sprachlich schlüssig einfügen.

Derridas Dekonstruktion, Foucaults Genealogie, Butlers Performativitätstheorie: Alle beanspruchen sie Deutungsmacht über kulturelle und soziale Zusammenhänge, ohne diese an nachvollziehbaren empirischen Belegen zu messen. Stattdessen werden literarische Stilmittel, metaphorische Analogien oder historische Fallbeispiele zur Hauptquelle der Legitimation.

Soziokulturelle Thesen verlieren dadurch ihre wissenschaftliche Prüfstruktur – sie mutieren zu Behauptungssystemen mit immunisierenden Rhetoriken. Wer fragt: „Wie genau misst man denn den Einfluss dieser Diskurse auf das Verhalten?“ oder „Welche Alternativhypothesen wurden geprüft?“, wird nicht selten als „Positivist“ oder „Essentialist“ abgewertet – also als jemand, der das Spiel nicht verstanden hat.

Doch was ist das anderes als ein erkenntniskritischer Rückschritt? In einer Zeit, in der gesellschaftliche Dynamiken dringend überprüfbare, evidenzinformierte Analysen brauchen – etwa in der Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft oder Bildungsforschung –, entzieht sich ein Teil des geisteswissenschaftlichen Betriebs der eigenen Verantwortung: sich mit der Realität messen zu lassen.

Schlussfolgerung

Die Gegenpositionen von Popper und Boghossian widerlegen den Erkenntnisrelativismus sowohl aus einer wissenschaftstheoretischen als auch aus einer analytischen Perspektive. Während Popper zeigt, dass Wissenschaft und Wahrheit trotz ihrer Fallibilität objektiv und methodisch begründet bleiben, entlarvt Boghossian die inneren Widersprüche und Unhaltbarkeit der relativistischen Argumentation. Damit wird deutlich, dass der epistemische Relativismus letztlich nicht nur erkenntnistheoretisch problematisch ist, sondern auch eine Gefahr für wissenschaftlichen Fortschritt und rationale Diskurse darstellt. Er ist ein erkenntnisphilosophischer Rückwärtsgang.

Ein weiterer Einwand: Bestätigungsforschung – oder: Wenn das Fazit vor der Fragestellung kommt

Es ist eine merkwürdige Umkehrung, die man bei manchen Protagonisten des postmodernen Denkens beobachten kann – einer Art erkenntnistheoretischem Rückwärtsgang, der das wissenschaftliche Prinzip auf subtile Weise unterläuft: Man hat sich innerlich längst für ein Ergebnis entschieden – nämlich, dass Wahrheit, Objektivität und Methodizität bloße Machtinstrumente oder sprachliche Konstrukte sind – und ordnet dann die theoretische Erzählung so, dass genau dieses Ergebnis als zwingend erscheinen muss.

Das ist, wenn man so will, die paradoxe Volte einer postmodernen Bestätigungsforschung – nicht empirisch, sondern diskursiv. Man sammelt Argumente, Sprachspiele, historische Brüche und kulturelle Differenzen nicht, um eine offene erkenntnistheoretische Frage zu beleuchten, sondern um eine bereits gefasste Skepsis gegenüber „Wahrheit“ argumentativ zu befestigen.

Was daraus entsteht, ist ein mächtiger Gestus der Dekonstruktion, der sich zugleich der Möglichkeit systematischer Erkenntnis entzieht. Lyotard, Foucault, Derrida – alle auf ihre Weise beginnen mit einer durchaus luziden Kritik an Verabsolutierungen, an hegemonialen Diskursen, an naivem Positivismus. Aber sie schlagen nicht den Bogen zur rekonstruktiven Vernunft – sie klappen, mit je eigener Geste, das Buch zu, wenn es ans Weiterdenken ginge. Und genau darin liegt eine Nähe zur dogmatischen Forschung, die sie selbst so entschieden ablehnen: Auch dort wird ein Ergebnis angesteuert, nicht entwickelt.

