Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

Autor: Udo Endruscheit Seite 1 von 21

Wenn die Bank plötzlich mein Leben optimieren will

Neulich flatterte eine freundliche E-Mail meiner Bank ins Postfach. Die Einleitung legte nahe, dass man mir etwas Gutes tun wolle. Das klingt eher verdächtig. Banken sind keine Wohlfahrtsvereine.
Worum ging es? Ich könne mein altgedientes Konto „umstellen“. Keine versteckten Kosten, alles bleibe wie gehabt – nur besser.

„Besser“ hieß in diesem Fall:

  • Drei Unterkonten, liebevoll „Pockets“ genannt, um meine „finanzielle Übersicht zu verbessern“.
  • Zugang zu einer Welt voller Partnerangebote, mit hunderten Rabatten, Gutscheinen und „exklusiven Vorteilen“.

Schon beim ersten Punkt hatte ich Mühe, nicht laut zu lachen. Wer halbwegs ordentlich Buch führt – sei es in einer simplen Excel-Tabelle oder auf Papier – braucht keine „Pockets“ in seinem Kontokorrent. Für alle anderen besteht die Gefahr, dass dieses künstliche Aufsplitten des Kontos in noch mehr Unterkonten die Übersicht eher verschlechtert. Das ist keine Innovation, das ist die Illusion von Kontrolle.

Der zweite Punkt? Noch schlimmer. Rabattportale und Gutscheinprogramme sind selten mehr als eine subtile Wettbewerbslenkung – und das in einem Bereich, in dem ich meine Bank schlicht nicht agieren sehen möchte. Jeder Rabatt ist eh schon im Preis einkalkuliert. Der „Vorteil“ ist oft nur ein geschickt getarnter Kaufanreiz, und die Bank wird so zum Marktplatzbetreiber, statt zum nüchternen Verwalter meines Geldes.

Das alles ist Teil einer Entwicklung, die man „Innovation um der Innovation willen“ nennen könnte. Zusatzfeatures werden zulasten von Kernfunktionen aufgebläht, wobei erstere keinen realen Mehrwert schaffen, aber neue Geschäftsfelder erschließen sollen. Die eigentliche Aufgabe einer Bank – sichere, transparente, effiziente Kontoführung – gerät in den Hintergrund.

Meine Zustimmung zu diesem neuen Kontovertrag?
Die kriegen sie nicht. Ich brauche keine Pockets, keine Rabatte, keine „Gamification“ meines Girokontos. Ich will eine Bank, die mein Geld verwaltet – nicht mein Leben optimiert – aka verkompliziert.


Und es gibt noch einen Nebeneffekt dieser „Innovation“, der mich fast mehr beunruhigt als die Idee selbst:
Ich helfe im Stadtteil einigen älteren Nachbarn bei ihrer „Bürokratie“. Zwei von ihnen riefen mich schon verunsichert an, weil sie glaubten, sie müssten die Unterschrift unter diese „Kontoumstellung“ leisten.
Das Misstrauen gegenüber den neuen Funktionen war durchaus da – aber gleichzeitig auch die Angst, dass eine Verweigerung rechtlich oder praktisch nicht möglich sei.
Genau das ist der Punkt: Wenn Banken mit solcher Gamification und Pseudo-Innovationen kommen, schaffen sie nicht nur unnötige Komplexität, sondern setzen gerade die Menschen unter Druck, die eigentlich den Schutz vor zusätzlicher Verwirrung am meisten bräuchten.


Temu wirbt

Symbolbild von ChatGPT 4o

Temu hat wieder zugeschlagen. Diesmal nicht mit Billigstpreisen, Datenhunger oder zweifelhaften Produktionsbedingungen – sondern mit einer Werbekampagne, die selbst hartgesottene Social-Media-Nutzer irritiert zurücklässt.

In den Clips, die derzeit durch TikTok, Insta und Co. geistern, wird für ein „kostenloses Tablet für Neukunden“ geworben. Der Weg dorthin? Eine Art aggressive Slapstick-Farce: Menschen geraten in Wut, schreien sich an, gehen teils sogar körperlich auf Temu-Vertreter los, weil sie angeblich den falschen Download erwischt haben und leer ausgehen. In einer neueren Version darf sogar der Temu-Chef persönlich das Opfer dieser Ausraster spielen.

Das Ganze endet zwar stets mit einem „Happy End“. Doch das bleibt wie eine schlecht platzierte Sahnekirsche auf einem verdorbenen Kuchen: Die negative Emotion der Aggression klebt im Kopf.

Aus Markensicht ist das eine erstaunliche Fehlkalibrierung. Denn während diese Art „überzeichneter Gewaltkomik“ in manchen asiatischen Märkten, wie mir bekannt ist, als harmloser Slapstick funktioniert, wirkt sie hierzulande schlicht unhöflich, enthemmt – und sozial unangepasst. Durchweg als negativer Trigger. Die Synchronisation verstärkt diesen Effekt noch. Zumal Temu ohnehin unter Imageproblemen leidet: Datenschutz? Zweifelhaft. Produktqualität? Fragwürdig. Produktionsbedingungen? Reden wir lieber nicht drüber.

Mein Sohn hat es mal getestet: Zwei Uhren bestellt. Sein Fazit: „Fabrikneuer Schrott.“


Wer so wirbt, signalisiert vor allem eines: Es geht nicht um Qualität, nicht um Kundenerlebnis, sondern um maximale Aufmerksamkeit – koste es, was es wolle. In der TikTok-Logik mag das als „mutig“ gelten. Im mitteleuropäischen Wertekontext – ein Eigentor?

