
Man kann in Deutschland vollkommen integer leben – und dennoch mit Inkassounternehmen zu tun bekommen. Es genügt ein einziger Irrtum, eine fehlerhafte Zuordnung, ein automatisierter Mahnprozess. Wer glaubt, nur notorische Nichtzahler und Eingehungsbetrüger würden jemals Post von einem Inkassodienst erhalten, lebt in einer heilen Welt, die es so nicht mehr gibt.
Die Realität ist eine andere: In zahllosen Fällen werden Forderungen geltend gemacht, die weder hinreichend dokumentiert noch überprüfbar sind. Menschen werden unter Druck gesetzt mit Summen, die in keinem Verhältnis zum Ursprungsvorgang stehen. Mit Methoden, die oft nicht einmal versuchen zu verbergen, dass sie auf Einschüchterung und Druck abzielen. Es ist wohl nicht zu viel, zu sagen, dass sich das Image der Branche geradezu hierauf ausgerichtet hat.
Dabei ist das juristische Instrumentarium eindeutig: Die Zivilprozessordnung (ZPO) kennt ein klares Verfahren zur Durchsetzung von Forderungen. Aber: Die ZPO schützt auch den Schuldner – durch Formalien, durch schnell erreichbare gerichtliche Prüfung, durch Beweislasten. All das entfällt zunächst, wenn Gläubiger ihre Forderungen an Inkassodienstleister abtreten. Obwohl sie letztendlich auch auf daas gesetzliche Mahn- und Beitreibungsverfahren angewiesen sind. Und genau darin liegt das Problem:
Die Legitimität des Vorgehens verschleiert die systemische Asymmetrie. Zwischen die Ursprungsforderung und das gesetzliche Verfahren wird ein Schritt eingeschoben. Warum wohl? Teils, weil die Inkassounternehmen sehr wohl wissen, dass viele der von ihnen übernommenen bzw. aufgekauften Forderungen nach der ZPO nicht realisierbar sein werden. Und das führt zum anderen Teil der Gründe: Man versucht es mit Druck. Um es zurückhaltend auszudrücken.
Der Wandel im Inkassowesen: Vom Gläubiger zum Verwerter
Die ursprüngliche Vorstellung der Rechtsordnung vom Gläubiger, der seine konkrete Forderung realisieren möchte, wurde in weiten Teilen ersetzt durch die Figur des Forderungserwerbers. Heute kaufen Inkassounternehmen – oder ihnen vor- oder nachgeschaltete Dienstleister – ganze Bündel von Forderungen auf, meist zu einem Bruchteil ihres Nennwerts.
Ab diesem Moment tritt ein vollkommen anderer Verwertungsdruck ein: Die Käufer solcher Pakete müssen möglichst viele der enthaltenen Forderungen durchsetzen – koste es, was es wolle. Jeder Ausfall zählt, jedes Nachgeben gefährdet die Rendite.
Es geht nicht mehr um einzelne Schuldverhältnisse, sondern um ein Geschäftsmodell.
Und dieses Modell funktioniert nur, wenn die Erfolgsquote hoch genug ist – also möglichst viele Empfänger bezahlen, auch wenn sie keine Schuld trifft oder Zweifel bestehen. Ein ungleiches Spiel: Hier der algorithmisierte Massendruck, dort der Einzelne, der glaubt, sich wehren zu müssen – aber oft nicht kann.
Der Satz „Zahl oder es knallt“ – sinngemäß so formuliert in vielen Erfahrungen – ist längst kein polemisches Bild mehr, sondern Alltagspraxis.
Die systemische Schieflage: Wenn das BGB seine Schutzwirkung verliert
Das bürgerliche Schuldrecht basiert auf der Idee des zweiseitigen, gleichberechtigten Rechtsgeschäfts.
Aber genau diese Augenhöhe wird systematisch aufgebrochen, wenn Forderungspakete an Dritte veräußert werden, die nicht mehr am ursprünglichen Rechtsverhältnis interessiert sind – sondern nur an der Verwertbarkeit ihrer erworbenen – vermeintlichen oder realen – Forderungen.
Die Subjektivität des Gläubigers, die Umstände des konkreten Rechtsgeschäfts treten zurück hinter eine anonyme Maschinerie, deren Beziehung zum Schuldner rein funktional ist: Du schuldest – wir holen.
Gerade bei Verbraucherforderungen führt das zu einer dramatischen Schieflage.
Denn anders als im professionellen Geschäftsverkehr sind Verbraucher oft nicht in der Lage, Forderungen zu überprüfen, juristisch einzuordnen oder sich effektiv zu wehren.
Das Bild vom mündigen Bürger zerbricht an dieser Realität – und mit ihm ein zentrales Versprechen des Rechtsstaats.