Kritik verkommt so zur rhetorischen Strategie, nicht zur erkenntnistheoretischen Tugend. Und der Wahrheitsbegriff – nicht naiv, sondern kritisch-modern – bleibt auf der Strecke. Glaubt wirklich jemand, wir könnten die drängenden Probleme unserer Zeit – Klimakrise, soziale Ungleichheit, globale Konflikte – mit moralisch aufgeladenen Erkenntnismodellen lösen, die objektives Wissen leugnen? Meinen die Vertreter eines moralisch verbrämten Relativismus ernsthaft, nachhaltige Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein zu erreichen, indem sie die Gesellschaft in starre Identitätskategorien unterteilen – in Opfer und Täter, manchmal beides zugleich, oft ohne individuelle Schuld und ohne Möglichkeit der Exkulpation? Ich halte das für eine gefährliche Sackgasse. Sie wird sich entweder auflösen – oder in eine kollektive Identitätskrise führen, die keines der realen Probleme lösen kann.

Skeptizismus, Relativismus und der humanistische Impuls

Ein Fazit aus der Sicht des humanistisch motivierten Skeptizismus ist hier angebracht. Skeptizismus ist seinem Wesen nach keine bloße Gegenrede, keine destruktive Haltung gegenüber etabliertem Wissen, sondern ein verantwortlicher Umgang mit Erkenntnisansprüchen. Er fragt: Was wissen wir wirklich – und warum glauben wir es zu wissen? Doch diese Haltung steht im scharfen Kontrast zum erkenntnistheoretischen Relativismus. Während der Skeptiker prüft, abwägt, und im Zweifel das bessere Argument sucht, entwertet der Relativist oft schon den Begriff des besseren Arguments – weil für ihn alle Wahrheiten gleich gültig sind oder zumindest gleich relativ erscheinen. Ein ad libitum der „Wahrheit“.

Skeptizismus ist kritisch – aber nicht zersetzend. Er unterscheidet zwischen begründeter Zweifelshaltung und dem postmodernen Verdacht, dass es überhaupt keine erkenntnismäßige Orientierung geben könne. Gerade weil er auf Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit und intersubjektiver Konsistenz beharrt, ist der skeptische Zugang zur Welt mit relativistischen Positionen nicht vereinbar.

Das Missverständnis beginnt oft schon beim Begriff „Kritik“. Für den Skeptiker ist Kritik ein methodischer Akt – für viele Vertreter relativistischer Theorien hingegen ein machtpolitischer. Doch wer Kritik nur noch als Dekonstruktion von Machtverhältnissen begreift, verliert leicht aus dem Blick, dass Kritik auch etwas aufbauen kann: tragfähiges Wissen, nachvollziehbare Begründungen, verantwortliche Urteilsfähigkeit.

Deshalb ist Skeptizismus, richtig verstanden, tief im humanistischen Denken verwurzelt. Er geht von der Würde der menschlichen Vernunft aus – und von der Möglichkeit, im offenen Diskurs Erkenntnis zu gewinnen, die über bloße Meinung hinausgeht. Der skeptische Humanismus verteidigt nicht nur Wissenschaftlichkeit gegen Dogmen, sondern auch gegen den diffus daherkommenden Relativismus, der im Gewand von Toleranz oft nur neue Dogmen installiert.

Der Humanismus erkennt die historische Bedingtheit aller Erkenntnis an – aber nicht, um sie zu entwerten, sondern um sie umso bewusster zu gestalten. Das ist der Unterschied. Und es ist der Grund, warum Skeptizismus niemals auf den Relativismus hereinfällt: weil er an der Idee festhält, dass Erkenntnis eine moralische, rationale und gemeinschaftlich tragbare Aufgabe ist.

Epilog – Vom Zweifel zur Verantwortung

Wer sich durch das Dickicht der relativistischen Denksysteme gearbeitet hat, mag am Ende versucht sein, mit den Achseln zu zucken. Zu groß scheint die Verwirrung, zu zersplittert das Gelände, zu mächtig die Erzählung vom Ende aller Wahrheiten. Doch genau dort, wo die Postmoderne ihren Triumph ausruft – im Zerfall der Ordnung, im Verlust des Maßes, in der Macht des Narrativs –, beginnt das, was man Haltung nennt.

Haltung bedeutet nicht, einfache Antworten zu haben. Aber sie bedeutet, nicht zu kneifen, wenn es darauf ankommt, sich festzulegen: auf eine Vorstellung vom Menschen, von Vernunft, von Würde, von Verantwortung. Wer das als „reduktionistisch“ oder „dogmatisch“ beschimpft, verwechselt Klarheit mit Engstirnigkeit.