Man sollte meinen, dass ein Konzern mit Milliardenbudget und globaler Marktstrategie die kulturellen Eigenheiten seiner Zielmärkte kennt. Aber vielleicht ist das gar nicht der Punkt – vielleicht geht es Temu nicht um Gefallen, sondern um maximale Sichtbarkeit. Selbst wenn diese Sichtbarkeit auf einem kollektiven ‚Was zur Hölle habe ich da gerade gesehen?‘ basiert. Wollen wir also mal nicht zuviel Kulturoptimismus verbreiten. Vielleicht überwiegt doch die Aussicht aufs kostenlose Tablet (das es wohl wirklich gibt) die Irritation.


Von Akupunkturmeridianen und Biophotonen

Wie wissenschaftliche Zombies in den Bibliothekskatalog wandern

Neulich erreichte mich über die GWUP eine Anfrage, die – wäre man nicht so abgehärtet – für ungläubiges Kopfschütteln gesorgt hätte.
Ein Leser war im Wissensportal „Primo“ der TU Berlin auf einen peer-reviewed article gestoßen, der Akupunkturmeridiane als „Interferenzmuster des kohärent ausgesendeten Zellichts“ – also der sogenannten Biophotonen – erklärte. „Wie kann so etwas peer-reviewed sein?“, wollte er wissen.

Klar ist gleich auf den ersten Blick: Akupunkturmeridiane sind medizinische Fiktion, Biophotonen in der Form, wie ihre Protagonisten sie darstellen, ebenso. Ein „wissenschaftlicher“ Ansatz, der das eine mit irgendwelchen Auswirkungen des anderen zu erklären sucht, ist daher per se obsolet – ex falso quodlibet, aus Falschem folgt Beliebiges, wie der Formallogiker weiß. Der zweite Blick führt mitten hinein in ein Grundproblem der heutigen Publikationspraxis – und in den Plot eines wissenschaftlichen Zombies.

Der Artikel stammt aus dem Jahr 2013, erschienen im Journal Frontiers in Optoelectronics, verfasst von einer chinesischen Autorengruppe an einer chinesischen Universität. Obwohl die Prämissen nicht haltbar sind und die Folgerungen aus der Kombination beider zwangsläufig falsch, trägt der Artikel das Siegel „peer-reviewed“.

Wie kann das passieren?
Es gibt zwei Erklärungen. Die freundlichere lautet: Gutgläubige Reviewer und Editorial Boards nehmen exotische Grundannahmen der Autoren als gesetzt hin (Fail der unterschobenen Prämisse), prüfen dann nur auf innere Konsistenz der Schlussfolgerungen oder gar nur auf formale Kriterien, nicht auf die Validität des Fundaments.
Die weniger freundliche: Manche Journals – zumal aus dem weiten „Open Access“-Kosmos – haben geringere methodische Hürden, wenn das Thema ins eigene Profil passt oder aus bestimmten akademischen Netzwerken kommt. Peer-Review ist nicht unfehlbar, und formale Kriterien lassen sich auch mit inhaltlich schwachen Thesen erfüllen.

Das Problem liegt aber nicht bloß beim Erscheinen – sondern vielleicht noch mehr beim Fortleben. Einmal publiziert, bleibt ein solcher Text im wissenschaftlichen Ökosystem: in Zitationsketten, in Suchmaschinen, in Bibliothekskatalogen. Er wird nicht „entsorgt“, auch wenn er längst widerlegt oder inhaltlich wertlos ist. Selbst renommierte Institutionen wie die TU Berlin können nicht verhindern, dass fragwürdige Inhalte in ihren Beständen landen – die reine Herkunft aus einem „anerkannten“ Journal genügt für die Aufnahme. Q.e.d.

Und selbst wenn ein Artikel zurückgezogen wird, ist sein Zombiedasein nicht beendet. Retraction Watch dokumentiert seit Jahren Fälle, in denen längst revidierte oder zurückgezogene Arbeiten weiter zitiert werden, als sei nichts geschehen – und so das Erkenntnismaterial ganzer Fachgebiete kontaminieren. Eine technische Lösung dafür gibt es bislang nicht. Umso größer ist die Verantwortung der Journale, von vornherein keine unhaltbaren Publikationen durch das Peer-Review zu lassen. Ein frommer Wunsch – aber einer, ohne den das Problem nicht kleiner wird.

Hier entsteht der „Zombie“-Effekt: Solche Arbeiten sterben nicht. Sie wandern still und leise weiter, und für Laien – oder auch für Studierende – kann die bloße Präsenz in einer Universitätsdatenbank wie ein Gütesiegel wirken. Wer ohnehin geneigt ist, an Meridiane oder Biophotonen zu glauben, findet hier eine scheinbar wissenschaftliche, gar zitierfähige Bestätigung.

Genau das macht diese Altlasten gefährlich. Es geht nicht nur um aktuelle Fake News oder frische Pseudostudien. Wissenschaftskommunikation muss auch den Bestand kritisch im Blick behalten – gerade die Veröffentlichungen, die schon lange im Umlauf sind und sich unbemerkt festgesetzt haben.
Denn wie bei Zombies gilt: Sie sind schwer totzukriegen. Aber ignorieren darf man sie nicht.


Recent progress of traditional Chinese medical science based on theory of biophoton
Front. Optoelectron. 2014, 7(1): 28–36
DOI 10.1007/s12200-013-0367-1
https://www.researchgate.net/publication/271631415_Recent_progress_of_traditional_Chinese_medical_science_based_on_theory_of_biophoton


Die FAZ, Frau Brosius-Gersdorf und das schmutzige Scharnier

Es ist selten, dass ein einzelner Satz so viel über Haltung, Methode und Selbstverständnis einer Zeitung verrät wie dieser:

„… stilisiert sich zum Opfer allerlei finsterer Mächte.“
— Daniel Deckers, FAZ, über die Entscheidung von Frauke Brosius-Gersdorf, sich von ihrer Kandidatur für das Bundesverfassungsgericht zurückzuziehen.

