Gestern – am 21.02.19 – veröffentlichte das WDR-Wissenschaftsmagazin “Quarks” einen Videobeitrag und den zugehörigen Text unter dem Titel “Akupunktur ist mehr als Placebo”. Wohlgemerkt, das mit einem wissenschaftlichen Anspruch antretende TV-Magazin “Quarks” tat das, nicht das Zentrum der Gesundheit oder der Zentralverein der deutschen Pseudomediziner.

Nein, Akupunktur ist NICHT mehr als Placebo (worunter ich in diesem Falle mal “unpräzise” die Gesamtheit der non-specific-Effects, aller Kontexteffekte, einschließlich der hier relevanten Suggestiveffekte verstehe), darüber besteht in der seriös-kritischen wissenschaftlichen Gemeinde kein Dissens. Was Quarks in der Diskussion auf Facebook für eine Haltung gegenüber einer Vielzahl fundierter und belegter Einwände demonstrierte, das hat mich mehr verstört als der Beitrag selbst.

Akupunktur ist eine typische “Gemengelage”. Hier kommen viele Aspekte zusammen: Falsche historische Bezüge, soziokulturelle Gegebenheiten, New-Age-Gedankengut, die üblichen Euphemismen von der “sanften” Medizin und pures Nichtwissen. Das Aufstreben der Akupunktur seit den 1970er Jahren ist geprägt von dieser Gemengelage (auf die frühe Rezeption im Westen schon seit dem 17. Jahrhundert gehe ich in diesem Zusammenhang nicht weiter ein). Die bis heute anhaltende Akupunktur-Welle wurde ausgelöst vom Bericht des Journalisten James Reston, der den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon auf seiner China-Reise begleitete und der dort nachoperativ (nach einer Blinddarmentfernung) mit Akupunktur behandelt wurde. Davon war er so angetan, dass er dies als eine Art Wunder in etlichen Artikeln berichtete. Dies traf auf die New-Age-Stimmung der damaligen Zeit und löste einen Hype aus, der erst zu einem Pilgerzug nach China führte, dann auch die Hürde zur ernsthaften medizinischen Forschung überschritt und – erwartbar – zunächst scheinbar belastbare Evidenz pro Akupunktur zutage förderte. Genau die unsägliche Vermischung von Spekulation mit unkritisch angewandter evidenzbasierter Methodik, die mir schon länger suspekt ist, auch auf anderen Gebieten.

In der Tat. Wie auch bei anderen pseudomedizinischen Methoden ohne Grundplausibilität zeigt sich hier, wie sehr die evidenzbasierte Methode (die Schaffung belastbarer Evidenz durch Studien) ein Einfallstor für ihr glattes Gegenteil sein kann: für die Scheinlegitimation von Pseudomedizin. Quarks gab mit seinem Beitrag und vor allem mit der unsäglichen Diskussion auf seiner Facebook-Seite hierfür ein bedauerliches Beispiel.

Was meine ich damit? Nun, mehr oder weniger wird durch die wissenschaftliche Untersuchung nach den Methoden der evidenzbasierten Medizin von vornherein eine Legitimation dessen suggeriert, was sich die Wissenschaft da “vornimmt”. Wenn wissenschaftliche Studien durchgeführt werden, dann muss doch was dran sein, denkt sich Otto Normalpatient. Das wäre nun noch nicht so gravierend. Aber es kommt noch mehr dazu:

Belastbare Outcomes (Ergebnisse) von Studien sind nur bei höchster Qualität von Studiendurchführung und -design zu erwarten. Es ist bekannt, dass selbst auf den ersten Blick nicht erkennbare Unzulänglichkeiten in Studien (z.B. mangelnde Verblindung, Bildung von Gruppen, die für eine Vergleichbarkeit ungeeignet sind) den Outcome nahezu ins Gegenteil verzerren können. Und dies geschieht. Besonders bei Studien zu pseudomedizinischen Methoden, die meist einen confirmation bias schon deshalb haben (vom publication bias wollen wir gar nicht reden), weil sie im Grunde nicht ergebnisoffen, sondern als eine Art Bestätigungsforschung durchgeführt werden. Und diese vielfach nicht belastbaren Outcomes einzelner Studien oder auch von schlecht durchgeführten Reviews dienen den Proponenten pseudomedizinischer Methoden als wohlfeile Argumentationsgrundlagen, um ihren Methoden den Anstrich des Evidenzbasierten zu geben. Was der normale Rezipient schlicht nicht nachprüfen kann.