Meine eigene Haltung – und damit schließt sich der Kreis dieser Serie – gründet in einem Humanismus, der die Ratio nicht verleugnet, sondern einhegt, pflegt und verteidigt. Und darum soll am Ende nicht eine weitere Kritik stehen, sondern ein Satz, den ich schon vor einigen Jahren formuliert habe – und der bis heute mein Fundament geblieben ist:

„Wir haben keine Wahl als Humanisten, wir müssen auch und vor allem Anwälte der Ratio sein. Und wir dürfen uns dabei nicht mit Begriffen wie ‚reduktionistischer Materialist‘ oder ‚Wissenschaftsdogmatiker‘ etikettieren lassen, wie es die Anwälte des Postfaktisch-Irrationalen gern und oft tun, um uns eine Ebene des Menschlichen abzusprechen. Aber das ist nichts anderes als Verleumdung in pseudophilosophischer Mimikry. Wir sind nicht Materialisten, sondern Naturalisten, was die Ehrfurcht vor dem gesamten Spektrum nicht nur menschlichen Daseins in der realen Welt einschließt, jedoch die Irrationalität und rein subjektive ‚Wahrheiten‘ als Nährboden für das Gegenteil dieser Ehrfurcht erkennt und ihnen widerstreitet.“

In diesem Sinne: Nicht trotz, sondern wegen unserer Endlichkeit und Fehlbarkeit brauchen wir eine Welt, in der man wieder wissen darf, was gilt – und warum.


Das Thema Critical Studies (Erkenntnisrelativismus Teil 7)

Ambivalenz der Critical Studies (Microsoft Copilot)

Das Attribut kritisch genießt in der akademischen Welt seit jeher hohes Ansehen. Kritisches Denken gilt als Kennzeichen wissenschaftlicher Redlichkeit und geistiger Unabhängigkeit. Doch mit dem Aufkommen der Critical Studies hat sich die Bedeutung dieses Begriffs verschoben. Kritik bezeichnet hier nicht mehr in erster Linie die methodische Prüfung von Argumenten oder die systematische Hinterfragung von Annahmen, sondern ist zur erkenntnispolitischen Haltung geworden – zur Pflicht, bestehende Machtverhältnisse, Hierarchien und „hegemoniale Wahrheiten“ zu dekonstruieren.

In dieser Tradition – die sich auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ebenso beruft wie auf Foucault, Derrida und Butler – wird Kritik zur politischen Mission: Erkenntnis soll nicht mehr nur erlangt, sondern verändert werden. Forschung ist damit kein offener Erkenntnisprozess mehr, sondern ein Beitrag zum „richtigen“ gesellschaftlichen Wandel.

Der Übergang von erkenntnisorientierter Forschung hin zu explizit zweckgerichteter „Nützlichkeitsforschung“ (oder besser: Advocacy Research) ist daher keine zufällige Randerscheinung, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden epistemologischen Wandels. Und hier liegt das zentrale Problem: Wo wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr aufgrund ihrer methodischen Gültigkeit zählt, sondern nach ihrer politischen Anschlussfähigkeit beurteilt wird, beginnt der Relativismus als wissenschaftlicher Selbstzweifel – und endet nicht selten als ideologische Immunisierung.

Imprägnierung mit Relativismus und Zweckorientierung

Genau hier zeigt sich die konkreteste Form des epistemologischen Relativismus: Wenn Wahrheit nicht mehr als etwas erkannt wird, das unabhängig von Perspektiven existiert, sondern nur noch als sozial konstruiert und kontextabhängig betrachtet wird, dann degeneriert Wissenschaft zu einer Art Machtspiel. Was dann zählt, ist nicht mehr die Gültigkeit eines Arguments, sondern seine Nützlichkeit für eine vorab festgelegte politische oder gesellschaftliche Agenda. Das evidente Argument wird vom Gültigkeit einfordernden Narrativ verdrängt. Das führt in der extremen Form zu einer Immunisierung gegen Kritik: Jeder Widerspruch wird als „reaktionär“, „hegemonial“ oder „unterdrückend“ delegitimiert, statt inhaltlich geprüft zu werden.

