
Von der Theorie zur Identität: Wie postmoderner Relativismus die Grundlage für aktivistische Absolutismen legte
Die späten Ausläufer des erkenntnistheoretischen Relativismus, wie er von Foucault, Lyotard und Derrida geprägt wurde, leben in gegenwärtigen identitätspolitischen Bewegungen weiter – oft ohne, dass deren Protagonisten sich dieser Abstammungslinie bewusst wären. Besonders Judith Butler hat mit ihrer radikal konstruktivistischen Theorie von Geschlecht und Identität – als reiner gesellschaftlicher Zuschreibung – einen Brückenschlag vollzogen: von der postmodernen Erkenntnisskepsis zu einem aktivistischen Weltbild, das objektive Beschreibungen der Realität systematisch durch moralisch-politische Deutungsmacht ersetzt.
Dieser Übergang ist von entscheidender Bedeutung: Was einst als kritische Reflexion gegenüber epistemischen Machtverhältnissen gedacht war, wird nun zu einem neuen Dogma – mit umgekehrten Vorzeichen. Der Zweifel an „Wahrheit“ ist nicht verschwunden, aber er richtet sich nicht mehr auf die eigenen Prämissen, sondern allein auf vermeintlich hegemoniale Positionen: Wissenschaft, Biologie, Rationalität. Sie gelten nicht mehr als Mittel zur Erkenntnis, sondern als Instrumente der Normierung.
Was sich als moralischer Fortschritt inszeniert, folgt in Wahrheit einem strukturell anti-aufklärerischen Impuls. Der Bezug zur Welt – überprüfbar, intersubjektiv, empirisch – wird ersetzt durch den Bezug zur Betroffenheit, zur Deutungshoheit der Identität, zur diskursiven Macht. Wahrheit wird durch Position ersetzt. Und in dieser Verwechslung liegt die eigentliche Problematik.
Wer also postmodernen Relativismus und gegenwärtige identitätspolitische Bewegungen in Zusammenhang bringt, muss keine Verschwörung konstruieren – es genügt, die ideengeschichtliche Linie nachzuzeichnen. Dass man dabei auf heftigen Widerstand stößt, liegt nicht an der Unangemessenheit des Arguments, sondern an der epistemologischen Unhinterfragbarkeit, die in Teilen dieser Bewegung zur Norm geworden ist.
„Woke“ als moralischer Absolutismus mit relativistischer Legitimation
Oder: Wie aus der Leugnung objektiver Wahrheit die moralische Unwiderlegbarkeit wird
Was zunächst wie ein Gegensatz erscheint – erkenntnistheoretischer Relativismus auf der einen, moralisch identitätspolitische Absolutismen auf der anderen Seite –, ist in Wahrheit eine ideengeschichtliche Folgeerscheinung. Denn gerade der Verlust an epistemischer Orientierung, wie er durch Foucault, Lyotard, Derrida und Butler befördert wurde, hat ein Vakuum hinterlassen, das nun nicht etwa durch neue Aufklärung, sondern durch moralische Unbedingtheiten gefüllt wird.
Die Postmoderne hat das Vertrauen in objektive Erkenntnis und überindividuelle Wahrheit untergraben – und damit jenen Möglichkeitsraum geöffnet, in dem heute moralische Narrative den Platz rationaler Urteilsbildung einnehmen. Wenn alles Wissen nur noch Perspektive ist, dann entscheidet nicht mehr die Stärke des Arguments, sondern die Identität des Sprechenden. Der Maßstab wechselt: von der Nachvollziehbarkeit zur Betroffenheit, vom Beweis zur Deutungshoheit.