Dies ist ein weites Feld und soll hier auch nur angerissen werden. Und zwar deshalb, weil Quarks uns genau hierfür ein Musterbeispiel geliefert hat.


Trotzdem zur Verdeutlichung dessen, was ich meine, eine kleine Geschichte (eher Parabel) – sie stammt von einem der Urväter des kritisch-skeptischen Denkens, von Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657 – 1757) und ist sehr illustrativ:

Im Jahr 1593 lief das Gerücht um, dass einem siebenjährigen Jungen in Silesia ein goldener Backenzahn an der Stelle eines ausgefallenen Milchzahns gewachsen war. Horatius, Medizinprofessor an der Universität von Helmstadt, schrieb 1595 eine “Historia” über diesen Zahn und führte darin aus, dass es sich teils um ein natürliches, teils um ein mirakulöses Ereignis gehandelt habe, das offenbar von Gott zu diesem Kind geschickt worden sei, um die Christenheit angesichts der Bedrohung durch die Türken zu einigen. Man möge sich vorstellen, was für einen Trost für die Christenheit einerseits und welche Beängstigung für die Türken andererseits dieser Vorgang mit sich bringen mochte. Um in der Sache des Zahnes die historische Wissenschaft nicht zurückstehen zu lassen, schrieb Rollandus sein großes Geschichtswerk noch im gleichen Jahr um.
Zwei Jahre danach nahm Ingolsteterus, ein ebenfalls gelehrter Mann, scharf Stellung gegen die Ausführungen von Rollandus zum goldenen Zahn, worauf Rollandus wiederum eine wohlformulierte und scharfsinnige Replik verfasste. Ein weiterer Gelehrter, Libavius, kompilierte das bis dahin Geschriebene in dieser Sache und fügte seine eigene Sicht der Dinge hinzu. Nichts war an all diesen großartigen Büchern zu bemängeln, abgesehen davon, dass bislang nicht geklärt war, ob der Zahn tatsächlich aus Gold bestand. Als ein Goldschmied die Sache untersuchte, fand er heraus, dass es sich nur um eine dünne Goldfolie handelte, die kunstvoll auf dem Zahn angebracht worden war.
Fazit: Sie fingen alle an, gelehrte Bücher zu schreiben, konsultierten aber erst danach den Goldschmied…

(nach Fontenelle: Entreriens sur la Pluralité des Mondes suivi de Historie des Oracles)

Ich finde, das illustriert sehr gut, wie schnell die Schranke zur “Verwissenschaftlichung” unplausiblen und / oder unbelegten Unsinns überschritten werden kann. Kluger Mann, dieser Fontenelle.


Die Einzelstudien zur Akupunktur sind kaum überschaubar, selbst an Reviews gibt es eine Menge. Trotzdem wissen wir seit geraumer Zeit (man kann sagen, seit Ende der 1990er Jahre), dass sich ein klares Muster bei den Studien abzeichnet, vor allem, seitdem sie kritisch betrachtet, nach Qualität selektiert und ihre Ergebnisse in der Community diskutiert und geradegerückt werden. Gerade bei Akupunkturstudien gibt es geradezu einen Katalog von typischen Design- und Durchführungsfehlern, die in leichten Abwandlungen immer wieder auftauchen. Ich werde irgendwann noch einmal näher darauf eingehen. Es ist aber festzuhalten, dass “Cherrypicking” im Meer der Akupunkturstudien eine leichte Übung ist – anders als das Herausarbeiten der tatsächlichen Evidenzlage. Letzteres ist aber auch keineswegs unmöglich, sondern setzt nur eine gewisse Recherchefähigkeit und kritisches Herangehen an die Sache voraus.

Man muss also, um eine gültige Aussage zum wissenschaftlichen Stand der Akupunktur treffen zu können, das “Muster” erkennen können, das sich aus einer kritischen Gesamtbetrachtung der gesamten Studienlage zur Akupunktur ergibt. Und dieses Muster ist vorhanden und inzwischen ziemlich klar: Nirgends ergeben sich relevante Unterschiede zwischen Akupunktur und Scheinakupunktur (auch nicht beim Pieksen mit einem Zahnstocher …). Eine reaktive Variable ist offenbar vor allem, wenn nicht allein, der Grad der Zuwendung des Therapeuten im Setting. Woraus folgt: Wenig bis nichts spricht für eine spezifische Wirkung. Akupunktur ist Placebo. Ein Placebo besonderer Art, sicher, mit einem hohen Suggestivfaktor, zutreffend “Theatrical Placebo” genannt, in dem gleichnamigen Artikel von Steven Novella und David Calquhoun in ihrem Aufsatz in “Anaesthesia and Analgesia” von 2013.