Ein Satz, der vor Häme trieft. Einer, der nicht nur die Betroffene diffamiert, sondern ihr auch noch die Deutungshoheit über ihre eigene Erfahrung abspricht. Und vor allem einer, der den entscheidenden Kontext unterschlägt:
Die FAZ selbst war das Scharnier, über das rechte Verleumdungen überhaupt erst den Weg in den bürgerlichen Diskurs und von dort in die CDU.Bundestagsfraktion gefunden haben.

Ohne diese Übersetzungsleistung – vom halbanonymen Schmutzraum ins Feuilleton eines konservativen Leitmediums – wäre der Rufmord an Frau Brosius-Gersdorf womöglich nie „salonfähig“ geworden. Genau hier liegt die Verantwortung. Und genau hier beginnt die Bösartigkeit: Erst liefert man die Vorlage, dann verhöhnt man diejenige, die unter den Folgen leidet.

Deckers’ Kommentar trägt den zynischen Titel „Der linke Kulturkampf ist gescheitert“. Wer die Mechanik solcher Texte kennt, weiß: Das ist der Versuch, die Schuldfrage umzudrehen. Nicht die rechte Schmutzkampagne ist das Problem – sondern angeblich die „linke“ Person, die sie benennt. Frau Brosius-Gersdorf hat in ihrer souveränen Erklärung zum Kandidaturverzicht keinen Zweifel daran gelassen, wen sie in der Verantwortung für die unsäglichen Vorgänge um die Richterwahl sieht, auch wenn sie die FAZ nicht namentlich genannt hat.

Das ist nicht klug von der FAZ. Es ist durchschaubar und wendet sich damit gegen sie selbst.
Und es ist – für eine Zeitung, die sich selbst gern als Verteidigerin demokratischer Kultur sieht – schlicht beschämend. Man stellt sich erst als Transmissionsmedium zur Verfügung, das rechten Verleumdungserzählungen eine Bühne bietet und feiert im Nachhinein ein Scheitern eines angeblichen „Kulturkampfes von links“? In meinen Augen unverzeihlich. Das wird lange an der FAZ hängenbleiben.

Die gute Nachricht: In den sozialen Medien, etwa auf Threads, hat sich dieses Mal eine deutliche Gegenreaktion formiert. Durchaus zahlreiche Kommentatoren dort haben ihr FAZ-Abo gekündigt und benennen klar, was hier passiert: Eine Zeitung, die als seriös gilt, betreibt politische Rufschädigung mit Erzählungen aus der rechten Ecke – und hält das auch noch für souverän.

Katastrophal.


Arbeiten, bis der Arzt kommt?

Warum der Vorschlag zur Verlängerung der Beamtenlebensarbeitszeit symptomatisch für eine schiefe Sozialdebatte ist

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In schöner Regelmäßigkeit flammt sie wieder auf, die Debatte um die Lebensarbeitszeit. Meist nicht als ernsthafte Systemfrage, sondern als pauschal formulierter Vorschlag, der das Missverständnis fördert, eine einfache Lösung löse ein komplexes Problem. Aktuell fordern Wissenschaftler des Pestel-Instituts, Beamte sollten pauschal „fünfeinhalb Jahre länger arbeiten“, weil sie statistisch gesehen länger leben als Arbeiter (SPIEGEL+ am 08.08.2025). Der Vorschlag ist nicht nur ein Tiefpunkt sozialpolitischer Reflexion, sondern offenbart ein tiefer liegendes Verständnisproblem.

„Die Beamten“ gibt es nicht

Dass eine solche Forderung überhaupt aufgestellt werden kann, verdankt sich der Vorstellung eines homogenen Blocks „der Beamten“. Doch dieser Block existiert nicht. Beamte sind Lehrerinnen, Feuerwehrleute, Verwaltungsjuristen, Polizisten, Berufsrichterinnen, Steuerbeamte, Justizvollzugsbeamte und viele mehr – mit völlig unterschiedlichen Belastungsprofilen, Karrierewegen und Gesundheitsperspektiven.

Es gibt Verwaltungsbeamte, die auch mit 70 noch voll leistungsfähig wären. Aber auch solche, die längst vor dem Ruhestandsdatum krank und ausgebrannt sind, und das nicht wegen eines ungesunden Lebenswandels. Und es gibt erst recht Polizeibeamte oder Lehrerinnen, die mit Mitte 60 durch jahrzehntelange psychische und physische Dauerbelastung schon weit über ihre persönliche Grenze hinausgeschoben wurden. Der Vorschlag ignoriert diese Realitäten völlig. Die Polarität zwischen dem berühmten Dachdecker, dem zugestanden wird, nicht ewig arbeiten zu können und jemand, der sich in geistiger und nervlicher Anspannung in einem Büro verschleißt, ist eh eine Illusion.

Exkurs: Politisches Versagen und die Pensionslüge

Immer wieder wird der Beamtenbereich des öffentlichen Dienstes zur Zielscheibe von Pensionskritik. Dabei wird ein zentrales Faktum immer ignoriert: Die Beamtenbezüge sind – im Bruttovergleich – signifikant niedriger als vergleichbare Einkommen in der Privatwirtschaft und auch – das ist wichtig – die der Angestellten im öffentlichen Dienst in vergleichbaren Funktionen. Das war politisch so gewollt, als man sich in den frühen Zeiten der Bundesrepublik für die Weiterführung eines Systems „nach den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ entschied. Im Gegenzug erwerben Beamte direkte Ansprüche gegen den Staat. Die Differenz sollte zur Bildung von Pensionsrücklagen verwendet werden, davon ging man damals wie selbstverständlich aus und das war auch selbstverständlich – als dem Systemgedanken immanent.