Gerade in den USA haben wir Phänomene gesehen, bei denen bestimmte Forschungsrichtungen nicht einmal mehr dem Kriterium der Falsifizierbarkeit (also dem Lackmustest für Wissenschaftlichkeit) unterliegen, sondern nur danach beurteilt werden, ob sie einer bestimmten gesellschaftspolitischen Agenda nützen oder schaden. Das geht sogar so weit, dass offen zugegeben wird, dass Wissenschaft hier nicht wertneutral sein kann oder soll. Der Wissenschaftsphilosoph Paul Boghossian kritisiert das explizit in Fear of Knowledge – dass solche Strömungen sich selbst als wissenschaftlich darstellen, den wissenschaftlichen Diskurs aber nicht mehr nach klassischen Maßstäben betreiben.

Die Ambivalenz: Wichtige Erkenntnisse vs. methodische Beliebigkeit

Das Paradoxe ist, dass Critical Studies durchaus Verdienste haben. Historische Geschlechterrollen, postkoloniale Strukturen, Diskriminierungsmuster – all das sind legitime Forschungsfelder. Das Problem entsteht, wenn sich daraus eine Art monolithische Weltanschauung entwickelt, die keinen Widerspruch duldet und alle Phänomene ausschließlich durch ihre eigene ideologische Brille betrachtet.

Was der Blick durch eine solche ideologische Brille für Folgen haben kann, zeigen zwei klassische Beispiele: der Sokal-Skandal von 1996 oder die Grievance Studies Hoax von 2018 (Lindsay, Pluckrose, Boghossian), bei denen absurde pseudowissenschaftliche Arbeiten absichtlich in renommierten Critical Studies-Zeitschriften publiziert wurden – einfach, weil sie den gewünschten ideologischen Erwartungen entsprachen. Das zeigt, wie tief das Problem sitzt: Wenn das gewünschte Narrativ wichtiger ist als methodische Strenge, wird Wissenschaft zur Ideologie – ein Glaubenssystem mit vorgegebenem Ergebnis, nicht mehr ein offener Erkenntnisprozess.

Gegenbewegungen in den USA?

Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass sich die Dominanz postmoderner und relativistischer Denkmuster in den USA etwas abschwächt – allerdings nicht unbedingt durch einen wissenschaftlichen Selbstreinigungsprozess, sondern eher durch gesellschaftlichen und politischen Gegenwind. Viele Universitäten stehen unter wachsendem Druck, sich wieder stärker an traditionellen Wissenschaftsidealen zu orientieren. Einige Hochschulen (z. B. die University of Chicago) betonen explizit akademische Redefreiheit und erkenntnisorientierte Forschung.

Dennoch bleibt es ein Kampf, weil postmoderne Theoriebildungen tief in den Geisteswissenschaften verwurzelt sind – und viele Förderstrukturen, wissenschaftliche Gremien und Universitätsverwaltungen nach wie vor diesen Paradigmen folgen. Ob sich das wirklich ändert, bleibt abzuwarten.

Akademische Selbstbefreiung notwendig?

Absolut. Wenn sich Universitäten nicht aus dieser ideologischen Umklammerung befreien, laufen sie Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit als Wissenschaftsorte zu verlieren. Und das Schlimmste: Wenn Relativismus überhandnimmt, stärkt das ironischerweise genau die irrationalen Bewegungen, die er eigentlich kritisieren wollte – von Populisten bis zu Pseudowissenschaftlern. Denn wenn „alle Wahrheiten gleich gültig sind“, gibt es auch keine rationale Grundlage mehr, um Wissenschaft von Unsinn zu unterscheiden.

Die Critical Studies haben wichtige Impulse geliefert, aber in ihrer dogmatischen Form gefährden sie den wissenschaftlichen Diskurs. Ein reflektierter kritischer Realismus wäre hier der bessere Weg – also die Anerkennung sozialer Kontexte und Machtstrukturen, ohne dabei objektive Erkenntnismöglichkeiten aufzugeben.

Dass diese Entwicklung nicht bloß theoretisch, sondern bereits realpolitisch wirksam ist, zeigt sich exemplarisch am Fall Mātauranga Māori.

