Die Singularität der performativen Sprache verschlingt das Reich des Objektiven und Rationalen (Microsoft Copilot)
Hinweis (Juli 2025): Dieser Artikel wurde im Rückblick noch einmal überarbeitet und sprachlich präzisiert. Einige zu absolute Formulierungen wurden entschärft, um den kritischen Gehalt des Textes besser mit der komplexen Denkfigur Judith Butlers in Einklang zu bringen. Die grundsätzliche Kritik bleibt bestehen – aber sie soll nun klarer zwischen theoretischer Analyse und politischer Rezeption unterscheiden. Einzelne Formulierungen zur „ontologischen Setzung“ wurden abgeschwächt oder präzisiert, da sich Butlers Ansatz eher als sprach- und gesellschaftstheoretische Modellbildung denn als systematische Ontologie begreifen lässt. Die überarbeitete Fassung berücksichtigt diese Differenzierungen.

Die neue Macht der Sprache

Judith Butler radikalisiert den sprachzentrierten Ansatz der Postmoderne, indem sie Sprache nicht mehr nur als Medium der Welterschließung versteht, sondern als konstitutive Kraft sozialer Wirklichkeit. In ihren Schriften wird Realität nicht vorausgesetzt, sondern erscheint als Effekt diskursiver Praktiken – vor allem jener Performanzen, die sich in Wiederholungen sozialer Normen verfestigen. Was daraus entsteht, ist keine Ontologie im klassischen Sinne, sondern ein Modell von Realität, das die Vorstellung stabiler Identitäten und körperlicher Gegebenheiten zugunsten einer situativ erzeugten und sprachlich codierten Wirklichkeit auflöst.

Butlers Theorie der Performativität will nicht bloß beschreiben, wie Geschlechtsidentitäten gesellschaftlich entstehen, sondern zugleich die epistemologischen und politischen Voraussetzungen dieser Prozesse offenlegen. In diesem Sinne ist ihre Theorie sowohl erkenntniskritisch als auch emanzipatorisch motiviert. Doch je stärker die performative Konstitution von Wirklichkeit als alleinige Erklärung beansprucht wird, desto näher rückt sie an das, was sie selbst nicht sein will: eine neue Ontologie – allerdings ohne deren klassisch-philosophische Fundierung. Hier liegt ein innerer Widerspruch, der die politische Wirkungskraft ihrer Theorie in eine dogmatische Richtung verschieben kann.

Denn wer Performativität als alleinigen Schlüssel zur Wirklichkeit versteht, setzt faktisch doch wieder eine neue Wirklichkeitsstruktur – nur dass diese nicht mehr naturhaft oder metaphysisch begründet ist, sondern diskursiv erzeugt und sprachlich kontrolliert. Die Folge ist ein Denken, das sich jeder übergeordneten Normativität entzieht, zugleich aber eine neue, schwer kritisierbare Praxisnorm etabliert: Wer sich dieser Logik widersetzt, gilt als Teil eines repressiven Diskurses und wird moralisch delegitimiert.

Gerade darin liegt das Risiko: Aus einer dekonstruktiven Theorie wird eine neue Form epistemischer Orthodoxie. Die einst kritische Haltung gegenüber normativen Zuschreibungen kippt um in eine neue normative Erwartung, die nicht mehr diskutiert, sondern sanktioniert. Damit wird aus einem emanzipatorischen Ansatz eine epistemologisch instabile Ideologie – eine „Ontologie aller Ontologien“, nicht im philosophischen, sondern im politischen Sinne.

Diese Entwicklung zu reflektieren und zu kritisieren heißt nicht, die berechtigten Anliegen der Queer-Theorie oder die analytische Schärfe Butlers zurückzuweisen. Es heißt, zwischen erkenntnistheoretischem Zweifel und dogmatischem Absolutheitsanspruch zu unterscheiden – und zu verhindern, dass eine Theorie, die das Feste in Frage stellen wollte, selbst zum neuen Dogma wird.

„Performativität“ – kurz erklärt:

Wenn etwas performativ ist, bedeutet das: Es passiert nicht nur etwas im Sprechen, sondern durch das Sprechen. Sprache ist dann nicht bloß Beschreibung, sondern Handlung.
Ein berühmtes Beispiel: Wenn jemand sagt „Ich erkläre euch zu Mann und Frau“, dann geschieht durch diesen Satz etwas Reales – es ist eine Handlung in sprachlicher Form.
Judith Butler hat dieses Prinzip auf Geschlecht und Identität übertragen: Auch sie entstehen (mit), weil sie immer wieder sprachlich und sozial „vollzogen“ werden.