Die Realität? Der Staat hat diese Beträge seit Jahrzehnten als allgemeine Verfügungsmasse genutzt und keinen Gedanken an seine Rücklagenverpflichtung verschwendet. Soweit zu der populären Sentenz, „die Beamten“ hätten für ihre Pensionen ja nichts eingezahlt. Jetzt, wo die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen, ist das Geschrei groß. Aber nicht die Beamten haben das verursacht. Sondern eine Politik, die ihren eigenen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist und das wahrscheinlich heute selbst kaum noch weiß.

Es war zwischenzeitlich sogar einmal etabliert, dass die Beamten selbst aus ihren Besoldungen (genauer: aus ihren Besoldungserhöhungen) eine solche Rücklage aufbauen sollten. In Kenntnis der Historie eine Absurdität sondergleichen. Das wurde zwar bald kassiert. Gründe dafür waren aber die nicht erreichbare Einheitlichkeit einer solchen Regelung in Bund, Ländern und Kommunen und das auf diesem Wege nicht erreichbare notwendige Rücklagenvolumen. Und nicht die Einsicht, dass die Beamten damit doppelt belastet gewesen wären für ihre Pensionen: durch nachhaltig vergleichsweise deutlich niedrigere Bezüge und durch beständige Reduzierung von Besoldungserhöhungen.

Statistik ersetzt keine Gerechtigkeit

Wenn man die Differenz in der Lebenserwartung summarisch zugrunde legt – was sagt das über die individuelle Belastbarkeit? Wenig bis nichts. Wer wie der Verfasser dieses Beitrags fast 48 Jahre im Dienst war, krank und schwerbehindert ein halbes Jahr vor dem gesetzlichen Termin mit einem (kleinen) Pensionsabschlag ausgeschieden, dem hätte eine Rente mit 70+ nur die Wahl gelassen zwischen „frühzeitiger“ Dienstunfähigkeit mit empfindlichen Pensionsabschlägen oder dem gesundheitlichen Zusammenbruch.

Personalentwicklung? Fehlanzeige

Die Vorschläge des Pestel-Instituts gehen auch an den strukturellen Problemen der öffentlichen Verwaltung vorbei. Schon heute sind viele Laufbahnen im öffentlichen Dienst faktisch „verstopft“, weil über Jahrzehnte keine kontinuierliche Personalentwicklung betrieben wurde. Wer Ältere zwangsweise hält, blockiert den dringend benötigten Nachwuchs. Wer aber die Jüngeren fördern will, muss einen planbaren Generationswechsel organisieren. Dazu gehört auch die Perspektive auf ein faires, erreichbares Dienstende.

Der wahre Kern: Ein hilfloser Sozialneid

Was hinter solchen Vorschlägen steht, ist meist kein durchdachtes Reformmodell, sondern eine Mischung aus populärem Neid, statistischem Trugschluss und dem politischen Reflex, komplexe Probleme durch einfache Sündenböcke zu „erklären“. Dass ausgerechnet der Beamtenstand hier zur Zielscheibe wird, hat Tradition. Doch sie wird durch Wiederholung nicht richtiger.

Was wirklich getan werden müsste

Wer ernsthaft soziale Gerechtigkeit will, sollte nicht mit der Rasenmäherlogik kommen. Er sollte die unteren Lohnniveaus stärken, Mindestlöhne realistisch indexieren, Erwerbsbiografien stabilisieren und Erwerbsarmut verhindern. Und ein wirklich gerechtes Steuersystem etablieren.

Und:

  • Ja, es ist richtig, dass viele Menschen mit einfacheren Berufen zu früh sterben.
  • Ja, es ist ein Skandal, dass sie oft keine Chance haben, ihren Ruhestand zu erleben.

Aber das lässt sich nicht dadurch lösen, dass man anderen Gruppen, die glücklichere Karten gezogen haben, nun den Ruhestand versagt. Das ist kein Ausgleich. Das ist eine Umverteilung von unten nach seitwärts.


Was bleibt, ist der Eindruck: Ein „Institut“, das solche Vorschläge in die öffentliche Debatte einspeist, sucht nicht nach Lösungen, sondern nach Aufmerksamkeitswert. Und die Medien greifen es auf, weil es schön knallt: Die Beamten! Die Pensionen! Die Ungerechtigkeit! Und schon ist das Thema echte Steuergerechtigkeit wieder vom Tisch …

Doch Wahrheit und Gerechtigkeit entstehen nicht aus Lautstärke. Sondern aus Nachdenklichkeit. Und Verantwortung.

Nicht die Beamten sind das Problem. Sondern eine Politik, die ihre eigenen Hausaufgaben nicht gemacht hat.

Eine nachhaltige Diskussion über Renten, Pensionen und Lebensarbeitszeit muss differenzieren, statt pauschalisieren. Sie muss individuelle Lebensverläufe, Belastungen und Berufsbilder ernst nehmen. Und sie darf nicht jene bestrafen, die Jahrzehnte pflichtbewusst gearbeitet haben, weil ein paar Statistikwerte eine schöne Zahl versprechen.


Das Grillenzirpen der SPD – und das doppelte Spiel der FAZ

Grillenzirpen und Nebelhörner – visualisiert von Microsoft Copilot

Manchmal hilft die Natur bei der Beschreibung des Politischen. Grillen zum Beispiel. Sie zirpen. Unermüdlich. Und ganz gleich, was ringsum passiert – das Zirpen bleibt gleich. Es hat keinen Bezug zur Wirklichkeit, sondern scheint eine Art akustischer Selbstberuhigung zu sein. Und damit wären wir bei der SPD.

Denn wer, wie CDU-General Carsten Linnemann, derzeit unablässig verkündet, Deutschland stehe „vor einem Herbst der Reformen“ – und wer darin radikale Eingriffe ins soziale Gefüge sieht: Kürzungen, Repressionen, Entlastungen für Vermögende, Bürokratisierung statt Hilfe – der muss sich fragen: Warum hört man von der SPD dazu nichts außer dem vertrauten Zirpen?