Ein Exempel: Mātauranga Māori

Der Fall Mātauranga Māori in Neuseeland ist ein Paradebeispiel für die gefährlichen Konsequenzen dieser Entwicklung. Dass eine indigene Wissensform in den Rang einer gleichwertigen Wissenschaft erhoben werden sollte – nicht als kulturell wertvolles Erbe, sondern als epistemologisch gleichwertig zur modernen Naturwissenschaft –, ist ein Lehrstück darüber, was passiert, wenn epistemologischer Relativismus nicht nur theoretisch vertreten, sondern praktisch durchgesetzt wird.

Das ganze Drama begann 2021, als eine Gruppe neuseeländischer Wissenschaftler in einem offenen Brief darauf hinwies, dass die Vorstellung, Mātauranga Māori (traditionelles indigenes Wissen, in diesem Fall ein Schöpfungsmythos) sei gleichwertig zur modernen Wissenschaft, ein fundamentaler Kategorienfehler sei. Sie argumentierten, dass traditionelle Mythen, Überlieferungen und spirituelle Vorstellungen nicht mit dem empirisch-testbaren Wissenschaftsmodell gleichgesetzt werden können. Ihre Position war keineswegs eine Herabwürdigung indigener Kultur – sie kritisierten lediglich die epistemologische Gleichsetzung.

Die Reaktion darauf war jedoch heftig: Die Wissenschaftler wurden des Rassismus bezichtigt, einer von ihnen verlor Fördermittel, andere wurden diffamiert. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft in Neuseeland stärkte jedoch genau jene Position, die von einer epistemischen Gleichwertigkeit sprach. Und das ist der entscheidende Punkt: Die Verteidigung wissenschaftlicher Standards wurde nicht als wissenschaftliche Debatte geführt, sondern als moralische Verfehlung dargestellt.

Hier zeigt sich eine der tiefsten Gefahren der Critical Studies-Denkweise: Erkenntnis wird nicht mehr primär danach beurteilt, ob sie empirisch und logisch tragfähig ist, sondern nach ihrer moralischen oder politischen Wirkung. Das hat zwei Folgen:

Wissenschaftliche Redlichkeit wird geopfert, um politischen oder kulturellen Agenden zu dienen. Die Frage „Was ist wahr?“ wird ersetzt durch „Welche Perspektive verdient Förderung?“.

Widerspruch wird moralisiert und pönalisiert – wer auf epistemologische Probleme hinweist, wird nicht als Diskussionspartner gesehen, sondern als Feind einer bestimmten politischen Strömung.

Das Muster gleicht den Entwicklungen, die wir auch in manchen Gender- und Postcolonial-Studies-Debatten sehen: Kritik an methodischen oder epistemologischen Schwächen wird nicht sachlich diskutiert, sondern als Ausdruck eines „unterdrückerischen Systems“ gebrandmarkt.

Die kritische Einordnung von Mātauranga Māori zielt dabei ausdrücklich nicht auf eine Abwertung indigener Weltbilder – wohl aber auf die Frage, unter welchen Bedingungen ein Wissenssystem den Anspruch auf wissenschaftliche Gleichwertigkeit erheben kann.

Der epistemische Relativismus als Zeitbombe

Das Fatale an dieser Entwicklung ist, dass sie Wissenschaft selbst aushöhlt. Wenn wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr den Anspruch erheben darf, universelle Gültigkeit zu haben, sondern nur noch als „eine von vielen Perspektiven“ gesehen wird, dann öffnet das die Tür für alle möglichen irrationalen Weltbilder. Die Aufgabe oder gar Negierung des universalistischen Anspruchs von Erkenntnis wäre ein Umsturz des mühsamen RIngens um das, was wir wissen können, der letzten 2400 Jahre.

Denn wenn Mātauranga Māori als gleichwertig zur modernen Wissenschaft angesehen wird, warum dann nicht auch Homöopathie oder Kreationismus? Sobald die Tür für „alternative Erkenntniswege“ geöffnet ist, gibt es keinen klaren Maßstab mehr, um Unsinn von Wissen zu trennen. Die Argumentationslinie, die hier zugrunde liegt, unterscheidet sich prinzipiell nicht von jener, die auch Pseudowissenschaftler nutzen.