Butlers Sprachtheorie: Bedingung der Realität

Judith Butler treibt den sprachzentrierten Ansatz der Postmoderne dabei auf die Spitze – nicht, indem sie eine neue Ontologie entwirft, sondern indem sie die Geltung des Realen selbst an sprachlich vermittelte Praktiken koppelt. Was als kritische Analyse sozialer Zuschreibungen beginnt, wird zur These, dass Identität überhaupt erst durch sprachlich wiederholte Performanz entsteht. Der Körper ist dann nicht mehr vorausgesetzter Träger von Geschlecht, sondern Resultat diskursiver Codierungen. Sprache wird so nicht bloß Medium der Bedeutungszuschreibung, sondern Bedingung der Sichtbarkeit, der Anerkennung und letztlich der Realität selbst. Ohne dies je ontologisch durchzubuchstabieren, entsteht ein Denken, das das Soziale zur einzigen Bühne des Wirklichen macht – und auf dieser Bühne wird Identität nicht entdeckt, sondern inszeniert.

Doch Sprache ist kein geschlossener Erkenntnisraum. Sie ist Werkzeug, nicht Welt. Eine Voraussetzung des Realen, die sich aus Sprache allein ableitet, bleibt zwangsläufig zirkulär – und läuft Gefahr, jede außersprachliche Wirklichkeit zu negieren oder unter Generalverdacht zu stellen. Das aber ist nicht fortschrittlich, sondern erkenntnistheoretisch regressiv: Ein Rückfall in eine Weltdeutung, in der am Ende nicht mehr zählt, was ist – sondern nur noch, was sagbar erscheint.

Hier fällt die postmoderne Kritik in einen Regress:

Was ursprünglich als Befreiung von hegemonialen Wahrheiten gedacht war,
führt zur Ersetzung des Wahrheitsbegriffs durch diskursive Geltung. Wohlgemerkt: Die Relevanz von Wahrheit wird nicht widerlegt, sondern ersetzt – durch Deutungshegemonie, durch Betroffenheit, durch Sprechpositionen.
Und genau das ist eine neue Machtordnung, nur nicht mehr epistemisch, sondern sozial kodiert.

Was nicht sagbar ist, gilt nicht.
Was nicht performativ anerkannt wird, existiert nicht
.

Das ist nicht Dekonstruktion von Macht – das ist Reproduktion von Macht durch Diskursbarrieren.

Dies markiert den erkenntnistheoretischen Nullpunkt der Postmoderne, an dem Wahrheit durch Diskurs ersetzt und Diskurs durch Macht strukturiert wird – oft unter dem Vorwand, genau das zu verhindern.

Die postmoderne Kritik wollte Wahrheit entmachten – und hat dabei vergessen, dass auch das Sagbare eine Herrschaft kennt.-

Zur Redlichkeit im philosophischen Sinne

Daraus ergibt sich eine sehr berechtigte Frage, die sich bei der Lektüre von Butlers Werk – insbesondere Gender Trouble und Bodies That Matter – vielen früher oder später aufdrängt. Man könnte sie so formulieren:

Ist Judith Butler eine radikale Denkerin mit hoher Konsequenz – oder eine brillante Konstrukteurin intellektueller Nebelmaschinen, die eine ideologisch anschlussfähige Lehre geschaffen hat, deren Popularität auf performativer Unangreifbarkeit beruht?

Philosophisch redlich ist, wer seine Prämissen offenlegt, seine Begriffe klärt, Gegenpositionen ernsthaft reflektiert und zu zeigen versucht, wie und warum er zu einer bestimmten These gelangt ist. Genau das wird Butler häufig abgesprochen – und das nicht nur von „kritischen Konservativen“, sondern auch von namhaften Philosophen wie:

  • Martha Nussbaum, die Butler in The Professor of Parody (1999) vorwirft, Sprache zur Ausübung intellektueller Macht zu missbrauchen, statt zu klären.
  • John Searle, der Butlers Sprachverwendung als „bewusst obskur“ kritisiert und sie beschuldigt, Wittgenstein und Austin zu verfälschen.
  • Noam Chomsky, der – sinngemäß – sagt, dass es sich bei solchen Texten um „Hochstapelei mit französischer Lizenz“ handele.

Diese Kritiker sprechen Butler nicht ab, dass sie etwas denkt – wohl aber, wie sie es darstellt, nämlich als ein absichtsvoll undurchsichtiges Konstrukt, das sich dem rationalen Diskurs systematisch entzieht.

Performativität: Sprechen als Wirklichkeitsvollzug

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Butlers zentraler Begriff – Performativität – selbst performativ wirkt: Ihre Texte sind oft derart formuliert, dass der Eindruck entsteht, sie vollziehen bereits jene Komplexität, die sie behaupten. Das wirkt intellektuell souverän, ist aber schwer überprüfbar – und genau das schützt vor Kritik. Was man nicht nachvollziehen kann, kann man schwerlich falsifizieren.

Diese Undurchdringlichkeit ist Teil des Phänomens Butler. Viele Anhänger nehmen ihre Texte nicht als nachvollziehbare Theorie, sondern als intellektuelle Stimulanz – sie wirken, statt erklärt zu werden. Die Folge: Es entsteht eine Art Deutungselite, eine hermeneutische Priesterschaft, die den Text auslegt. So entstehen religiöse Bewegungen.