In seinem FAZ-Meinungsnewsletter vom 7. August greint Daniel Deckers über das angeblich gebrochene Versprechen eines „Reformherbstes“. Als verhinderten Reformminister ohne Amt zeichnet er Linnemann, das Bild eines Getriebenen, dem bloß der Koalitionspartner SPD (sic!) den Weg bei seinen grandiosen Reformideen zur Sozialpolitik verstellt. Dass dieser Koalitionspartner längst stillschweigend so gut wie alle rechtlich fragwürdigen, realitätsfernen und unsozialen Narrative der Union mitträgt, bleibt unerwähnt. Stattdessen mimt Deckers den enttäuschten Chronisten einer SPD, die sich „nicht mehr aufraffen“ könne.

Tatsache ist: Es gibt keine Reform, die sich bislang an einer humanen, sozial gerechten Wirklichkeit orientiert hätte. Stattdessen erleben wir den Versuch, im Grunde längst delegitimierte Diskurse noch weiter in Richtung autoritären Sozialabbaus zu verschieben. Was nicht als Leistung „verwertbar“ ist, gilt plötzlich als staatszersetzend. Und währenddessen deckt die FAZ mit ihrer klassenpolitischen Kommentierungsmoral den Mantel der intellektuellen Anständigkeit über ein durch und durch regressives Denken.

Doch was dabei vergessen wird: Nicht jeder gesellschaftspolitische Furor landet automatisch im Gesetzblatt. Spätestens wenn die Ministerialbürokratie prüft, was sich tatsächlich umsetzen ließe, stößt der Klassenkampf von oben auf einen Widerstand, den die FAZ gerne als „Verwaltungshindernis“ verunglimpft: die rechtsstaatliche Prüfung, das Grundgesetz, die Verhältnismäßigkeit, das Sozialstaatsprinzip. Die Frage ist, von welcher Bedeutung dies auf Dauer ist, in einer Zeit, wo an der Rechtstreue von Regierungsmitgliedern gezweifelt werden muss.

Auch Adenauer oder Erhard, bei allem Unterschied, hätten sich bei mancher „sozialpolitischen Idee“ der aktuellen CDU wohl am Kopf gekratzt.

Und die SPD?
Sie zirpt. Leise. Anhaltend und wirkungslos.
Während die Angriffe auf das Soziale längst mit Nebelhörnern geführt werden.

Deckers irrt, wenn er aus einer erstaunlichen Perspektive heraus ausgerechnet der Koalitions-SPD die Bremserrolle, also sozialpolitische Verantwortung, zuschreibt. Das mag in Teilen der Partei und der Fraktion noch leise flackern, das Bollwerk gegen Pläne zur Herabwürdigung der Bedürftigsten in der Koalition ist sie wohl nicht.


Gestohlene Aufmerksamkeit – Die digitale Entwürdigung durch Täuschung

Warum Phishing, Scam und manipulative Kommunikationsformen mehr sind als Internetkriminalität


Digitale Belästigung – visualisiert von Microsoft Copilot

Die Banalisierung der digitalen Belästigung

„Hallo, kannst du mich hören? Ich höre dich nur ganz schlecht! Schreib mir doch bei WhatsApp.“ – Ein banaler Anruf aus Italien, eine unbekannte Nummer, eine weibliche Stimme, kein Anliegen. Wer heute ein Telefonat entgegennimmt, muss mit vielem rechnen – nur nicht mit einem ehrlichen Grund fürs Klingeln. Was einmal als Ausnahme galt, ist zur Alltagskulisse geworden: digitale Belästigung im Minutentakt.

Und doch steckt mehr dahinter. Wer sich mit Scam, Phishing oder manipulativen Support-Anrufen auseinandersetzt, merkt rasch: Es geht nicht nur um Kriminalität, es geht um Kultur. Genauer: um eine Kultur der systematischen weitverbreiteten Täuschung – und ihre Wirkung auf den Menschen.

Von der Kriminalität zur Kulturtechnik

Was früher als „Betrugsversuch“ belächelt wurde, hat sich heute zu einem komplexen Ökosystem der Irreführung entwickelt. Spam, Scam, Social Engineering und Identitätsklau sind nicht mehr Ausdruck individueller Kriminalität, sondern digitalindustrielle Massenphänomene. Algorithmen versenden automatisch Phishingmails, Chatbots simulieren menschliche Interaktion, Deepfakes machen selbst Experten unsicher.

Täuschung ist zur technischen Disziplin geworden. Und sie richtet sich nicht mehr nur gegen „dumme“ oder unaufmerksame Opfer. Sie zielt auf unsere kognitive Auslastung, unsere Routinen – unsere Menschlichkeit.

Die unsichtbare Würdelosigkeit: Als Zielobjekt betrachtet

Was dabei oft zu kurz kommt: Der ethische Aspekt. Wer Ziel eines Betrugs wird, wird nicht als Subjekt angesprochen, sondern als manipulierbares Objekt. Die eigene Person wird reduziert auf Schwachstellen, Reaktionsmuster, Angreifbarkeit.

Selbst bei erfolgreicher Abwehr bleibt ein Gefühl zurück: das der Entwürdigung. Man wurde nicht gesehen, sondern durchleuchtet. Nicht gefragt, sondern getestet. Nicht respektiert, sondern berechnet.

Wie viel Betrug steckt in der Gesellschaft?

Die schiere Menge der Angriffe lässt eine unbequeme Frage zu: Wie viele Menschen beteiligen sich aktiv oder passiv an diesem System? Welche Rolle spielt die stillschweigende Akzeptanz, das „Das ist halt so“?

Hinzu kommt ein erschreckender Trend: Auch seriöse Akteure nutzen Mechanismen der Irreführung – ob im Marketing, in der Verwaltung oder im digitalen Kundenkontakt. Undurchsichtige Formulare, verschleierte Vertragsbedingungen, algorithmische Filterblasen, unklare Sprache: Die Grenze zwischen Absicht und Struktur verschwimmt.