Eine spezifische, auf die Methode selbst (intrinsisch) zurückzuführende Wirkung hat Akupunktur nicht. Ihre Grundannahmen von “Qi” und “Meridianen” bestehen aus dem schon erwähnten Wust von soziokulturellen Missverständnissen, Bedingtheiten und Wunschvorstellungen. Nicht einmal den Wunsch nach “östlicher Weisheit” erfüllt all dies. Es ist längst – anthropologisch und medizinhistorisch – belegt, dass diese vitalistischen Vorstellungen sehr eng mit solchen der nahöstlichen und früheuropäischen Kulturen korrelieren und die “östliche Weisheit” darin eine Illusion ist, die von heutigem Wunschdenken beflügelt wird.


Auf diese Umstände hingewiesen und auf die Forschung von Ted Kaptchuk, der nach langjähriger Beschäftigung mit TCM und Akupunktur zu dem Schluss kam, dies alles könne nur Placebo sein, antwortete Quarks allen Ernstes mit einer Handvoll Einzelnachweise, die nun wirklich mit einer wissenschaftlichen Gesamtschau auf die Akupunktur nichts zu tun haben, ja, teils nicht einmal die behaupteten Schlüsse überhaupt zuließen. Eine dieser “Quellen” war zudem ein tendenzieller Besinnungsaufsatz in einem Akupunktur-Journal – was für ein Evidenzbeleg…

Keinen Millimeter ist Quarks in der langen Diskussion von seiner Grundposition abgewichen, Akupunktur sei “mehr als Placebo” – mit anderen Worten, verfüge über nachgewiesene Evidenz. Ich möchte das gar nicht weiter bewerten, weil mir nahezu die Worte dafür fehlen. Verhehlt sei aber nicht, dass mich ein Umstand bei alledem besonders aufgebracht hat: Dass die Quarks-Redaktion Kommentatoren mit berechtigten Einwänden aufgefordert hat, “Belege” beizubringen, damit man “evidenzbasiert weiterreden” könne. Angesichts der eigenen unbelegten Position schon ein starkes Stück.

Und das geht so nicht. Und die atemberaubende “Verteidigung” dieser Position in der Online-Debatte war nichts weniger als ein echtes Ärgernis. Wäre es nicht so, säße ich jetzt hier nicht und würde diesen Beitrag schreiben.


Mein Tipp an alle, die mit Pseudoevidenz zur Akupunktur behelligt oder gar aufgefordert werden, “Gegenbeweise” anzutreten: Bitte nicht auf der Grundlage einzelner Studien so etwas versuchen und umgekehrt auch Beweisversuche auf diesem Level zurückweisen. Immer konsequent auf die Gesamtlage verweisen, unter diesem Beitrag einige wichtige Linktipps zu Beiträgen und Aufsätzen, die sich genau mit dieser Gesamtlage befassen.

Leider ist praktisch nichts Wesentliches in deutscher Sprache verfügbar. Man kann aber sehr gut darauf hinweisen, dass die GERAC-Studien (German Acupuncture Trial) aus den Jahren 2002 bis 2007 eben NICHT zu einer breiten Legitimation der Akupunktur im deutschen Gesundheitswesen geführt haben. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat, ohne die Akupunktur als Methode mit spezifischem Wirkungsnachweis damit anzuerkennen, rein pragmatisch für Knie- und Rückenschmerzen (ausdrücklich NICHT für Kopfschmerzen und Migräne) eine Kassenerstattung zugelassen, weil der damalige Stand der Schmerztherapie nicht ausreichte, um die Kontexteffekte der Akupunktur (die es fraglos gibt) auf die Plätze zu verweisen. Nicht mehr – nicht weniger. Diesem Beschluss lag eine Unmenge wissenschaftlichen Materials und auch eine Reihe gutachtlicher Stellungnahmen zur Akupunktur zugrunde.

