Ein skeptischer Zwischenruf zur politischen Praxis einer einflussreichen Denkerin

Mich erreichten die Ausläufer einer interessanten Diskussion, bei denen die entscheidende Frage letztlich offenblieb. Judith Butler war Thema, und nicht wie so oft wegen ihrer Sprachphilosophie oder ihrer performativen Ontologie, sondern wegen ihrer öffentlichen Haltung zu Israel und zur Hamas. Verwunderung machte sich breit: Wie kann eine jüdische Intellektuelle die Hamas als „Teil der globalen Linken“ bezeichnen? – Wie verträgt sich das mit ihrer theoretischen Brillanz? Und: Hat das irgendetwas mit ihrer Philosophie zu tun – oder ist es nur politische Verirrung?
Meine Einschätzung war und ist: Man sollte das nicht überphilosophisch lesen. Was sich bei Butler in Bezug auf Israel und den Nahostkonflikt zeigt, ist keine zwingende Folge ihrer Theorie der Performativität, sondern vielmehr Ausdruck eines tief verinnerlichten, fast habituellen Oppositionsgestus – eines reflexhaften Sich-Stellens gegen Macht, Ordnung, Staatlichkeit, Hegemonie. Ein Muster, das vielen intellektuellen Traditionslinien der Linken vertraut ist – aber bei Butler eine eigentümliche Stringenz entfaltet.
Denn wer gewissermaßen „von Beruf Opposition“ ist, läuft Gefahr, jede Ordnung als Problem und jede Gegenmacht als Hoffnung zu begreifen – selbst dann, wenn diese Hoffnung autoritär, frauenverachtend oder gewalttätig ist. Die Kritik wird zum Reflex, nicht zur Analyse. Und genau darin liegt der blinde Fleck einer Haltung, die sich als radikal emanzipatorisch versteht, aber in bestimmten Situationen aufhört, moralisch zu differenzieren.
Diese Haltung ist nicht exklusiv bei Butler zu finden. Aber sie zeigt sich bei ihr mit besonderer Klarheit – nicht zuletzt, weil sie als Philosophin eine immense kulturelle Autorität beansprucht und zugleich als politische Akteurin auftritt, die nicht nur denkt, sondern Partei ergreift. Das ist legitim – aber es darf kritisiert werden. Und zwar mit dem skeptischen Instrumentarium, das nicht fragt: Wer sagt das?, sondern: Was folgt daraus?
Opposition als Identität – Warum Butler nicht „aus Versehen“ so spricht
Judith Butler gehört zu jenen Intellektuellen, deren öffentliche Wirkung sich nicht auf ihre theoretischen Schriften beschränkt. Sie agiert auch als politische Figur – als Unterzeichnerin von Petitionen, als Rednerin auf Kundgebungen, als moralische Stimme im globalen Diskurs über Macht, Unterdrückung und Gerechtigkeit. Dabei verfolgt sie eine Haltung, die sich nicht allein aus analytischer Reflexion speist, sondern aus einem tiefer liegenden Selbstverständnis: dem der permanenten Opposition.
Wer Butlers Schriften – besonders ihre späteren – liest, erkennt rasch ein wiederkehrendes Muster: die grundlegende Skepsis gegenüber jeder Form institutionalisierter Macht. Staaten, Armeen, Grenzen, Identitäten, ja sogar das Selbst – alles erscheint als potenziell gewaltvolle Setzung, als Ausschlussmechanismus, als normatives Gewaltverhältnis. In diesem Denkhorizont gilt: Was stabil ist, muss kritisch befragt werden. Und: Was Widerstand leistet, verdient zumindest Sympathie.
Diese Haltung mag aus guten Gründen entstanden sein – historisch, biografisch, philosophisch. Doch sie wird bei Butler mitunter so prinzipial, dass sie sich von konkreter Beurteilung ablöst. Es zählt dann nicht mehr, wer unterdrückt wird, wie Widerstand geleistet wird oder welche Mittel gewählt werden – sondern nur noch, dass es sich um Widerstand handelt. In dieser Logik kann sogar eine Organisation wie die Hamas als legitimer Ausdruck des „globalen Südens“ erscheinen – trotz ihrer antisemitischen Charta, trotz ihrer Gewalt gegen Frauen, Queers und Andersdenkende.
Butlers Verteidigung dieser Positionen wirkt dabei nicht irrational – sondern im Gegenteil: folgerichtig innerhalb eines moralischen Systems, das Opposition zur obersten Maxime erhebt. Ihr politisches Engagement ist kein Ausrutscher, keine Nebenbemerkung, sondern Ausdruck derselben Grundhaltung, die auch ihre Theorie durchzieht: Alles, was fest ist, muss dekonstruiert werden. Und: Widerstand ist der moralisch überlegene Ort.
Doch genau hier beginnt das Problem – nicht nur philosophisch, sondern auch ethisch. Denn wer immer gegen Macht ist, verteidigt irgendwann auch jene, die selbst nur neue Machtansprüche in Gewalt kleiden. Wer jede Ordnung verdächtigt, idealisiert leicht das Ungeordnete – selbst dann, wenn es sich als Herrschaft im anderen Gewand präsentiert.
Was Kritik verliert, wenn sie zur Pose wird – Eine skeptische Zwischenbilanz
Die skeptische Szene versteht sich traditionell als Gegenentwurf zu dogmatischem Denken. Sie erhebt Zweifel zum Erkenntnisprinzip, kritisiert Denkfehler, mahnt Differenzierung an – und das mit gutem Grund. Doch genau deshalb ist Judith Butler ein so aufschlussreicher Prüfstein. Nicht, weil sie „woke“ ist. Auch nicht, weil sie feministische oder poststrukturalistische Positionen vertritt. Sondern weil sie exemplarisch zeigt, was mit Kritik geschieht, wenn sie zur Pose gerinnt.
Denn wer immer auf Seiten der Marginalisierten steht, ohne zu fragen, wer marginalisiert, warum, und mit welchen Mitteln Gegenmacht erzeugt wird, der ersetzt Analyse durch Haltung. Kritik wird dann nicht mehr geübt, sondern inszeniert. Sie verliert ihre epistemische Schärfe und wird zum moralischen Reflex – ein Akt der Selbstversicherung im Angesicht komplexer Verhältnisse.
Das ist keine Spezialität der Postmoderne, sondern ein Risiko, das jede kritisch denkende Bewegung betrifft – auch die skeptische. Wer sich einmal festgelegt hat, auf „der richtigen Seite“ zu stehen, ist in Versuchung, die Argumente der Gegenseite nicht mehr zu prüfen, sondern reflexhaft abzulehnen. Und wer nur noch aufzeigt, dass etwas falsch ist, ohne sich zu fragen, warum es geglaubt wird, verpasst die eigentliche Arbeit des Denkens: das Verstehen.
Judith Butler ist kein schlechtes Beispiel, weil sie kritisiert – sondern weil sie nicht mehr aufhört, zu kritisieren, selbst dort, wo die Kritik blind wird. Die skeptische Szene täte gut daran, dies nicht zum Anlass pauschaler Ablehnung zu nehmen, sondern zur Selbstbefragung: Wo schlägt auch unsere Kritik in Attitüde um? Wo verlieren wir die Differenzierung, die wir anderen abverlangen?
Wenn Skeptiker Butler lesen – oder über sie reden –, sollten sie nicht zuerst fragen: Wie kann sie das sagen? Sondern: Was passiert mit einem Denken, das sich selbst nicht mehr skeptisch gegenübertritt? Die Antwort könnte unbequem sein. Aber sie wäre in Butlers Sinne: performativ, selbstreflexiv, transformierend.