Der Preis: Vertrauensverlust und Zynismus

Was bedeutet das für die Gesellschaft? Wer ständig angegriffen wird, baut Mauern. Wer nicht mehr unterscheiden kann zwischen Nachricht und Falle, zwischen Dialog und Manipulation, verliert Vertrauen. Im schlimmsten Fall: in alles.

Der Rentner, der keine Post mehr öffnet. Die Alleinerziehende, die Online-Kommunikation meidet. Der Jugendliche, der mit radikalem Misstrauen durchs Netz surft. Die Abwehrhaltung wird zur zweiten Natur – und das Misstrauen zum Grundton des Digitalen.

Was tun? Zwischen Technik, Bildung und Haltung

Technische Schutzmaßnahmen sind wichtig, aber nicht ausreichend. Genauso notwendig ist eine Kultur digitaler Redlichkeit. Dazu gehört:

  • Bildung: Digitale Kompetenz, kritisches Denken, sprachliche Sensibilität
  • Transparenz: Verständliche Prozesse, klare Sprache, erkennbarer Absender
  • Haltung: Der Wille, Menschen nicht zu instrumentalisieren, sondern zu respektieren

Es geht nicht nur darum, Angriffe abzuwehren. Es geht darum, sie nicht zu normalisieren.

Es geht nicht nur um Sicherheit. Es geht um Würde.

Die digitale Welt verlangt Schutzmechanismen. Aber sie verlangt auch einen klaren Kompass. Wer sich gegen Täuschung wehrt, verteidigt nicht nur seine Daten – sondern auch seine Würde als Mensch.

Und vielleicht ist das der Punkt, an dem Aufklärung heute neu ansetzen muss.


Wenn Skepsis zur Verweigerung wird – eine Replik auf Psirams ME/CFS-Serie

Vom Zweifel zur Auflösung – Microsoft Copilot

Wer sich das Etikett des Skeptikers zu eigen macht, verpflichtet sich – so sollte man meinen – zu intellektueller Redlichkeit, methodischer Strenge und erkenntnisoffener Kritik. Doch was, wenn aus Skepsis eine Rhetorik des Nichtwissens wird? Wenn der Zweifel nicht mehr fragt, sondern nur noch zersetzt? Wenn jede Hoffnung als Naivität erscheint – und jeder Forschungsansatz als übergriffig?

Die anonyme Reihe auf dem Psiram-Blog zum Thema ME/CFS, mittlerweile vier Artikel lang (hier der vierte Teil, der den Anstoß zu diesem Kommentar gab), zeigt exemplarisch, wie sich skeptischer Anspruch in erkenntnistheoretischen Nihilismus verkehren kann. Die Texte sind sprachlich versiert, bemüht analytisch – und doch durchzieht sie ein Grundton distanzierter Überlegenheitsattitüde, der an keiner Stelle fragt: Was wäre, wenn hier tatsächlich etwas in Bewegung gerät? Was wäre, wenn ernsthafte Forschung endlich möglich wird, nach vier Jahrzehnten strukturellen Desinteresses?

Stattdessen: Alles wird kleingeredet. Wir wissen nichts. Wir haben nichts. Wir dürfen nichts hoffen. Eine Misstrauensästhetik, verkleidet als Wissenschaftskritik. Der Psiram-Autor präsentiert sich als wohlmeinend abgeklärt – doch unter der Oberfläche wirkt sein Text wie ein intellektuelles Nein-Sagen – elegant formuliert, aber letztlich ohne Perspektive.

Was in dieser Serie völlig ausgeblendet bleibt: Dass es sich bei ME/CFS um eine Erkrankung handelt, die über Jahrzehnte marginalisiert, missverstanden und psychologisiert wurde. Dass das jetzige Forschungsinteresse nicht Ausdruck einer Mode ist, sondern einer überfälligen Korrektur. Dass viele der wissenschaftlichen Sackgassen, die der Autor betont, eben deshalb entstanden sind, weil man sich zuvor weigerte, systematisch und unvoreingenommen zu forschen.

Das ist bedauerlich. Denn ME/CFS ist nicht nur ein medizinisches Thema, sondern auch ein Prüfstein für den Zustand unserer wissenschaftlichen Kultur: Wie gehen wir mit Unsicherheit um? Mit Betroffenen, die lange ignoriert wurden? Mit Forschung, die tastet statt triumphiert? Wer hier reflexhaft abwinkt, entzieht sich einer moralischen wie erkenntnistheoretischen Herausforderung.

ME/CFS betrifft Millionen weltweit, hunderttausende hierzulande – viele davon leben seit Jahren in einem Zustand körperlicher und materieller Not, gesellschaftlicher Unsichtbarkeit und medizinischer Vernachlässigung. Es steht mehr auf dem Spiel als akademischer Diskurs.

Der menschliche Faktor: Forschung und Fürsorge

ME/CFS betrifft Menschen – keine Abstrakta, keine bloßen Forschungsobjekte. Es geht um Lebenswirklichkeit, Leid, verlorene (Lebens-)Zeit. Dass die wissenschaftliche Kultur Jahrzehnte gebraucht hat, um diese Krankheit ernst zu nehmen, ist nicht nur ein medizinischer Fehler, sondern ein humanistisches Versäumnis. Die Autorin Margarete Stokowski, selbst betroffen, brachte es auf den Punkt: Forschung braucht nicht nur Methodik – sondern Haltung. Eine, die auch die Würde der Kranken im Blick behält.
„Wer für Menschenrechte und Empathie eine Speichelprobe braucht, bei dem läuft etwas grundlegend falsch.“
– Margarete Stokowski, Die letzten Tage des Patriarchats

Im gesamten Psiram-Text bleibt dieser Aspekt seltsam ausgespart, als wäre Wissenschaft ein rein kognitives Spiel, losgelöst von Verantwortung. Wenn man den Grundton des Textes nicht als regelrechten Kulturpessimismus liest, bleibt zumindest der Eindruck einer intellektuellen Weltabgewandtheit, die ihre skeptische Pose für Tiefe hält – und dabei das Menschliche aus dem Blick verliert.