Und dieser Beschluss ist nach meiner bescheidenen Ansicht inzwischen auch revisionsbedürftig. Die NICE-Guideline für Muskel-Skelett- Beschwerden des National Health System (NHS), weltweit als maßstabsetzend anerkannt, hat Akupunktur aus ihren Therapieempfehlungen in der Neufassung 2018 verbannt (übrigens auch einige medikamentöse Therapien). Der ärztliche Direktor von NICE sagte dazu:


“Regrettably there is a lack of convincing evidence of effectiveness for some widely used treatments. For example acupuncture is no longer recommended for managing low back pain with or without sciatica. This is because there is not enough evidence to show that it is more effective than sham treatment.”


Links:

Acupuncture is Theatrical Placebo” – der Schlüsselartikel von Colquhoun / Novella (2013) zur wissenschaftlichen Gesamtschau auf die Akupunktur – Link

Is Acupuncture Winning” – ein aktueller Artikel (Januar 2019) von Dr. Harriet Hall, weltweit bekannt als “The SkepDoc”, über ihre persönliche “Laufbahn” in Sachen Akupunktur – Dr. Hall war Mitarbeiterin von Prof. Bonica, der als einer der ersten begann, dem von J. Reston losgetretenen Hype nach anfänglicher eigener Begeisterung auf den Grund zu gehen – Link

Moffet HH: Traditional acupuncture theories yield null outcomea systematic review of clinical trials. Diese Arbeit legte als erstes übergreifendes Review dar, dass bei kritischer Betrachtung die bisherige Bewertung der Studienlage viel zu optimistisch war und letztlich über Placebo hinaus keine Wirkung nachweisbar ist. Moffets Forschung stellte die Gegenposition zum “Consensus Statement Acupuncture” des National Health Institute aus dem gleichen Jahr dar, das sich vorsichtig, aber immerhin zu “vielversprechenden Resultaten bei einer Vielzahl von Indikationen” geäußert hatte – Link

Zusammenstellung sämtlicher Cochrane-Reviews zur Akupunktur nach dem Stand von März 2018 – Link

Acupuncture for migraine” – eine Kritik zur Li-Migräne-Studie von 2013 aus evidenzbasierter Sicht, als (noch recht harmloses) Beispiel für typische Fehlschlüsse in Akupunktur-Studien – Link

Chinese Medicine: Nature Versus Chemistry and Technology” – von Paul Unschuld, dem Experten schlechthin für die Einordnung der Mythen über die “Traditionelle chinesische Medizin” – als Kurzbeitrag zu der oben angesprochenen “soziokulturellen Gemengelage” – Link

Mit chinesischer Tradition hat das wenig zu tun” – Interview mit Paul Unschuld im SPIEGEL – Link

Ernst E: The recent history of acupuncture. AmJMed 2008 – Link
Das Fazit sei hier kurz zitiert:
“So, after 3 decades of intensive research, is the end of acupuncture nigh? Given its many supporters, acupuncture is bound to survive the current wave of negative evidence, as it has survived previous threats. What has changed, however, is that, for the first time in its long history, acupuncture has been submitted to rigorous science—and conclusively failed the test.”

Unverzichtbar dieser erhellende Blick von Lehmann “Akupunktur im Westen: Am Anfang stand ein Scharlatan” im Ärzteblatt, auch international nachgedruckt, auf das Thema der “Adaption” von “altem fernöstlichen Wissen” im Europa des 20. Jahrhunderts – Link

G-BA: Pressemitteilung “Akupunktur zur Behandlung von Rücken- und Knieschmerzen” – Link

Das soll an dieser Stelle genügen. Ist eh wieder zu lang geworden. Bitte um Entschuldigung. Nur noch eins: Bei “Susannchen braucht keine Globuli”, der Familienseite des Informationsnetzwerks Homöopathie, gibt es einen sehr schönen Überblicksartikel zur Akupunktur in zwei Teilen – Link.


Bildnachweis: Pixabay License


Nachtrag, Mai 2022

Nicht nur aus Gründen der Fairness, sondern in ausdrücklicher Anerkennung einer glänzenden Rehabilitation von „Quarks“ ist ein empfehlender Hinweis auf den Podcast der „Science Cops“ vom 22. Mai 2022 zum Thema Akupunktur hier sehr angebracht:
https://www.quarks.de/podcast/science-cops-die-akte-akupunktur-nichts-als-nutzlose-nadeln/