Spurtreue ist kein BIldungsideal

Was ist Bildung? Diese alte Frage, millionenfach beantwortet, millionenfach missverstanden, bleibt aktuell. Bildung, so lernt man es schnell, ist viel mehr als schulisches Wissen, mehr als gute Noten, mehr als das Ablegen von Prüfungen. Und doch wird sie im Alltag wie eine Checkliste behandelt, eine Aneinanderreihung von Anforderungen, die man möglichst überraschungsfrei bestehen soll. Bildung wird zum Projekt der Spurtreue.

Aber was, wenn die interessantesten Dinge neben der Spur liegen?

Vor über zwanzig Jahren stand mein Sohn vor einer typischen Wahl in der Mittelstufe: Sollte er sich für eine dritte Fremdsprache entscheiden – oder für das Sammelfach Naturwissenschaften? Seine sprachliche Begabung war offenkundig, er war ein literarisch versierter, analytisch denkender Schüler mit Freude am Schreiben, Lesen, Diskutieren. Die dritte Fremdsprache lag nahe. Doch er entschied sich für Naturwissenschaften. Warum? Weil er dort am meisten lernen konnte. Weil er sich dem stellen wollte, was ihm noch nicht vertraut war.

Eine Haltung, die man in jedem Bildungskanon als exemplarisch herausstellen müsste.

Die Schule aber tat das Gegenteil. Die Entscheidung für Naturwissenschaften war „überlaufen“, wie es hieß. Und es wurde – subtil, aber spürbar – Druck auf ihn ausgeübt, doch bitte die dritte Fremdsprache zu wählen: „Du bist doch sprachlich so gut.“ Es war nicht einmal Böswilligkeit, sondern ein beinahe automatisierter Reflex aus Mustern, aus Kategorisierungen. Was dort wirkte, war nicht Bildung, sondern eine Art Begabungsverwaltung.

Es war eine der ersten Situationen, in denen mir klar wurde, wie stark das Bildungssystem dazu neigt, ausgerechnet Bildung als Spurtreue zu missverstehen. Nicht das Aufbrechen, nicht die Horizonterweiterung, nicht das bewusste Aushalten des Ungewohnten wird belohnt, sondern das Funktionieren im Erwartbaren. Das Verstetigen des bereits Vorhandenen. Dabei ist gerade das überlegte Abweichen vom eigenen Stärkenschwerpunkt eine Form von intellektueller Selbstbildung, wie sie eindrücklicher kaum denkbar ist.

Ich erinnere mich noch gut an die Reaktion meines Sohnes. Nicht etwa beleidigt oder wütend war er, sondern enttäuscht – weil er den Eindruck hatte, nicht verstanden worden zu sein. Weil die Schule, die doch der Ort für seine bewusste Bildungsentscheidung sein sollte, ihm genau diese absprach. Eine stille, aber schmerzhafte Erfahrung.

Und doch eine Erfahrung, die ihn geprägt hat. Er hat seine Entscheidung nicht revidiert. Und er hat etwas Wichtiges gelernt: dass Bildung nicht aus Etiketten entsteht, sondern aus bewusster Auseinandersetzung mit dem, was einem fremd ist. Das aber ist schwer vermittelbar in einem System, das für sich in Anspruch nimmt, „Förderung“ zu betreiben, aber oft nur das meint, was man eben gut kann.

Heute, zwei Jahrzehnte später, erkennen wir dieses Missverständnis überall: in Schulen, in Universitäten, in der öffentlichen Debatte über „Bildung“. Die alte Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften lebt fort, der Bildungsbegriff bleibt schmal, normiert, hochgradig formalisiert. Der Buchtitel „Bildung“ von Dietrich Schwanitz – einst ein Bestseller – wird bis heute gelesen, obwohl er die mathematisch-naturwissenschaftliche Welt nicht einmal mehr unter Bildung verbucht. Das ist nicht elitär, das ist schlicht ignorant. Ich habe, an dieser Stelle angekommen, Schwanitz‘ Buch buchstäblich in die Ecke geworfen. Was jeder nachvollziehen kann, der mein ceterum censeo kennt: Wissenschaft und wissenschaftliche Methodik in die Schulen, so früh wie möglich!

Wer so denkt wie die Pädagogen damals im Gymnasium meines Sohnes, wird eine Gesellschaft nicht bildungsfähiger machen, sondern sie weiter in Selbstbestätigungsschleifen treiben. Und wer das erkennt, braucht vielleicht den Mut, nicht mehr „in der Spur“ zu bleiben. Sondern eigene Wege zu suchen. Wie mein Sohn es damals getan hat. Und wie Bildung es eigentlich immer tun sollte.


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