Skepsis ist kein Freibrief für Weltabgewandtheit. Und schon gar kein Alibi für Spott, Zynismus oder hohle Rhetorik. Wer Kritik übt, muss auch zeigen, wie es besser geht – oder zumindest anerkennen, dass andere es versuchen.

Denn das Gegenteil von Aufklärung ist nicht Irrationalität – es ist der Zynismus einer scheinbar überlegenen Perspektive. Und dieser tarnt sich gern als Skepsis. Was wir brauchen, ist aber eine aufgeklärte Skepsis, die sich nicht im Zweifel erschöpft, sondern verantwortungsvoll fragt, wohin der Zweifel führen soll.


Ein Peptid gegen alles? Ein kurioser Einblick in die Welt der Heilsversprechen

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Vor wenigen Tagen fand ich in meinem Blogpostfach eine bemerkenswerte E-Mail. Der Absender: ein offenbar engagierter Mensch aus dem Ausland, der sich selbst als Mittler einer kleinen, vielversprechenden therapeutischen Entdeckung versteht, offenbar im Agentursinne auf der Suche nach einem Geschäftsmodell. Die Botschaft war klar: Ein niedersächsischer Arzt behandle Long Covid und Post-Vac erfolgreich – mit einem „altbekannten, sicheren Peptid“ an nicht mal einer Handvoll Patienten. Ganz ohne Studien, aber angeblich mit verblüffenden Erfolgen. Und mit großem Unverständnis dafür, dass sich niemand dafür interessiere: keine Universitätsklinik, keine Krankenkasse, keine Fachgesellschaft. Stattdessen angeblich Misstrauen, Trägheit, Ignoranz.

Was folgte, war eine Tirade gegen die „Paranoia“ der Patienten, die Inkompetenz der Forschungsstiftungen und die Mutlosigkeit der Ärzteschaft. Und natürlich: gegen die großen Pharmakonzerne, die angeblich verhindern, dass kleine Entdeckungen groß werden. Alles, was fehlte, war das Stichwort „Big Pharma“. (Es fiel aber quasi implizit.)

Das Ganze kulminierte in der Frage, ob ich nicht helfen könne, „drei oder vier weitere Patienten“ für die Behandlung zu gewinnen. Am besten in der Region Göttingen oder Paderborn. Oder notfalls auch anderswo.


Was soll man darauf antworten?

Vielleicht dies: Dass individuelle Heilversuche zwar unter der Voraussetzung lückenloser und dokumentierter Patientenaufklärung durch die ärztliche Therapiefreiheit gedeckt sind – aber noch lange keinen Erkenntnisgewinn darstellen. Dass niemandem geholfen ist, wenn anekdotische Beobachtungen als Beleg für Wirksamkeit verkauft werden. Dass selbst das beste Peptid keine komplexe Multisystemerkrankung wie ME/CFS oder Long Covid „lösen“ kann – jedenfalls nicht ohne eine klare Pathophysiologie, nachvollziehbare Mechanismen und systematisch gewonnene Daten.

Und vor allem gäbe es durchaus Wege, solche Beobachtungen ernsthaft zu prüfen. Es gibt Fachzeitschriften für Fallberichte (Case Reports), es gibt Register für individuelle Heilversuche beim BfArM, es gibt ethisch tragfähige Vorgehensweisen. Wer das alles umgeht – und sich stattdessen beklagt, dass die Welt nicht auf ihn hört –, der darf sich nicht wundern, wenn seine Entdeckung im Schatten bleibt, allenfalls irgendwann dubiosen Geschäftsmodellen in die Hände fällt und vom „dritten Gesundheitsmarkt“ aufgesogen wird, der sich auf Werbeseiten von unterklassigen Periodika abspielt . Es ist nicht die Schuld der Medizin, wenn jemand sich dem wissenschaftlichen Diskurs verweigert.


Fazit: Die Legende vom verkannten Heilsbringer lebt weiter.

Was bleibt, ist die immer gleiche Geschichte: Ein Einzelner mit einer Idee. Eine Welt, die nicht zuhört. Und eine implizite Verschwörung der „offiziellen Stellen“. Das alles klingt heroisch – ist aber meist das Gegenteil von verantwortungsvoll. Denn wer glaubt, allein die Wahrheit gepachtet zu haben, verkennt, wie wichtig belastbare Belege, reproduzierbare Ergebnisse und kollektive Überprüfung für den medizinischen Fortschritt sind.

Der Mailschreiber insistierte noch mehrfach auf seinem Standpunkt. Dabei artikulierte er immer mehr sein Unverständnis, es handele sich doch um einen approbierten Arzt und man habe sich doch mit den Versuchen beim BfArM registrieren lassen!!! Nun, weder das eine noch das andere führt zu Erkenntnisgewinnen im wissenschaftlichen Sinne. Leider war der gute Mann zum Schluss, trotz (oder wegen?) meiner Erklärungsversuche – beleidigt …


Zum Weiterlesen auf diesem Blog – hätte der Anfrager diesen Beitrag gelesen, hätte er vielleicht gemerkt, dass er ausgerechnet bei mir mit seinem Anliegen an der falschen Adresse war:

Verirrt im Neuland: Das Lobbyregister beim Deutschen Bundestag

Einmal im Jahr will das Lobbyregister beim Bundestag für unsere kleines ehrenamtliches Netzwerk aktualisiert werden. Und das klingt so einfach wie es nicht ist. Für das Jahr 2024 präsentierte sich die Anwendung runderneuert – ein „Upgrade“ aufgrund von Rechtsänderungen, das wie so oft im Verwaltungsdeutsch vor allem eines bedeutet: mehr Schritte, mehr Bedenken, mehr Formularsprache. Man sollte „[sich] durchklicken“ in den Duden aufnehmen. Masken, Verschachtelungen, Eingabefelder …

Die Krönung: Die Plausibilitätsprüfung 2025. Man meint, es ginge darum, Angaben auf Konsistenz zu prüfen. Doch in Wirklichkeit werden realitätsferne Erwartungshaltungen als zusätzliche Hürden aufgerichtet. DIe Plausi-Prüfung ist das Misstrauen in Person. Warum gibt es keine Mitglieder? Warum keine mit der Lobbyarbeit explizit Beauftragte? Warum kein Budget? Weil das eben die Realität mancher Initiativen ist.