„Woke“ im engeren Sinn meint heute oft nicht mehr bloß ein waches Bewusstsein für Ungerechtigkeiten – sondern die moralische Lizenz, Wahrheitsansprüche durch Gesinnung zu ersetzen. Wer widerspricht, steht nicht mehr auf der anderen Seite des Arguments, sondern auf der falschen Seite der Geschichte, womöglich macht er sich auch gleich gemein mit den „falschen Leuten“. Der Relativismus, der einst mit dem Ziel antrat, hegemoniale Wahrheiten zu entlarven, hat in seinen späten Ausformungen Platz gemacht für eine neue Hegemonie: jene der moralisch immunisierten Positionen. Was nicht angezweifelt werden darf, muss nicht mehr begründet werden.
Insofern ist die gegenwärtige „Woke“-Bewegung nicht das Gegenteil des Relativismus – sondern seine ideologische Erbin. Sie führt ihn fort, indem sie das Kriterium der Wahrheit durch das der moralischen Zugehörigkeit ersetzt. So wird aus dem Anything goes der postmodernen Epistemologie ein Only this goes der identitätspolitischen Orthodoxie. Der Weg von Foucault zu X (vormals Twitter) war kürzer als gedacht.
Man könnte die Beziehung zwischen Erkenntnisrelativismus und moralischem Rigorismus fast als symbiotisch bezeichnen: Der Relativismus delegitimiert objektive Maßstäbe, zersetzt die Idee von allgemeingültiger Wahrheit – und schafft damit eine epistemische Leerstelle. In genau dieses Vakuum tritt der moralische Absolutismus, wie er sich in vielen Ausprägungen identitätspolitischer oder aktivistischer Bewegungen zeigt: Die Unsicherheit über Wahrheit wird ersetzt durch Sicherheit im Urteil.
Doch das Verhältnis geht noch weiter: Der neue Moralismus schützt den Relativismus zugleich. Denn wer die Relativität von Wahrheit in Frage stellt, gilt schnell als Feind der Gerechtigkeit, als Reaktionär oder als Verfechter einer „veralteten“ Objektivität. So entsteht ein selbststabilisierender Kreislauf: Der erkenntnistheoretische Relativismus öffnet die Tür für moralisch-politische Absolutheiten – und diese wiederum verhindern, dass die erkenntnistheoretische Grundannahme je kritisch überprüft wird.
Die epistemische Unsicherheit wird durch moralische Unangreifbarkeit kompensiert – und beide bedingen sich wechselseitig. Das ist die paradoxe „Win-Win-Situation“ dieser ideologischen Allianz.
Zum Skeptizismus – Eine Positionsbestimmung
Skeptizismus beginnt nicht mit dem Zweifel an fremden Positionen, sondern mit der Bereitschaft, auch die eigenen Grundüberzeugungen der Prüfung zu unterziehen. Er ist, wenn man so will, eine Haltung methodischer Demut – und als solche hat er keine Freunde. Denn diese Demut macht misstrauisch gegenüber ideologischen Gewissheiten, auch und gerade gegenüber jenen, die sich als moralisch überlegen inszenieren.
In den letzten Jahren hat sich in vielen gesellschaftlichen Debatten ein seltsames Phänomen verfestigt: Bestimmte Themenfelder gelten nicht mehr als kritisierbar, weil sie als Ausdruck von Emanzipation, sozialem Fortschritt oder identitätspolitischer Gerechtigkeit verstanden werden. Kritik an diesen Diskursen – sei sie noch so sachlich, rational oder empirisch fundiert – wird schnell moralisch abgewertet: als „rechts“, als „reaktionär“, als „wissenschaftsdogmatisch“. Die Folge: Die Rationalität wird selektiv – und verliert damit ihren Status als universelles Prüfverfahren.
Wenn man sich jedoch auf den Weg gemacht hat, erkenntnistheoretischen Relativismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu analysieren, dann kommt man an diesem Punkt nicht vorbei. Denn der gegenwärtige Verlust an epistemischer Orientierung in der Gesellschaft wird nicht allein durch klassische Autoritätskritik oder durch technologisch beschleunigte Informationsfluten verursacht – sondern auch durch einen Kulturwandel, der die Kriterien von Wahrheit, Begründung und Erkenntnis an identitäre Zugehörigkeiten koppelt.