Manipulation oder Ausdruck intellektueller Konsequenz?

Hier scheiden sich die Geister. Es wäre voreilig, Butler absichtsvoll manipulative Absichten zu unterstellen. Vielmehr lässt sich ihr Zugang als konsequente Fortführung eines erkenntnistheoretischen Strangs verstehen, der tief in der französischen Postmoderne wurzelt. Aber sie verzichtet – und das kann man ihr vorwerfen – weitgehend auf metatheoretische Reflexion, auf die Auseinandersetzung mit den methodischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ihrer eigenen Theorie. Auch kühne und konsequente Theorien bedürfen einer selbstkritischen metatheoretischen Prüfung, die Butler nicht leistet. Das ist unredlich im wissenschaftlichen Sinne – auch wenn es wohl aus einem radikalen Anspruch an Kritik als Dekonstruktion motiviert ist.

Butler als Autorin eines Dogmas mit Charisma

Butler ist zu einer Art Wahrheitsinstanz geworden – nicht durch Verständlichkeit, sondern durch die Verbindung von:

  • moralischem Anspruch,
  • sprachlicher Abstraktion,
  • institutioneller Rückendeckung.

Man könnte sagen: Sie hat nicht die Wahrheit geschrieben, aber den Mythos eines neuen Wahrheitsbegriffs geschaffen – und das mit erheblichem charismatischem Kapital. Das wiederum wirft die Frage auf, ob und wie in der Wissenschaft charismatische Autorität wirken darf – ein Thema, das wieder an Foucaults Machttheorie anschließt.


Fazit

Judith Butler bleibt eine faszinierende Figur – weniger wegen der theoretischen Tiefe ihrer Werke als wegen der Wirkungsmacht, die sie durch eine Mischung aus sprachlicher Undurchdringlichkeit, moralischem Anspruch und philosophischer Anschlussfähigkeit entfaltet hat. Ob sie intellektuell redlich ist, darüber kann man streiten. Was aber sicher ist: Sie hat die Grenzen zwischen Erkenntnis und Deutung, zwischen Philosophie und Performanz, zwischen Wissenschaft und Weltanschauung bewusst verwischt – und genau darin liegt ihr Einfluss. Man kann Butlers Performativität eine „dekonstruierende Hermeneutik“ nennen, wenn man betonen will, dass Sinn in ihr nie stabil, sondern immer unter Verdacht steht.

Anders als Hans-Georg Gadamers Hermeneutik, die sich ausdrücklich auf die Geisteswissenschaften beschränkt und dort Verstehen und Verständigung als Ziel verfolgt, kennt Butlers sprachzentrierte Ontologie der Performativität keine solche Selbstbegrenzung.

Zwar reklamiert sie nicht explizit Geltung im naturwissenschaftlichen Bereich, schließt diesen aber – etwa in der Gendertheorie – auch nicht aus. Mehr noch: Sie entzieht sich der Verantwortung, dort, wo ihre Theorie als Deutungsmacht in Realwissenschaften eingreift, Korrekturen oder Differenzierungen einzufordern. Gadamers Hermeneutik bleibt trotz ihres anti-naturwissenschaftlichen Gestus epistemisch bescheiden, während Butlers sprachzentrierte Performativität sich implizit zur universalen Weltdeutungsform aufschwingt – ohne Begrenzung, ohne Selbstrelativierung. Das ist kein Zufall, sondern ein offenes Fluchttor für jegliche Art von identitärer Weltumdeutung, bis hinein in medizinische, biologische, physikalische Diskurse – dort, wo es eben nicht um Deutung, sondern um Struktur und Replizierbarkeit geht.

Judith Butler bleibt einflussreich – weniger durch die Klarheit ihrer Theorie als durch ihre Wirkungsmacht. Diese gründet nicht auf Verständlichkeit, sondern auf einer Mischung aus moralischem Anspruch, sprachlicher Abstraktion und institutioneller Resonanz. Ihr Werk verwischt bewusst die Grenzen zwischen Erkenntnis und Deutung, zwischen Philosophie und Performanz. Genau darin liegt seine Kraft – und seine Problematik.


Kleiner Hinweis in eigener Sache:

Ich habe diesen Text mit großem Respekt, aber auch mit kritischer Distanz geschrieben. Judith Butlers Werk hat ohne Zweifel eine immense Wirkung entfaltet – nicht nur in der akademischen Welt, sondern weit darüber hinaus. Gerade deshalb war es mir wichtig, nicht vorschnell zu urteilen, sondern ihre Überlegungen ernsthaft zu rekonstruieren und die eigentümliche Rezeptionsgeschichte in den Blick zu nehmen.

Meine kritischen Anmerkungen richten sich daher nicht auf eine Person oder ein Lebenswerk, sondern auf bestimmte theoretische Zuspitzungen und auf die Folgen, die sich aus ihrer Deutung und Weiterverwendung ergeben haben. Wer pauschale Ablehnung oder persönliche Abrechnung erwartet, wird in diesem Text nicht fündig.