Wer auf die Idee kommt, Angaben wie „0 Euro Ausgaben für Interessenvertretung“ zu machen, bekommt gleich einen Seitenhieb. So günstig kann Lobbyismus nicht sein, insistiert das System. Es sei denn, er besteht aus ehrenamtlichen Mails, Textbeiträgen, Gesprächen und einer Menge geopferter Freizeit – in der Regel nicht im Foyer des Reichstagsgebäudes oder am Tisch eines politischen Szenerestaurants in Berlin. Und das, was an Kosten als Bodensatz bleibt, für Online-Präsenzen beispielsweise, – das zahlt man stillschweigend aus eigener Tasche. Doch genau das ist bei kleinen Initiativen der Fall. Das weiß das System aber nicht. Oder will es nicht wissen. Genauso wenig weiß es darüber, dass bei kleineren Organisationen oft eine Sprecherriege oder Ähnliches die Vertretung nach außen übernimmt und nicht „ein Beauftragter“. Oder darüber, dass es nicht unüblich ist, bei nicht rechtsfähigen Netzwerken keine feste Mitgliederstruktur zu führen.

Dann weiter: Man klickt auf „Freigabe“ – und landet nicht bei der Freigabe. Sondern bei einer neuen Prüfschleife. Die Hinweise, die man zuvor ignoriert hat, weil nur dieses Igonorieren die realen Verhältnisse wiedergibt, werden nun offiziell bemängelt und eine detaillierte Nachfrage avisiert. Man soll wohl noch mal in sich gehen. Diese detaillierte Nachfrage kam dann auch, per Mail, wenigstens nicht per Papierpost. Immerhin kann man trotz alledem an dieser Stelle den Vorgang fortsetzen: Das nun verfügbare Bestätigungsdokument muss heruntergeladen, unterschrieben, eingescannt und wieder hochgeladen werden. 15 Seiten, Ohne diese analoge Zwischenstation geht nichts.

Was bleibt? Ein Beispiel für die Erkenntnis, dass Digitalisierung in Deutschlands Verwaltungen oft genau das nicht ist, was sie verspricht. Daten abfragen und online erfassen ist längst noch keine Digitalisierung. Digitalisierung meint die Gestaltung von Prozessen. Ganz nebenbei wird in unserem Falle Misstrauen zur Struktur. Wer das Lobbyregister nutzt, wird nicht begleitet, sondern überwacht. Nicht gefragt, sondern bezweifelt. Wohlgemerkt, ich spreche hier für kleine Gruppen, nicht für professionelle Berufslobbyisten im Auftrage finanzstarker Interessen. Die Berufslobbyisten machen aus den Anforderungen höchstens wieder ein Geschäftsmodell, full service, all inclusive, auch die Online-Pflege des Lobbyregisters, je komplexer desto besser. Gegen angemessenes Honorar selbstverständlich, das der Auftraggeber ja steuerlich absetzen kann. Kleine Gruppen mit zivilgesellschaftlichem Engagement erleben das System anders und können das nicht durch Outsourcing kompensieren.


Ich hatte diesen Text längere Zeit zurückgestellt und noch nicht über eine Veröffentlichung entschieden. Die weitere Entwicklung gibt aber nun den letzten Anstoß.

Denn: Es gibt das nächste Update der Online-Anwendung. Tatsächlich wurden die Limitierungen der Vorfassungen beseitigt, es kam aber wieder einiges mehr dazu. Und dieses Neue hat eine andere Qualität, die über eine klassische Datenerfassung inzwischen hinausgeht: Es werden nicht mehr nur klassische formale Daten mehr verlangt – sondern rechtfertigende Narrative. Ein Wer, Wie, Was, Warum ganz konkret zu jedem einzelnen Anliegen, auf das sich Lobbybemühungen beziehen.

Aus einer Datenerhebung aus Gründen der Übersicht wird so ein halbformalisierter Berichtszwang – mit der impliziten Erwartung, die eigene Legitimität möglichst erschöpfend zu erklären. Das ist mehr als bloße Überformung. Das ist ein Rollentausch: Die Eingetragenen stehen unter Rechtfertigungsdruck. Ist es nicht längst so, dass aus einem demokratischen Transparenzinstrument ein digitaler Überforderungskorridor wurde? Und dass der Staat seine eigenen Defizite im Umgang mit Einfluss und Transparenz durch ein Bürokratiemonster (und dann auch noch für die Falschen, die Kleinen, die Ehrenamtlichen, die zivilgesellschaftlich Engagierten) kompensiert?

Dass dieses Gefühl wohl nicht trügt, wird auch dadurch unterstrichen, dass die Bundestagsverwaltung zur neuesten Version erneut Webinare anbietet, deren Inanspruchnahme dringend angeraten wird. Webinare. Um eine Online-Datenerfassung ausfüllen zu können. Für mich ein Zeichen dafür, dass die Datenmodellierung des Erfassungssystems die Intention des Lobbyregistergesetzes nicht widerzuspiegeln scheint. Mag sein. Die Frage ist aber, wessen Problem das ist.


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