Dass sich dieser Kulturwandel in Teilen der akademischen Welt vollzieht, wäre für sich genommen noch kein Grund zur Sorge, wenn auch bedenklich – doch seine diffuse Ausstrahlung in Bildungswesen, Politik, Journalismus und Aktivismus hat Folgen, denen sich ein humanistisch geerdeter Skeptizismus nicht entziehen darf.
Die Philosophen dieser Serie – von Foucault über Lyotard bis Derrida – haben mit ihren Arbeiten zum Teil historische Einsichten geliefert, die man nicht vom Tisch wischen darf. Ihre Kritik an Machtstrukturen, an erkenntnisleitenden Interessen, an hegemonialen Diskursen war wichtig. Aber ihr Einfluss hat – vor allem durch populärphilosophische Vereinfachung – auch eine normative Verwahrlosung nach sich gezogen: Wenn jede Wahrheit nur noch eine Perspektive, jede Wissenschaft ein Machtspiel, jede Kritik ein Akt kultureller Gewalt und jede Erkenntnis bloß ein Ausdruck kultureller Hegemonie ist, dann zerfällt der Begriff der Vernunft selbst.
Und genau das ist der Punkt, an dem sich heutige Skeptiker, Humanisten und Aufklärer entscheiden müssen: Will man selbst in den Strom identitätspolitischer und relativistischer Erzählungen einsickern – oder steht man für etwas, das sich gerade durch seine Parteilichkeit für die Unparteilichkeit auszeichnet?
Die Frage, wie wir Wahrheit, Wissen und Wissenschaft denken, ist nicht neutral, aber sie muss unabhängig bleiben von parteilicher Vereinnahmung. Deshalb endet eine erkenntnistheoretische Serie wie diese nicht im Abstrakten – sondern landet notwendigerweise im Realen: Dort, wo Begriffe wie „Wissenschaft“, „Fakt“, „Begründung“ nicht nur Gegenstand akademischer Diskussionen sind, sondern Kampfvokabular in einer zerrissenen Gegenwart.
In diesem Sinne ist die Kritik an Relativismus nicht rückwärtsgewandt – sie ist ein Plädoyer für ein Erkenntnisethos, das nicht mit dem moralischen Strom schwimmt, sondern die Tiefe des Flusses auslotet. Und dabei darf die Vernunft sich nicht unter das Diktat von Moralismen, Moden oder Milieus beugen. Sie ist kein Machtinstrument – sie ist der einzige Kompass, den wir haben, wenn wir den Weg aus der Beliebigkeit suchen.
Noch ein Wort zur Verortung
Kritik am erkenntnistheoretischen Relativismus ist in den letzten Jahren zunehmend unter Generalverdacht geraten – als wäre jeder, der Objektivität verteidigt, bereits ein Apologet starrer Wahrheitsregime. Doch es ist möglich – und aus meiner Sicht notwendig –, zwischen einem dogmatischen Wahrheitsanspruch und dem völligen Verlust epistemischer Maßstäbe klar zu unterscheiden.
Ich vertrete keine Rückkehr zu metaphysischen Gewissheiten, wohl aber das Recht, zwischen besser und schlechter begründeten Aussagen unterscheiden zu dürfen – und die Verpflichtung, diese Unterscheidung nicht dem Gefühl, sondern der Prüfung zu überlassen.
Wer in dieser Haltung eine ideologische Nähe zu autoritärem Denken irgendwelcher Richtungen erkennen will, verwechselt Kritik an Beliebigkeit mit Bekenntnis zu Starrheit.
Die Texte dieser Reihe entstehen aus dem Bemühen, begründbar und nachvollziehbar zu denken – und aus dem Vertrauen darauf, dass Aufklärung auch ohne Lautstärke wirken kann.