Das perfide Wechselspiel von Angst und Schweigen
Inkassounternehmen leben nicht nur von Zahlungen, sondern von der stillen Macht, die ihnen zugesprochen wird. Sie sind angstbesetzt. Ihr Name allein ruft Assoziationen von Scham, Bedrohung, Abstieg hervor – unabhängig von der Faktenlage.
Ein Großteil ihrer Forderungen wird nicht bezahlt, weil sie berechtigt oder zumindest eindeutig nachgewiesen sind – sondern weil man sie loswerden will. Genau das will das gerichtliche Mahnverfahren nach der ZPO vermeiden und sieht deshalb eine denkbar einfache Einspruchsmöglichkeit gegen einen Mahnbescheid (früher: Zahlungsbefehl) vor.
Und hier beginnt die eigentliche Entrechtung: Wer zahlt, obwohl keine Schuldverpflichtung besteht oder eine solche zweifelhaft ist, tut dies nicht freiwillig – sondern unter Druck. Wer schweigt, weil er sich nicht auskennt, verliert nicht nur Geld – sondern Vertrauen in das System.
Zur Ehrenrettung des Forderungshandels?
Man wird einwenden können – und nicht zu Unrecht –, dass der Handel mit Forderungen im unternehmerischen Geschäftsverkehr keineswegs unangemessen oder gar anrüchig ist.
Das stimmt. Beim Forderungskauf unter Profis – etwa zwischen Banken, Energieversorgern oder Industrieunternehmen – geht es nüchtern, oft sogar fair zu.
Mein Sohn hat vor einigen Jahren bei seiner Bank einige Monate lang in diesem Bereich hospitiert. Sein Fazit: ein kühles, kalkulierendes Geschäft, meist geprägt von sachlicher Kommunikation. Wo Risiken bestehen, wird ein Vergleich angeboten – Rabatt gegen Abschluss. Und niemand fühlt sich unter Druck gesetzt.
Doch genau darin liegt die entscheidende Differenz: Dieses Modell wird inzwischen auf Forderungen aus privaten Rechtsgeschäften angewandt, teils auf Klein- und Kleinstforderungen, die mittels Gebührenberechnungen und Säumniszuschlägen oft auf ein Mehrfaches aufgebläht werden – das gegenüber Menschen, Privatpersonen, die nicht verhandeln können, die sich schämen, die eingeschüchtert sind. Hier schlägt die Asymmetrie der Mittel voll durch. Aus nüchterner Kalkulation wird psychologisches Drohpotenzial. Die Grenze zwischen Wirtschaftlichkeit und Einschüchterung verschwimmt – und das nicht am Rande, sondern im Zentrum des Geschäftsmodells.
Was im Unternehmensumfeld eine nüchterne Verhandlungsposition ist, wird im Konsumentenbereich schnell zum strategischen Einschüchterungsversuch. Genau deshalb stößt die Inkassopraxis dort auf so viel Ablehnung – und genau deshalb ist sie rechtspolitisch hoch problematisch. Denn: Die grundsätzliche Akzeptanz von Recht ist Voraussetzung der Wirksamkeit jeglicher staatlicher Rechtsordnung (Prof. Dr. Hermenn Hill, Speyer, JuristenZeitung, 43. Jahrg., Nr. 8, pp. 377-381).
Dass das politisch folgenlos bleibt, ist schwer zu begreifen.
Was tun? Zeit für eine Richtungskorrektur
Ein erster rechtspolitischer Anfang ist gemacht: Höchstrichterliche Urteile schränken inzwischen die Praxis ein, dass Großunternehmen mit eigener Mahnabteilung zusätzlich Inkassobüros einschalten und dafür hohe Kosten geltend machen. Es ist hier offenkundig: Preistreiberei statt sachlicher Notwendigkeit. Auch die Frage nach der Transparenz von Forderungen – also: Wer genau will hier was von wem und warum? – wird inzwischen ernster genommen.
Aber das genügt nicht.
Was fehlt, ist eine grundlegende Neubewertung des Systems.
Die Politik muss sich fragen, ob das rechtlich legale, aber strukturell asymmetrische Geschäftsmodell der Forderungsverwertung noch mit den Prinzipien eines Schuldrechts vereinbar ist, wie es das bürgerliche Recht für den täglichen Geschäftsverkehr mit Verbrauchern regelt. Viele verbraucherschützende Regelungen sind im Laufe der Jahre in den Schuldrechtsteil des BGB eingeflossen – die genau dann an Bedeutung verlieren, wenn gegenüber Verbrauchern das Inkassowesen die Dinge übernimmt.
Wir müssen uns fragen:
Was sagt es über ein Gemeinwesen, wenn Privatleute im alltäglichen Bereich oft geradezu inquisitorisch mit Forderungen konfrontiert werden – und die andere Seite entgegen allen Beweislastregeln in der Praxis oft nicht einmal das Was, Wann, mit Wem nachweisen muss?