Ironischerweise stärkt diese Entwicklung genau jene Gruppierungen, die von den Critical Studies eigentlich bekämpft werden sollten: Verschwörungstheoretiker, Esoteriker und politische Demagogen. Wenn Wissenschaft nur eine „Erzählung“ unter vielen ist, warum sollten Leute dann nicht an „alternative Fakten“ glauben?

Wider den Universalismus

Was heute so leichtfertig als „kolonial“, „westlich“ oder „hegemonial“ abqualifiziert wird, war einmal eine historische Errungenschaft: Die Vorstellung, dass es Maßstäbe gibt, die nicht an Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Kultur gebunden sind – sondern an das, was alle Menschen als Menschen verbindet. Das war der Sprung aus der partikularen Welt der Stämme, Kasten, Religionen und Klassen in ein Konzept der universellen Würde und Geltung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die UN-Charta, die Genfer Konventionen – alles basiert auf dieser einen Idee: dass der Mensch nicht relativ ist.

Warum wird dieser humanistische Universalismus so heftig angegriffen – von Leuten, die sich oft selbst als moralisch fortschrittlich sehen?

Oswald Spengler hätte den Rückzug ins Partikulare, den Verlust eines einigenden Maßes, den Triumph des Fragmentierten als Ausdruck eines Kulturverfalls gedeutet – und vermutlich diesmal nicht zu Unrecht. Er hätte gesagt: „Die Idee der Menschheit stirbt an der Selbstüberhebung ihrer Teile.“

Die paradoxe Lust an der Segregation

Die Antwort ist unbequem: In vielen Spielarten der identitätspolitisch aufgeladenen Critical Studies ist die Vorstellung einer übergreifenden Gemeinsamkeit verdächtig geworden. Stattdessen tritt die Differenz in den Vordergrund – nicht als analytisches Werkzeug, sondern als identitätsstiftendes Dogma. Es entsteht ein Denken in unzähligen kleinen Wahrheiten, unzähligen kleinen Ungerechtigkeiten – das jede Gemeinsamkeit für potenziell „unterdrückend“ hält. Der Universalismus wird zur Chiffre für kulturelle Aneignung, epistemische Gewalt oder westlichen Imperialismus erklärt – und damit verabschiedet man sich stillschweigend von einer gemeinsamen Welt.

Dabei war genau diese Idee einmal das ethische Ziel der Aufklärung, getragen von Denkern wie Kant, Condorcet, John Stuart Mill oder Martha Nussbaum in neuerer Zeit: dass sich das Besondere im Allgemeinen wiederfinden kann, ohne sich darin zu verlieren. Dass Gleichheit nicht bedeutet, gleich zu sein, sondern gleich zählen zu dürfen.

Wissenschaft als Erkenntnis oder als Machtfrage?

Das zentrale Problem ist, dass viele Vertreter der Critical Studies Wissenschaft nicht mehr als Erkenntnisinstrument sehen, sondern als eine Form der Machtausübung. Wer glaubt, dass Wissenschaft nicht „die Wahrheit“ sucht, sondern nur „hegemoniale Diskurse produziert“, wird zwangsläufig dazu neigen, alternative Wissensformen gleichzusetzen – selbst wenn diese empirisch unhaltbar sind.

Das ist eine Zeitbombe für wissenschaftliche Redlichkeit. Denn wenn Erkenntniswege nicht mehr nach logischen und empirischen Kriterien bewertet werden, sondern nach politischen oder kulturellen Maßstäben, dann ist Wissenschaft nichts anderes als eine rhetorische Strategie. Und das ist das Ende jeder ernsthaften Wissenschaft.

Gibt es Hoffnung?

Tatsächlich gibt es, besonders in der Physik, Biologie und Medizin, zunehmend Widerstand gegen diese Tendenzen. Auch in Philosophie und Wissenschaftstheorie werden die Grundannahmen der Critical Studies zunehmend hinterfragt. Es bleibt zu hoffen, dass der klassische wissenschaftliche Realismus sich wieder stärker durchsetzt – bevor sich das Feld noch weiter in dogmatische Lager spaltet.

Der Fall Mātauranga Māori hat gezeigt, wie weit es kommen kann, wenn wissenschaftliche Prinzipien geopfert werden, um ideologische Kämpfe auszutragen. Und das sollte uns alle alarmieren.


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